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III. (Nr. 7.) An Nebridius

Geschrieben im Jahre 389.

An Nebridius.

Inhalt. Nebridius hatte in einem Briefe8 behauptet: 1) die Erinnerung könne ohne Phantasie nicht bestehen; dagegen habe 2) die Phantasie ihre Bilder nicht von der sinnlichen Wahrnehmung, sondern sie bringe sie aus sich selbst hervor. Beide Ansichten werden von Augustinus bestritten; er behauptet gegenteilige Ansichten und erörtert sie. Schließlich warnt er seinen Freund vor der Gewalt der Phantasie.


I. 1.

Ohne eine lange Einleitung vorauszuschicken, will ich gleich von der Sache selbst sprechen, die ich nach deinem Wunsche erörtern soll, besonders da ich nicht so bald zum Ende kommen werde. Nach deiner Ansicht kann offenbar von Erinnerung keine Rede sein ohne Bilder und bildliche Vorstellungen, die du Phantasien zu nennen beliebt hast; ich bin anderer Meinung. Zuerst muß man hierbei beachten, daß wir uns nicht immer an schon vergangene Dinge erinnern, sondern häufig auch an noch bestehende. Wenn darum die Erinnerung die Kraft hat, die Vergangenheit festzuhalten, so ist daraus ersichtlich, daß sie sich erstreckt auf die Dinge, die uns verlassen haben, wie auf jene, die von uns verlassen werden. Wenn ich mich zum Beispiel an meinen Vater erinnere, so erinnere ich mich an das, was mich verlassen hat und jetzt nicht mehr vorhanden ist, wenn aber an Karthago, so erinnere ich mich an etwas noch Vorhandenes, das ich selbst verlassen habe. In beiden Fällen aber hält mein Gedächtnis die Vergangenheit fest. Denn an jenen Mann und an jene Stadt erinnere ich mich, insoferne ich sie gesehen habe, nicht weil ich sie sehe.


2.

Vielleicht fragst du hier „Was soll das?“ Zumal da du bemerkst, es finde in beiden Fällen die Erinnerung nur statt, weil man gesehen hat, was man sich vorstellt. Aber ich begnüge mich vorläufig, nachgewiesen zu haben, daß man auch von einer Erinnerung an Dinge, die noch fortdauern, sprechen kann. Nun aber merke recht genau auf, inwiefern diese Feststellung meine Beweisführung unterstützt. Es ereifern sich einige gegen jenen hochberühmten Satz des Sokrates9, in dem er behauptet: was wir lernen, werde nicht als etwas Neues in uns hineingelegt, sondern uns nur durch Wiedererwähnung ins Gedächtnis zurückgerufen; diese behaupten, die Erinnerung beziehe sich nur auf vergangene Dinge, was wir aber beim Lernen mit dem Verstande erfassen, sei nach Platos eigener Behauptung etwas Bleibendes und Unvergängliches, also nichts Vergangenes. Aber sie beachten dabei nicht, daß jenes Schauen, in dem wir jene Dinge einst geistig gesehen haben, in der Vergangenheit liegt und daß wir es jetzt, weil es uns entschwunden ist und wir nun andere Dinge sehen, in der Erinnerung, d. h. durch das Gedächtnis wiederschauen müssen. Wenn darum, um von anderem zu schweigen, die Ewigkeit selbst immer dauert und es keiner Phantasiegebilde bedarf, durch deren Vermittelung der Begriff Ewigkeit in unsere Seele gelangt, dieser Begriff aber andererseits nur durch Wiedererinnerung in unsere Seele kommen kann, so kann allerdings eine Erinnerung ohne irgendwelche Tätigkeit der Phantasie stattfinden.


