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1. Allgemeines, Grundlagen, Zweck und Entwicklung
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Mit den Agenturen hat sich seit den 1970er Jahren und verstärkt seit den 1990er Jahren eine spezielle Ebene relativ verselbständigter Verwaltungseinrichtungen unterhalb der Organebene der EU herausgebildet. Vorbild war das US-amerikanische Verwaltungsrecht, auf dessen Grundlage der US-Kongress unabhängige Verwaltungseinheiten zur Erledigung bestimmter Aufgaben geschaffen hat. EU-Agenturen werden inzwischen vereinzelt auch unmittelbar durch das Primärrecht, ganz überwiegend hingegen nach wie vor sekundärrechtlich auf der Grundlage verschiedener vertraglicher Regelungen durch die Organe der EU geschaffen. Die große Mehrzahl der Agenturen beruht daher unmittelbar auf Sekundärrechtsakten, insbesondere → Verordnungen oder auch → Beschlüssen. Der einzelnen Agentur werden durch den betreffenden Sekundärrechtsakt bestimmte und damit auch begrenzte Befugnisse übertragen. Aufgrund ihres fachlich zugeschnittenen Aufgabenbereichs können Agenturen auch als verselbständigte Fachbehörden der einzelnen Organe angesehen werden.
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Erstes Beispiel der Schaffung einer agenturartigen Einrichtung – und damit Vorläufer der heutigen Agenturen – war die Gründung einer Schrottausgleichskasse durch die Hohe Behörde der → Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) im Jahr 1954 (Entscheidungen der Hohen Behörde 22/54, ABl. EG 1954 A4, S. 286 und 14/55, ABl. EG 1955 A6, S. 685). Die Rechtmäßigkeit der Einrichtung dieser Kasse war implizit zentraler Gegenstand der beiden berühmten Meroni-Urteile des → Europäischen Gerichtshofs (EuGH), in denen dieser im Jahr 1958 Grundsätze für die Schaffung von Einrichtungen durch die Organe aufgestellt hat, die prinzipiell bis heute Gültigkeit beanspruchen (EuGH, Urt. v. 13.6.1958, 9/56 – Meroni I –; EuGH, Urt. v. 13.6.1958, 10/56 – Meroni II –). Der EuGH billigte den Organen hier im Grundsatz die Befugnis zu, zur Erledigung ihrer Aufgaben weitere, nicht im Primärrecht vorgesehene Verwaltungseinheiten zu schaffen. Gleichzeitig formulierte der EuGH dafür aber verschiedene Grenzen, die sich bei näherem Hinsehen überwiegend aus Grundprinzipien des EU-Rechts wie dem → Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung ergeben. So muss insgesamt das von den Verträgen geschaffene institutionelle Gleichgewicht gewahrt werden (→ Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts). Neu geschaffenen Einrichtungen dürfen keine weitreichenden Ermessensbefugnisse übertragen werden und ihre Maßnahmen müssen vollumfänglich der Kontrolle des Gerichtshofs der EU unterliegen. Entsprechend dem Postulat des EuGH ist eine gerichtliche Kontrolle der rechtserheblichen Maßnahmen der Agenturen heute grds. möglich (vgl. Art. 263 UAbs. 1 S. 2, Art. 265 UAbs. 1 S. 2 AEUV). Diese Überprüfungsmöglichkeit steht dabei prinzipiell auch natürlichen und juristischen Personen offen (Art. 263 UAbs. 4 und 5 AEUV). Der EuGH hat auch später immer wieder auf seine Meroni-Grundsätze verwiesen, die daher im Grundsatz auch heute noch Geltung beanspruchen (z.B. EuGH, Urt. v. 26.5.2005, C-301/02 – Carmine Salvatore Tralli –, Rn. 43).
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Agenturen dienen primär der Umsetzung übergeordneter politischer Entscheidungen der verschiedenen Unionsorgane. Dementsprechend werden ihnen v.a. technische, wissenschaftliche, verwaltungsrechtliche und regulatorische Tätigkeiten übertragen. Ihre Einrichtung ist primär auf den gestiegenen Bedarf an neutralem Expertenwissen in Zeiten zügigen technologischen Wandels zurückzuführen. Zudem kann eine Dezentralisierung der Verwaltung in Facheinrichtungen auch in gewissem Maße zur Entpolitisierung der Aufgabenerfüllung beitragen, was bei den EU-Organen selbst nicht zuletzt aufgrund des Einflusses der Mitgliedstaaten häufig sehr viel schwerer zu erreichen ist. Hinzu kommt, dass der Aufgabenbestand der EU aufgrund neuer Herausforderungen rapide wächst. Die fachgerechte und zügige Bewältigung der entsprechenden Aufgaben führt u.a. zu einem erhöhten Bedarf an spezialisiertem Personal, das sich in relativ selbständigen spezialisierten Verwaltungseinheiten wie den Agenturen häufig vergleichsweise effizient organisieren lässt.
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Als erste Agenturen im engeren Sinne wurden 1975 die Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen (Eurofound) mit Sitz in Dublin und das Europäische Zentrum für die Förderung der Berufsbildung (CEDEFOP) gegründet, das seinen Sitz zunächst in Berlin, heute aber in Thessaloniki hat. Wie diese beiden Beispiele zeigen, trugen (und tragen) Agenturen eine Fülle unterschiedlicher Bezeichnungen wie z.B. Stiftung, Zentrum, Amt oder Behörde. Infolge der Beschleunigung des Integrationsprozesses seit den großen Reformverträgen der 1980er und 90er Jahre (Einheitliche Europäische Akte, Maastrichtvertrag) wurde v.a. in den 1990er und 2000er Jahren eine Fülle neuer Agenturen gegründet, um den umfangreichen neuen Aufgaben, welche die Mitgliedstaaten der EU überantworteten, organisatorisch gerecht werden zu können. Wichtige Tätigkeitsfelder waren etwa die Umweltpolitik (→ Regulative Politiken), die → Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), die → Polizeiliche Zusammenarbeit (PZ) und die → Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (JZS), z.B. → Europäisches Polizeiamt (Europol).