Читать книгу Berliner Miniaturen - Attila Schauschitz - Страница 5
Der öffentliche Raum aus persönlicher Sicht
ОглавлениеIlja Kabakov schrieb über seine Plastiken im öffentlichen Raum, dass sie alle drei Arten der möglichen Betrachter ansprechen sollten: den Anwohner, den Flaneur und den Tourist. Auch die vorliegende Arbeit über Berlin und seine Skulpturen versucht einem solchen Anspruch zu genügen. Sie wurde aus dem Blickwinkel sowohl eines Anwohners als auch eines Flaneurs geschrieben und möchte die so gewonnenen Eindrücke auch mit einem Touristen teilen.
Das Buch enthält neunundneunzig kurze Texte jeweils mit mindestens einem Foto von einem Kunstwerk im öffentlichen Raum. Es handelt sich dabei weder um eine kunstwissenschaftliche Abhandlung noch um einen Reiseführer: In den mitunter literarisch gefärbten Texten wechseln sich sachliche Darstellungen, ironische Kritiken und Impressionen ab.
Die biographische Tatsache, dass der Autor seine Jugend in Budapest verbrachte, spielt in die Beschreibungen mit hinein: Um die Medusa am Henriettenplatz erscheinen als Kulissen die bröckelnden Fassaden der Josefstadt, des 8. Bezirks in Budapest; der Soldat aus Treptow begegnet einem gewissen Ostapenko sowie der Hündin Laika; 1953 in Ostberlin und 1956 in Budapest verbindet die nach hinten gekämmte Frisur und die gleiche Badehose; der ungarische Schriftsteller OttóTolnai verzaubert die rosaroten Rohrleitungen über die Berliner Straßen in Flamingos, und Vater findet seine Ruhe als Heizer auf dem Tempelhofer Rangierbahnhof.
Die Auswahl der Plastiken ermöglicht die Behandlung verschiedener Themen. Die Eckpunkte der Entwicklung der Kunst im öffentlichen Raum von den Anfängen über die Berliner Bildhauerschule im 19. Jahrhundert bis hin zur zeitgenössischen Kunst finden genauso Erwähnung wie die Fragen, die der Einzug der modernen Kunst in den Stadtraum seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts aufwarf.
Ein anderer Faden verbindet die Beiträge, in denen es um Geschichte und Gegenwart der Stadt geht. Der jeweilige Standort der Plastiken gibt Anlass, die Gegenden um sie herum atmosphärisch oder architektonisch zu beleuchten, Denkmäler laden dazu ein, über die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu sprechen, während zeitgenössische Werke darauf verweisen, wie die Stadt oder die in ihr wirkenden globalen Unternehmen als Sponsoren das Gesicht Berlins durch öffentliche Kunst prägen.
Abgesehen von temporären Installationen sind Kunstwerke im öffentlichen Raum für die Ewigkeit gedacht; dennoch verschwinden manche aus verschiedenen Gründen. In dieser Sammlung sind auch Werke enthalten, die inzwischen nicht mehr zu sehen sind – schließlich gibt es auch gute Argumente dafür, Verwandte aus dem Familienalbum nicht zu entfernen, nur weil sie gestorben sind.
Die ästhetische Frage lautet: Was ist so außerordentlich anziehend an dieser grundsätzlich hässlichen Stadt? Auch wenn sie als Ganzes kaum existiert und in Stücke zerfällt, sind ihre Details unwiderstehlich und überwältigend. Sinn und Seele finden in ihr nie zur Ruhe. Sie hält Überraschungen bereit, schafft Spannungen, bleibt immer aufregend.
Die Anziehungskraft Berlins, einer Metropole mit provinziellen Zügen, entfaltet sich allmählich. Beginnen könnte man mit den Parks, den Friedhöfen oder nicht zuletzt mit den Kneipen. Betrachtet man allerdings die Kunst im öffentlichen Raum als das Selbstbildnis einer Stadt, kann man von Berlin angesichts seiner mehr als 2400 Plastiken und Reliefs, dieser gigantischen Ausstellung unter freiem Himmel, behaupten, es gebe wenige Städte in Europa, deren Gesichtszüge markanter ausgearbeitet sind. Berlin ist deshalb auch anhand seiner Kunstwerke auf den Straßen und Plätzen nacherzählbar.
Als sich die Frage stellte, wie die Texte angeordnet werden sollten, schien eine abwechslungsreiche Reihenfolge mehr Vorteile zu versprechen als eine systematische Gruppierung nach Themen, der historischen Zeit oder den jeweiligen Standorten der Skulpturen im Stadtraum.
Man könnte die bebilderten Texte als urbane Scherben bezeichnen. Sie liegen herum, nebeneinander.