II. 3.

Wenn du ferner der Ansicht bist, die Seele könne sich auch ohne den Gebrauch der Sinne materielle Gegenstände vorstellen, so erweist sich die Unhaltbarkeit dieser Behauptung auf folgende Weise. Wenn die Seele, noch ehe sie sich des Körpers zur Wahrnehmung sinnlicher Dinge zu bedienen vermochte, sich eben diese sinnlichen Dinge vorstellen konnte, wenn sie ferner, woran kein Vernünftiger zweifelt, sich in besserem Zustande befand, ehe sie in diese so leicht der Täuschung unterworfenen Sinne verstrickt war, so ist die Seele im Schlafe besser daran als im Wachen, besser im Wahnsinn als bei gesundem Verstande; denn sie schaut dann jene Bilder, die ihr vor jener überaus trügerischen Vermittelung der Sinne vorschwebten. Dann ist entweder die Sonne, die man im Schlafe oder im Wahnsinne sieht, wirklicher als die, die man wachend und bei gesundem Verstande sieht, oder es ist überhaupt die Täuschung der Wahrheit vorzuziehen. Wenn diese Annahme nun, wie es tatsächlich der Fall ist, ungereimt ist, so sind jene Phantasiegebilde, mein Nebridius, nichts anderes als eine uns von den Sinnen beigebrachte Wunde; es ist nicht, wie du schreibst, eine durch die Sinne angeregte Erinnerung, die solche Gebilde in der Seele erzeugt, sondern das Eindringen oder, deutlicher zu sagen, der Eindruck der Lüge selbst. Dein Einwand, wie es dann kommt, daß wir uns auch nie gesehene Gestalten und Formen vorstellen, besticht nur für den ersten Augenblick. Ich will deshalb bei diesem Briefe das gewohnte Maß überschreiten; bei dir darf ich es tun, da dir jener Brief am angenehmsten ist, in dem ich mich vor dir am redseligsten zeige.


4.

Alle jene Vorstellungen, die du mit vielen anderen Phantasiegebilde nennst, kann man, so viel ich sehe, am bequemsten und richtigsten in drei Gattungen einteilen. Die erste Gattung wird uns durch die Sinneswahrnehmung eingeprägt, die zweite durch willkürliche Annahme, die dritte durch Verstandestätigkeit. Beispiele der ersten Gattung sind es, wenn mir die Seele dein Antlitz oder Karthago oder unseren früheren Genossen Verecundus oder sonst eine entweder noch vorhandene oder bereits entschwundene Sache, die ich jedoch gesehen oder sonst mit den Sinnen wahrgenommen habe, vor Augen stellt. Zur zweiten Gattung sollen die Dinge gehören, von denen wir glauben, daß sie sich in einer bestimmten Weise verhalten haben oder noch verhalten; das ist der Fall, wenn wir der Erklärung halber bestimmte Beispiele setzen, die die Wahrheit beleuchten, und hierher gehören auch die Vorstellungen beim Lesen geschichtlicher Dinge oder wenn wir von seltsamen Vorkommnissen hören, solche selbst erdichten oder befürchten. So stelle ich mir ganz nach Belieben vor das Angesicht des Äneas, das der Medea mit ihren eingespannten geflügelten Schlangen, das eines gewissen Chremes oder Parmeno10. Hierher gehört auch, was entweder weise Männer vorgetragen haben, indem sie die Wahrheit in solche Bilder kleideten, oder was die törichten Erfinder des buntesten Aberglaubens als Wahrheit ausgegeben haben, z. B. der höllische Phlegethon, die fünf Höhlen des Volkes der Finsternis, die den Himmel tragende Nordsäule und tausend andere Wunderdinge bei den Dichtern und Ketzern. So sagen wir ja auch in wissenschaftlichen Erörterungen: „Stelle dir vor, es seien drei Welten übereinander getürmt“, während doch nur eine vorhanden ist, oder wir sagen: „Stelle dir die Erde viereckig vor“ und so weiter. Dies alles erdichten wir und nehmen es dann an, wie es der Sturm der Gedanken mit sich bringt. Was nun die dritte Gattung anlangt, so handelt es sich vorzüglich um Anzahl und Ausdehnung der Bilder. Sie finden sich bei den Naturwissenschaften, wenn man etwa die Gestalt der ganzen Welt finden will und das Ergebnis als Bild in der Seele des Forschers zurückbleibt, dann auch bei anderen Wissenschaften wie bei der Geometrie, der Musik und der Mathematik mit ihren unendlichen Zahlenreihen. Wenn nun auch diese Bilder, wie ich voraussetze, die Wahrheit darstellen, so erzeugen sie doch leicht falsche Vorstellungen, denen selbst die Vernunft kaum zu widerstehen vermag. Indessen kann selbst die Logik dieses Übel nicht leicht vermeiden, da wir bei Einteilungen und Schlußfolgerungen uns gewisse Striche vorstellen.


5.

