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Ausschluss (aus der EU) (Matthias Knauff)
II.Europarecht238 – 240
III.Völkerrecht241 – 243
Lit.:
F. Götting, Die Beendigung der Mitgliedschaft in der Europäischen Union, 2000; D. Hanschel, Der Rechtsrahmen für den Beitritt, Austritt und Ausschluss zu bzw. aus der Europäischen Union und Währungsunion –Hochzeit und Scheidung à la Lissabon, NVwZ 31 (2012), 995; G. Meier, Die Beendigung der Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft, NJW 27 (1974), 391; A. Puttler, Sind die Mitgliedstaaten noch „Herren“ der EU? – Stellung und Einfluss der Mitgliedstaaten nach dem Entwurf des Verfassungsvertrages der Regierungskonferenz, EuR 39 (2004), 669; S. Schmahl, Die Reaktionen auf den Einzug der Freiheitlichen Partei Österreichs in das österreichische Regierungskabinett – Eine europa- und völkerrechtliche Analyse, EuR 35 (2000), 819; J. Zeh, Recht auf Austritt, ZEuS 7 (2004), 173.
A › Ausschluss (aus der EU) (Matthias Knauff) › I. Allgemeines
I. Allgemeines
237
Die Frage nach der Möglichkeit des Ausschlusses eines Mitgliedstaates aus der EU gegen dessen Willen hat bislang keine praktische Bedeutung erlangt. Gleichwohl wird sie vor dem Hintergrund problematischer Entwicklungen in einzelnen EU-Mitgliedstaaten gelegentlich thematisiert. Für ihre Beantwortung sind sowohl das Europa- als auch das Völkerrecht von Bedeutung.
A › Ausschluss (aus der EU) (Matthias Knauff) › II. Europarecht
II. Europarecht
238
Das → Primärrecht der EU enthält keine Regelungen über den Ausschluss eines Mitgliedstaates. Insbesondere ermächtigt die an eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der Grundwerte der EU i.S.v. Art. 2 EUV anknüpfende Regelung über die Suspendierung der Mitgliedschaftsrechte in Art. 7 Abs. 3 EUV nicht zu einem Ausschluss des betreffenden Mitgliedstaates aus der EU.
239
Hieraus ist zugleich die europarechtliche Wertung zu entnehmen, dass die umstrittene Möglichkeit des Ausschlusses eines Mitgliedstaates aus der EU auf völkerrechtlicher Grundlage allenfalls bei noch schwerwiegenderen Verletzungen des Europarechts in Betracht kommt und (mindestens) die Verfahrenserfordernisse des Art. 7 Abs. 3 EUV beachtet sein müssen.
240
Ein Ausschluss im Wege der → Vertragsänderung kommt wegen der notwendigen Zustimmung des betreffenden Mitgliedstaates nicht in Betracht. Schließlich ist auch ein Gegenschluss aus der Existenz der Regelungen über den im Ermessen jedes einzelnen Mitgliedstaats stehenden → Austritt (aus der EU), Art. 50 EUV, nicht geeignet, ein europarechtlich verankertes Ausschlussrecht zu Lasten eines Mitgliedstaates durch die übrigen Mitgliedstaaten zu begründen.
A › Ausschluss (aus der EU) (Matthias Knauff) › III. Völkerrecht
III. Völkerrecht
241
Ob der Ausschluss eines Mitgliedstaates aus der EU auf völkerrechtlicher Grundlage erfolgen kann, ist abhängig davon, ob Art. 7 EUV i.V.m. Art. 354 AEUV als abschließende Regelungen in Bezug auf gravierende Verstöße und das Europarecht diesbezüglich als self-contained régime zu qualifizieren sind. Sofern dies in der Literatur vereinzelt bejaht wird, kommt ein Ausschluss nicht in Betracht. Nach h.M. kommt den genannten Vertragsbestimmungen jedoch kein abschließender Charakter zu; vielmehr werde durch die unterbliebene Regelung des Ausschlusses gerade der Rückgriff auf das allgemeine Völkervertragsrecht ermöglicht, welches auf die EU-Gründungsverträge im Hinblick auf deren Charakter als völkerrechtliche Verträge grundsätzlich anwendbar ist.
242
Die Wiener Vertragsrechtskonvention (WVRK) enthält für den Fall des Fehlens vorrangiger spezieller Vertragsvereinbarungen mögliche Grundlagen für einen Ausschluss. Nach Art. 60 Abs. 2 WVRK berechtigt „[e]ine erhebliche Verletzung eines mehrseitigen Vertrags durch eine Vertragspartei a) [...] die anderen Vertragsparteien, einvernehmlich den Vertrag ganz oder teilweise zu suspendieren oder ihn zu beenden i) entweder im Verhältnis zwischen ihnen und dem vertragsbrüchigen Staat ii) oder zwischen allen Vertragsparteien“. Gem. Art. 60 Abs. 3 Buchst. b) WVRK liegt eine erhebliche Verletzung „in der Verletzung einer für die Erreichung des Vertragsziels oder des Vertragszwecks wesentlichen Bestimmung“, so dass nur vereinzelte gravierende Verstöße gegen zentrale Bestimmungen der EU-Gründungsverträge durch einen Mitgliedstaat dessen Ausschluss nicht rechtfertigen könnten. Die Anwendbarkeit der Vorschrift ist gleichwohl fraglich, da weder die EU noch alle ihre Mitgliedstaaten Vertragsparteien der WVRK sind. Voraussetzung wäre daher, dass der Norm die Qualität von Völkergewohnheitsrecht zukommt. Dies ist zum derzeitigen Stand der Völkerrechtsentwicklung zumindest zweifelhaft.
243
Anderes gilt jedoch im Hinblick auf Art. 62 WVRK (clausula rebus sic stantibus). Danach kann eine grundlegende Veränderung der Umstände eine Beendigung eines Vertrages rechtfertigen, wenn es sich bei den zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses gegebenen Umständen um eine wesentliche Grundlage für die Zustimmung der Vertragsparteien handelte und eine Änderung der Umstände eine tiefgreifende Umgestaltung der vertraglichen Verpflichtungen zur Folge hat. Bei einem Mitgliedstaat, der dauerhaft gravierend gegen die Grundwerte der EU verstößt, deswegen auf europarechtlicher Grundlage sanktioniert wird und gleichwohl nicht gem. Art. 50 EUV aus der EU austritt, erscheint nicht ausgeschlossen, die fehlende, jedoch die Grundlage des → Beitritts (zur EU) bildende Bereitschaft zur konstruktiven Mitwirkung in der EU als derartig grundlegende Veränderung zu qualifizieren, die eine Beendigung der Geltung der Gründungsverträge ihm gegenüber und damit seinen EU-Ausschluss nach Art. 62 WVRK rechtfertigt.