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XVI. (Nr. 28.) An Hieronymus

Geschrieben im Jahre 395.

Augustinus an seinen geliebtesten Herrn, seinen Bruder und Mitpriester Hieronymus, dem er in aufrichtigster Liebe und Verehrung zugetan ist.

Inhalt. Augustinus sendet den Profuturus mit herzlicher Begrüßung an Hieronymus, der sich zu Bethlehem befindet. Er benützt die Gelegenheit, dem heiligen Hieronymus den Wunsch des gelehrten Afrikas nach einer Übersetzung des Origenes und anderer griechischen Schrifterklärer mitzuteilen. An der Bibelübersetzung des Hieronymus wird die große Abweichung von der Sep-tuaginta beanstandet; er zweifelt, ob Hieronymus den Urtext richtig verstanden habe. Besonders aber tadelt Augustinus sehr ernst, ja mit beißender Schärfe die Auslegung von Gal. 2,14, wo Hieronymus erklärt hatte, der heilige Paulus habe nur zum Scheine, um die Heidenchristen zu beruhigen, den bekannten Tadel gegen den heiligen Petrus ausgesprochen. Er findet darin eine Verteidigung der Lüge, die die Heilige Schrift um alles Ansehen bringen müsse. Die sachliche Antwort des heiligen Hieronymus findet sich im 112. Briefe der Ausgabe von Vallarsi.


I. 1.

Niemals hat jemand einen anderen so gut von Angesicht gekannt, wie mir deine ruhige, heitere, wahrhaft wissenschaftliche Tätigkeit im Herrn bekannt ist. So sehr ich also auch danach verlange, dich in jeder Hinsicht kennen zu lernen, so entbehre ich doch bis jetzt etwas an sich freilich Geringfügiges, nämlich deine leibliche Gegenwart. Doch kann ich freilich auch sagen, daß ich auch von deiner persönlichen Erscheinung, nachdem unser heiligster Bruder Alypius, der jetzt Bischof ist und schon damals des bischöflichen Amtes würdig war, dich besucht hatte und nach seiner Rückkehr mit mir zusammengetroffen war, durch seinen Bericht ein ziemlich genaues Bild erhalten habe. Aber schon ehe er zurückkehrte, sah auch ich dich mit seinen Augen, während er dich an deinem Aufenthaltsorte sah. Denn wer ihn und mich kennt, wird erklären, daß wir nur dem Leibe nach zwei Personen sind, nicht aber der Seele nach, wegen unserer gleichen Gesinnung und treuesten Freundschaft nämlich, nicht in bezug auf Verdienste, in denen er mich überragt. Da du mich also schon längst liebst wegen der Geistesgemeinschaft, die mich mit Alypius verbindet, sowie auch wegen seiner Empfehlung, so mag es nicht als Unbescheidenheit erscheinen, wenn auch ich mich nicht als Fremden betrachte und dir unseren Bruder Profuturus77 empfehle, der, wie wir wohl hoffen dürfen, durch meine Bemühungen und durch deine Beihilfe das werde, was sein Name besagt, ein wahrhaft Nutzender. Vielleicht aber hat er solche Eigenschaften, daß er mich mehr zu empfehlen vermag als ich ihn. — Soweit hätte ich etwa zu schreiben gehabt, wenn ich mich mit einem Höflichkeitsschreiben hätte begnügen wollen. Aber es liegt mir am Herzen, mich mit dir wegen unserer Studien zu besprechen, denen wir in Jesu Christo, unserem Herrn, obliegen. Er verleiht uns ja in nicht geringem Maße auch durch deine Liebe viele Beihilfe und Unterstützung auf dem uns von ihm gewiesenen Wege.


II. 2.

Wir bitten dich also, und mit uns bittet die ganze gelehrte Gesellschaft der afrikanischen Kirchen, du mögest es ja nicht dich verdrießen lassen, Sorgfalt und Ruhe auf die Übersetzung der Bücher jener Schriftsteller zu verwenden, die die Heilige Schrift in griechischer Sprache so vortrefflich erläutert haben. Du kannst dadurch bewirken, daß diese Männer auch unser Gemeingut werden, vorzüglich jener Eine, von dem du besonders gern in deinen Schriften redest78. Was aber die Übersetzung der kanonischen heiligen Bücher in die lateinische Sprache betrifft, so möchte ich, daß du dich nur in der Weise damit bemühen möchtest, wie du es bei der Übersetzung des Job getan hast: wende doch kritische Zeichen an, daß der Unterschied zwischen der Septuaginta79, deren Ansehen von größtem Gewicht ist, und deiner Übersetzung klar zutage trete. Ich kann mich ohnehin nicht genug wundern, daß sich im hebräischen Urtexte noch etwas finden sollte, was so vielen Übersetzern, die doch jener Sprache überaus kundig waren, entgangen sein sollte. Ich will ja von den siebzig Übersetzern schweigen, da ich mir kein bestimmtes Urteil nach irgendeiner Seite über die Übereinstimmung ihres Planes oder ihres Geistes, die sie veranlaßt hätte, wie ein Mann zu handeln, zu fällen getraue; jedoch geht meine Ansicht dahin, daß ihnen ohne Frage in dieser Angelegenheit ein Übergewicht von Ansehen zukommen müsse. Schwerer begreife ich, daß auch die späteren Übersetzer, die doch, wie man sagt, mit solcher Zähigkeit an den Regeln und der Bedeutung der hebräischen Worte und Ausdrücke festhielten, nicht bloß untereinander nicht übereingestimmt, sondern auch vieles ausgelassen haben sollen, was erst nach so langer Zeit hätte entdeckt und veröffentlicht werden können. Entweder sind diese Stellen dunkel oder aber leicht verständlich. Sind sie dunkel, so liegt die Annahme nahe, daß auch du dich täuschen könntest; sind sie leicht verständlich, so glaubt man, daß jene sich bei ihnen nicht hätten irren können. Gib mir also, ich beschwöre dich, mit Rücksicht auf die vorgelegten Bedenken hierüber Aufklärung.


