Читать книгу Berliner Miniaturen - Attila Schauschitz - Страница 24
ОглавлениеAyse Erkmen
Evde – Am Haus, 1994
Heinrichplatz
Hauskonjugation
Es ist offenkundig, dass in den 70ern und 80ern kaum einen geheimnisvolleren Ort auf der Welt gab als Kreuzberg. Nur noch eine Frau im reiferen Alter ist in der Lage, so viele Rätsel aufzugeben.
Die Stadt lebt in ihren Kneipen, sagt das Sprichwort und wenn nicht, dann sollte es ein solches geben. Sie bildeten das Gewebe Kreuzbergs, das man Nacht für Nacht wie besessen aufzuräufeln versuchte.
Gegen die roh verputzten Wände der alternativen Kneipen setzten weiß getünchte türkische Imbisse Kontrapunkte, ihre Theken dekorierten noch keine farbig leuchtenden Speisekarten, höchstens abstoßende und zugleich anziehende Bilder von der Brücke am Bosporus. Kreuzberg von damals war eine Subkultur, in der man es wenigstens zeitweise versuchte, das Leben selber zu gestalten. Und zweifellos tranken alle Becks aus der kleinen Flasche.
Der Heinrichplatz im Herzen von Kreuzberg war deshalb wichtig, weil in der Roten Harphe ein gewisser Max Haschisch verkaufte, und ihm gegenüber, in der Ecke, immer einer saß, der wie Solschenizyn aussah, als ob sich dieser als Rasputin getarnt hätte.
Die Erscheinungsformen der dortigen türkischen Kultur beschränkten sich meistens auf alltägliche Utensilien: Kopftuch, Rolltüte und gigantischer Kinderwagen. 1994 geschah jedoch, dass Ayse Erkmen an der Ecke des Heinrichplatzes mit den Suffixen einer besonderen Modalform der türkischen Sprache eine Hausfassade schmückte. Als ob die wispernden Endungen der Gespräche unter den Wänden aus dem Haus herausklingen würden – ohne vollständige Bedeutung, obwohl ihrem Ursprung nach unverwechselbar.
In Kreuzberg ist es ansonsten einfach, auch solche türkische Überschriften zu finden, die ganz bestimmt einen Sinn haben. Es würde allerdings nur den Genuss verderben, wenn man die wunderschönen Wörter über einem Lebensmittelgeschäft entschlüsseln wollte: GIDA PAZARI!