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c) Sonderfall: Vollstreckung gegen nicht im Titel genannte Personen
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Die Frage, ob eine Vollstreckung gegen nicht im Titel genannte Personen erfolgen darf, stellt sich auch bei der Räumung von Wohnungen. Sie war in jüngerer Zeit Gegenstand zahlreicher Entscheidungen des BGH.
Beispiel 5 (Räumung gegenüber Lebensgefährten und Kindern):
Der Gerichtsvollzieher will die Wohnung des Mieters M räumen, nachdem der Vermieter V gegen M ein vollstreckbares Räumungsurteil erlangt hat. Als der Gerichtsvollzieher die Wohnung räumen will, trifft er dort die Lebensgefährtin des M sowie drei gemeinsame minderjährige Kinder an, die alle in der Wohnung wohnen. Was wird der Gerichtsvollzieher tun?
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Bei der Herausgabevollstreckung setzt der Gerichtsvollzieher den Vollstreckungsschuldner aus dem Besitz der Räumlichkeit (§ 885 ZPO, Rn. 665 ff). Die Vollstreckung ist nur möglich, wenn die Vollstreckungsvoraussetzungen vorliegen. In Beispiel 5 ist die Vollstreckung gegen M als im Titel genannten Vollstreckungsschuldner ohne weiteres möglich. Problematisch ist aber, ob der Gerichtsvollzieher auch die Kinder und die Lebensgefährtin aus der Wohnung verweisen darf, da diese nicht im Titel als Vollstreckungsschuldner genannt sind. Denn eine Vollstreckung ist grundsätzlich nur möglich, wenn der Vollstreckungsschuldner im Titel genannt ist (§ 750 ZPO).
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Es ist unstreitig, dass ein Dritter nicht ohne einen gerade gegen ihn gerichteten Titel aus einer Wohnung verwiesen werden darf, wenn der Dritte selbst einen Vertrag mit dem Gläubiger hat (also selbst Mitmieter ist). Unstreitig ist auch, dass bei Ehegatten ein Titel gegen Mann und Frau vorliegen muss, selbst wenn nur einer von ihnen Mieter der Wohnung ist.
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Ob eine Vollstreckung gegen Dritte (Lebensgefährten, Kinder, Untermieter) aus einem Titel gegen den Schuldner möglich ist, wenn diese Personen dem Gläubiger gegenüber kein eigenständiges vertragliches Recht haben, wird dagegen sehr unterschiedlich beurteilt.
Teilweise wird vertreten, dass ein Vollstreckungstitel gegen den Schuldner immer ausreicht, wenn der Dritte sein Besitzrecht nicht von dem Vermieter ableitet[15]. Für Ehegatten, die nicht selbst Mieter sind, muss ein solches abgeleitetes Besitzrecht dann konstruiert werden. Das verursacht aber wegen Art. 6 I GG keine Schwierigkeiten[16].
Andere verfolgen einen restriktiveren Ansatz. Sie meinen aber dennoch, dass ein Vollstreckungstitel gegen den Schuldner allein wenigstens dann ausreichen müsse, wenn der Dritte den Mitbesitz ohne oder gegen den Willen des Vermieters begründet oder gegenüber dem Vermieter verheimlicht hat[17].
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Dem BGH ist auch dieses Verständnis noch zu weit. Er meint, dass der Gläubiger aus einem Räumungstitel gegen den Mieter einer Wohnung nie gegen im Titel nicht aufgeführte Dritte vollstrecken könne, wenn diese dritten Besitzer (Allein- oder Mitbesitzer) der Wohnung seien. Dabei wird bei Ehegatten der erforderliche Mitbesitz grundsätzlich vermutet, bei nichtehelichen Lebensgefährten muss der Mitbesitz hingegen positiv festgestellt werden.