III. 3.

Auch habe ich einige Schriften über die Briefe des Apostels Paulus gelesen, deren Verfasser du sein sollst. Bei der Erklärung des Galaterbriefes bist du auch an jene Stelle gekommen, wo der Apostel Petrus vor verderblicher Verstellung gewarnt wird. Daß hier nun ein so berühmter Mann wie du oder ein anderer, wenn ein anderer jene Schriften verfaßt hat, eine Verteidigung der Lüge unternommen hat, das macht mir, ich gestehe es, so lange heftigen Schmerz, bis meine Gegengründe widerlegt werden, wofern dies etwa möglich ist. Denn höchst verderblich scheint mir der Glaube, es befinde sich in jenen heiligen Büchern eine Lüge, d. h. jene Männer, durch die die Heilige Schrift verfaßt und uns überliefert worden ist, hätten in ihren Schriften gelogen. Denn ein großer Unterschied ist zwischen der Frage, ob überhaupt gute Menschen auch bisweilen lügen, und der, ob ein Verfasser heiliger Bücher lügen darf. Vielmehr, das ist gar keine neue Frage, sondern überhaupt keine. Denn gibt man einmal bei dieser obersten Glaubensquelle eine Dienstlüge zu, so kann man schließlich bei jedem, auch dem geringsten Teile dieser Bücher, wenn er irgend jemandem Schwierigkeiten in bezug auf die Glaubens- oder Sittenlehre bereitet, sich auf Plan oder Absicht des lügenden Verfassers berufen.


4.

Denn wenn der Apostel Paulus log, als er zurechtweisend zum Apostel Petrus sprach: „Wenn du, der du ein Jude bist, nach Weise der Heiden und nicht nach Weise der Juden lebst, warum zwingst du die Heiden sich den Juden anzubequemen?“80, und wenn es ihm doch schien, daß Petrus recht gehandelt habe, obwohl er sagte und schrieb, daß Petrus nicht recht gehandelt habe, um dadurch in gewisser Weise die aufgeregten Gemüter zu besänftigen, — was werden wir dann antworten, wenn sich, wie der Apostel selbst vorausgesagt hat, die Ketzer erheben, die die Ehe verbieten, und behaupten, alles, was derselbe Apostel zur Bekräftigung des Eherechts gesprochen habe, sei nur wegen der Personen gelogen worden, die aus Liebe zur Ehe hätten aufsässig werden können; es sei dies also nicht seine wirkliche Meinung gewesen, sondern er habe damit nur seine Gegner besänftigen wollen? Ich brauche gar nicht vieles anzuführen. Sonst könnte es offenbar auch zur Ehre Gottes solche Dienstlügen geben, damit in lauen Menschen die Liebe zu ihm entzündet werde. Dann wäre wohl nirgends mehr in den heiligen Büchern ein zuverlässiges Zeugnis von reiner Wahrheit. Haben wir aber nicht beachtet, daß derselbe Apostel die größte Sorgfalt darauf verwendet, die Wahrheit einzuschärfen, indem er spricht: „Ist aber Christus nicht auferstanden, dann ist unsere Predigt nichtig und nichtig auch euer Glaube. Dann werden wir als falsche Zeugen von Gott erfunden, weil wir gegen Gott Zeugnis abgelegt haben, er habe Christum auferweckt, da er es doch nicht getan hat“?81 Wenn nun jemand zu ihm spräche: „Was verabscheuest du an dieser Lüge, da sie zwar falsch ist, aber dennoch in hohem Grade Gott zur Ehre gereicht?“, würde der Apostel nicht die Torheit eines solchen Menschen zurückweisen, mit allen möglichen Worten und Andeutungen das Innerste seines Herzens offenbaren und laut erklären: auf Grund einer Lüge Gott zu loben, sei kein geringeres, sondern vielleicht ein noch größeres Verbrechen, als ihn auf Grund der Wahrheit zu lästern? Nur ein solcher Mann darf also sich an das Schriftstudium begeben, der es mit den heiligen Büchern so ernst und wahrhaft nimmt, daß er nicht an irgendeiner Stelle zu Dienstlügen seine Zuflucht nimmt, sondern lieber das, was er nicht versteht, unerklärt läßt, als daß er seine Einfälle der Wahrheit vorzieht. Denn in der Tat fordert er bei einer solchen Behauptung, daß man ihm Glauben schenke, und bringt es damit dahin, daß wir dem Ansehen der göttlichen Schriften nicht glauben.