Was nun diesen ganzen Wald von Vorstellungen anbetrifft, so glaube ich nicht, daß es deine Ansicht sei, daß die erste Gattung der Seele innewohne, bevor noch diese Bilder durch die Sinne aufgenommen wurden. Hierüber dürfte nicht weiter zu streiten sein. Hinsichtlich der beiden anderen könnte noch mit Recht ein Zweifel erhoben werden, wenn es nicht offenbar wäre, daß die Seele weniger dem Irrtum unterworfen ist, so lange sie von der Eitelkeit der sinnlichen Dinge und der Sinne selbst unberührt geblieben ist. Wer aber möchte zweifeln, daß jene Einbildungen noch viel unwahrhafter seien als die Vorstellungen sinnlicher Dinge? Denn was wir willkürlich annehmen oder glauben oder erdichten, ist entweder überhaupt in jeder Hinsicht falsch oder mindestens ist viel wahrer noch, was wir sehen und empfinden. Schon werde ich mir nach jener dritten Gattung einen gewissen körperlichen Raum vor die Seele gestellt haben; obwohl offenbar vollkommen sichere wissenschaftliche Gründe diese Vorstellung erzeugt haben, so überzeuge ich mich doch durch dieselben wissenschaftlichen Gründe von der Falschheit dieser Vorstellung. Auf keine Weise kann ich daher glauben, daß eine Seele, die noch nicht durch den Körper empfindet, die noch nicht durch die so große Eitelkeit der Sinne, dieser sterblichen und flüchtigen Geschöpfe, verwundet worden, schon in dieser schmählichen Täuschung versenkt gewesen sei.


III. 6.

Woher kommt es also, daß wir uns auch vorstellen, was wir nie gesehen haben? Meinst du nicht, es sei der Seele eine gewisse Verkleinerungs- und Vergrößerungskraft angeboren, die sie, wohin sie sich auch wendet, mit sich tragen muß? Man kann diese Kraft besonders hinsichtlich der einzelnen Teile eines Gegenstandes beobachten. So stellt man sich z.B. das Bild eines Raben, dessen Aussehen bekannt ist, vor Augen, macht aber durch Hinzufügung und Hinwegnahme einzelner Bestandteile ein bisher nie gesehenes Bild daraus. Auf diese Weise können gewohnheitsmäßig derartige Bilder gewissermaßen von selbst in unsere Gedanken kommen. Es kann also die Einbildungskraft der Seele aus dem, was ihr durch die Sinne zugeführt worden ist, wie gesagt durch Hinzufügung und Hinwegnahme einzelner Bestandteile etwas schaffen, was in seiner Gesamtheit sie durch keinen Sinn wahrgenommen hat; die einzelnen Bestandteile aber gehören zu jenen Dingen, die sie anderswo wahrgenommen hat. So konnten wir, die wir mitten auf dem Festlande geboren und erzogen sind, schon als Knaben uns das Meer vorstellen, sobald wir nur in einem kleinen Becher Wasser erblickten; dagegen konnten wir uns den Geschmack von Erdbeeren und Kornelkirschen gar nicht vorstellen, bevor wir sie in Italien verkosteten. Daher kommt es auch, daß von Kindheit an Blinde keine Antwort wissen, wenn man sie über das Licht oder über die Farben befragt. Da sie nie Farbenempfindungen gehabt haben, so haben sie auch nur farblose Vorstellungen.


7.

Wundere dich auch nicht darüber, wie es kommt, daß nicht schon von Anfang an in der allen gemeinsamen Seele jene Vorstellungen, die man in Wirklichkeit hat oder haben kann, niedergelegt sind und dort Unruhe stiften; denn die Seele hat diese Dinge äußerlich noch nie wahrgenommen. So stellen wir uns auch nicht zuvor in Gedanken vor, was wir tun könnten, wenn wir bei Entrüstung, Freude oder anderen ähnlichen Gemütsbewegungen unser leibliches Antlitz oder unsere Gesichtsfarbe verschiedenartig gestalten. Es geschieht das auf wunderbare, deines Nachdenkens würdige Weise, während in der Seele ohne jedes täuschende Bild von Körpern geheime Kräfte tätig sind. Da so viele Gemütsbewegungen ohne alle jene Einbildungen vor sich gehen, die du jetzt zum Gegenstande deiner Untersuchung machst, so magst du daraus ersehen, daß die Seele den Körper auf irgendeine andere Weise regiert als durch die Vorstellung sinnlicher Dinge; auch glaube ich nicht, daß die Seele irgendwie sie haben kann, ehe sie sich des Körpers und der Sinne bedient. Deshalb möchte ich dich bei unserer Freundschaft und bei der Treue gegen das göttliche Gesetz ernstlich ermahnen, mein Teuerster und Liebster: schließe keine Freundschaft mit diesen Höllenschatten und zögere nicht, die bereits geschlossene zu lösen. Denn man widersteht auf keine Weise den körperlichen Sinnen, was doch für uns die heiligste Wissenschaft ist, wenn wir den Wunden und Schlägen, die sie uns beibringen, noch schmeicheln.

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