Grundsatz BGH NJW 2004, 3041 = BGHZ 159, 383:
„Aus einem Räumungstitel gegen den Mieter einer Wohnung kann der Gläubiger nicht gegen einen im Titel nicht aufgeführten Dritten vollstrecken, wenn dieser (wenigstens) Mitbesitzer ist.“
Zur Feststellung des Mitbesitzes bei Lebensgefährten und Kindern BGH NJW 2008, 1959:
„Vielmehr muss anhand der tatsächlichen Umstände des jeweiligen Falles beurteilt werden, ob der nichteheliche Lebensgefährte Mitbesitzer oder nicht nur Besitzdiener ist. Die tatsächlichen Besitzverhältnisse hat der Gerichtsvollzieher als Vollstreckungsorgan zu prüfen. Die Einräumung des Mitbesitzes an den nichtehelichen Lebensgefährten muss durch eine von einem entsprechenden Willen getragene Handlung des zuvor alleinbesitzenden Mieters nach außen erkennbar sein.“
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Minderjährige Kinder haben in der Regel keinen Besitz an der Wohnung, so dass ein Räumungstitel gegen diese nicht erforderlich ist. In Beispiel 5 kann der Gerichtsvollzieher die Vollstreckung gegen die Lebensgefährtin daher nicht durchführen, bis ein Räumungstitel gegen diese vorliegt. Die Kinder hingegen können aus der Wohnung verwiesen werden, da diese nicht Besitzer nach § 885 ZPO sind, sondern lediglich Besitzdiener nach § 855 BGB. Sie erlangen in der Regel auch dann keinen eigenen Mitbesitz, wenn sie erwachsen werden[18].
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Beispiel 6 (Räumung bei Untervermietung):
Vermieter V hat einen Räumungstitel gegen Mieter M erwirkt. Als der Gerichtsvollzieher die Vollstreckung durchführen will, wird ersichtlich, dass M die Wohnung nach Erlass des Räumungsurteils an U untervermietet hat. Gegen U liegt kein Vollstreckungstitel vor. Kann der Gerichtsvollzieher vollstrecken?
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Problematisch ist in Beispiel 6 wiederum, dass gegen U kein Vollstreckungstitel vorliegt (§ 750 ZPO) und daher eine wesentliche Vollstreckungsvoraussetzung nicht gegeben ist. Der BGH meint auch hier, dass eine Vollstreckung gegen U nicht möglich sei, wenn sein Besitz an der Wohnung festgestellt werde (§ 885 ZPO). Da dies hier der Fall sei, könne der Gerichtsvollzieher nicht vollstrecken. Ob der Dritte nach materiellem Recht zur Herausgabe der Mietsache an den Gläubiger verpflichtet sei, sei nach Ansicht der Rechtsprechung nicht im formalisierten Zwangsvollstreckungsverfahren zu prüfen, sondern einer Beurteilung im Erkenntnisverfahren vorbehalten.
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Selbst wenn dem Vollstreckungsschuldner und dem Dritten ein kollusives Zusammenwirken vorgeworfen werden kann, indem die Untervermietung absichtlich erst nach Erlass des Räumungstitels abgeschlossen wurde, um eine Vollstreckung zu verhindern, ändert dies nach Ansicht des BGH nichts daran, dass die Vollstreckung gegen U nicht möglich sei[19]. Der materielle Einwand des Zusammenwirkens (§ 242 BGB) könne vom Vollstreckungsorgan wegen des Grundsatzes des formalisierten Zwangsvollstreckungsverfahrens nicht ausreichend während der Zwangsvollstreckung geprüft werden, da der Gerichtsvollzieher bei einer solchen Prüfung überfordert sei.
BGH NJW 2008, 3287:
„Die Räumungsvollstreckung darf nicht betrieben werden, wenn ein Dritter, der weder im Vollstreckungstitel noch in der diesem beigefügten Vollstreckungsklausel namentlich bezeichnet ist, im Besitz der Mietsache ist. Dies gilt selbst dann, wenn der Verdacht besteht, dem Dritten sei der Besitz nur eingeräumt worden, um die Zwangsräumung zu vereiteln.“
Diese Rechtsprechung orientiert sich konsequent am Gesetzeswortlaut der zwangsvollstreckungsrechtlichen Vorschriften (§§ 750, 885 ZPO) und baut auf dem Formalisierungsgedanken auf. Wenn man in der Klausur oder Hausarbeit die Gegenposition vertreten möchte, so reicht es daher nicht aus, allein auf das Argument der Missbrauchsgefahr abzustellen. Auch das praktische Problem der Überprüfung der Missbräuchlichkeit außerhalb eines Gerichtsverfahrens müsste dafür mit angesprochen und gelöst werden.
§ 3 Voraussetzungen der Zwangsvollstreckung › III. Allgemeine Vollstreckungsvoraussetzungen › 2. Klausel