5.

Ich wenigstens würde mit allen Kräften, die mir der Herr verleiht, nachzuweisen suchen, daß alle jene Stellen, die man zum Beweise für den Nutzen der Lüge angeführt hat, anders verstanden werden müssen, ja daß überall in ihnen die unverbrüchliche Wahrheit gepredigt wird. Denn so wenig in Schriftstellen eine Lüge enthalten sein darf, so wenig dürfen sie auch die Lüge begünstigen. Das überlasse ich jedoch deiner Einsicht. Richte du nur recht sorgfältig dein Augenmerk auf die Lesung, und du wirst dann dies vielleicht weit leichter als ich finden. Zu solcher Achtsamkeit aber muß dich die Ehrfurcht vor der Heiligen Schrift zwingen, deren Ansehen, wie du leicht erkennst, in Frage gestellt ist, wenn jeder von ihr glaubt, was er will, und nicht glaubt, was er nicht will. Denn das muß die Folge sein, wenn man erst einmal die Überzeugung gewonnen hat, daß jene Männer, die uns die heiligen Schriften vermittelt haben, in ihnen aus Rücksichten hätten lügen können. Oder du müßtest einige Regeln aufstellen, die uns erkennen lassen, wann man lügen dürfe und wann nicht. Ist dies möglich, so bitte ich dich, erkläre es mit unzweifelhaften und untrüglichen Gründen! Halte mich aber nicht für zudringlich und unverschämt, bei der wahrhaftesten Menschheit unseres Herrn! Denn wenn es bei dir Recht ist, daß die Wahrheit die Lüge begünstigt, so ist es für mich, ich will nicht sagen, gar keine, aber doch keine große Schuld, wenn ich mit meinem Irrtume der Wahrheit huldige.


IV. 6.

Noch viele andere Fragen möchte ich gern mit deinem aufrichtigsten Herzen besprechen und über das christliche Leben mit dir Meinungsaustausch pflegen. Aber zur Erfüllung dieses Wunsches reicht ein Brief nicht hin. Besser kann ich dies durch den Bruder erreichen, den ich mit Freuden zu dir sende, damit er an deinen liebreichen und nützlichen Gesprächen Anteil habe und Gewinn daraus ziehe. Zwar weiß er das nicht ganz so, wie ich wohl wünschte, zu schätzen — ohne ihm zu nahe zu treten, sei dies gesagt. Ich möchte mich ja nicht ihm vorziehen, doch kann ich sagen, daß ich mehr Verständnis für dich habe; freilich wird er sicher mehr Nutzen daraus schöpfen, und hierin übertrifft er mich ohne Zweifel. Doch wenn ihm der Herr, wie ich hoffe, eine glückliche Rückkehr schenkt, so werde ich mir dann meinen Anteil an dem Schatze nehmen, den du in seiner Seele aufgehäuft hast, auch wenn er die Lücken meiner Erkenntnis noch nicht auszufüllen, mein Verlangen, deine Ansicht zu erfahren, nicht zu befriedigen vermag. So werde ich auch dann der Dürftigere, er der Reichere sein. Derselbe Bruder bringt dir auch einige meiner Schriften mit. Wenn du dich würdigst, sie zu lesen, so bitte ich dich, gleichfalls mit aufrichtiger und brüderlicher Strenge zu verfahren. Denn nur in diesem Sinne verstehe ich das Wort der Schrift: „Der Gerechte möge mich züchtigen in Güte und mich zurechtweisen; aber des Sünders Öl soll mein Haupt nicht salben“82 — daß nämlich heilsame Zurechtweisung von größerer Liebe zeugt als Schmeichelei, die das Haupt salbt. Mir selbst aber fällt es sehr schwer, ein gerechter Richter meiner eigenen Schriften zu sein, indem ich entweder zu furchtsam bin oder mich zu sehr törichter Hoffnung hingebe. Wohl sehe ich bisweilen meine Fehler; aber ich will sie lieber von solchen hören, die besser sind als ich. Denn wenn ich selbst mich vielleicht mit Grund getadelt habe, so könnte ich mir nachher wieder schmeicheln: ich hätte offenbar über mich ein Urteil gefällt, das mehr furchtsam als gerecht sei.

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