Читать книгу Die Vorsehung - Bärbel Junker - Страница 5
RÜCKBLICK
ОглавлениеAriella de Boer strich seufzend ihre langen dunklen Haare zurück, während sie lustlos auf dem Stück Toast herumkaute, welches immer mehr in ihrem Mund zu werden schien.
Es war ein schöner Tag!
Die Sonne schien strahlend vom wolkenlosen Himmel herab. Verliebte hielten sich an den Händen. Kinder spielten vergnügt.
Ja, der Tag war wirklich wunderschön!
Aber nicht für Ariella.
Für sie gab es keine schönen Tage mehr, seitdem ihr Mann Ingner und ihre erst vierjährige Tochter Inaella mit dem Auto tödlich verunglückten.
Das Leid fraß sie innerlich auf. Obwohl erst achtundzwanzig Jahre alt, fühlte sie sich wie eine sehr, sehr alte Frau, die ihr Leben gelebt und fast schon hinter sich hatte.
Schon wieder rannen Tränen aus ihren großen ultramarinblauen, mit goldenen Pünktchen gesprenkelten Augen. In glücklichen Tagen hatten diese goldenen Punkte ihre Augen wie kleine Sonnen erstrahlen lassen.
Doch das war seit drei Monaten vorbei.
„Was soll ich nur tun?“, flüsterte sie verzweifelt in die Stille und Leere des Raumes. „Wie soll, wie kann ich weiterleben?“
Aber weiterleben musste sie!
Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Schuldigen am Tod ihrer Lieben zu finden. Es war das Einzige, was sie aufrechterhielt. Seit dem schrecklichen Anschlag suchte sie nach den Mördern, doch bislang ohne jeden Erfolg.
Weinend starrte sie auf das Bild, das neben ihrem Teller lag. Ein Bild aus glücklichen Tagen.
Ein so schöner Tag war es gewesen, damals, zusammen mit Ingner und ihrer kleinen Tochter im Kunstzentrum Eichensee. Inaella hatte mit strahlenden Augen von den schönen Farben geschwärmt. In ihr ruht eine Künstlerin, hatten sie mehr als einmal gesagt.
Vorbei! Alles vorbei!
Das Unglaubliche passierte auf der Rückfahrt vom Kunstzentrum Eichensee. Sie sah es Nacht für Nacht in ihren Träumen, spürte die Hitze, hörte die Schreie.
Ein Mann in einer schwarzen Kutte stand bewegungslos am Waldrand, als warte er auf jemanden.
Heute wusste sie auf wen!
Als sie in ihrem Cabrio an ihm vorbeifuhren, hob er die Hand und schleuderte eine Feuerlohe auf den Rücksitz, auf dem ihre Tochter in ihrem Kindersitz mit ihrem Teddybär spielte.
Der Wagen geriet augenblicklich in Brand!
Ingner trat vor Schreck das Gaspedal bis zum Anschlag durch und verlor die Gewalt über das Fahrzeug.
Spring raus! schrie er, bevor der Wagen an einem dicken Baum zum Stillstand kam.
Sie sprang zwar nicht, wurde jedoch durch den Aufprall irgendwie herausgeschleudert. Bewusstlos blieb sie am Waldrand liegen.
Als sie wieder zu sich kam, brannte der Wagen lichterloh und strahlte eine solche Hitze aus, dass an Hilfe nicht zu denken war. Entsetzt floh sie in den Wald zwischen dichtes Gebüsch.
Für ihren Mann und ihre kleine Tochter konnte sie nichts mehr tun. Beide kamen in dem Höllenfeuer um.
Zusammengekrümmt wie ein Fötus lag sie auf dem Waldboden. Anfangs schluchzend, später wie erstarrt. Sie begriff nicht, was geschehen war; konnte nicht glauben, dass ein Mensch mit der Hand Feuerlanzen zu schleudern vermochte. In Fantasy-Geschichten mochte das möglich sein, aber doch nicht in der Realität!
Sie lag da wie gelähmt, spürte weder Schmerz noch Trauer. Diese Gefühle würden sich erst später einstellen, dann, wenn sie die Tragweite des Geschehens wirklich begriff.
Doch etwas drang durch ihre momentane Betäubung zu ihr durch. Der Gedanke, dass dieser Unfall – wenn man es denn so nennen wollte – vielleicht gar kein Unfall, sondern ein gezielter Anschlag war!
Sie hatte diesen Gedanken kaum zu Ende gedacht, da flog der Wagen unter gewaltigem Getöse in die Luft. Brennende Gegenstände und glühende Metallteile sausten durch die Gegend, drohten sie zu verletzen.
Hastig verkroch sie sich tiefer im Gebüsch.
Nach einer Weile, sie wollte gerade ihr Versteck verlassen, gewahrte sie den Mann in der schwarzen Kutte. Er stand regungslos vor dem brennenden Wagen und starrte ihn an. Die noch immer gewaltige Hitzeabstrahlung schien ihm nichts auszumachen.
Plötzlich warf er den Kopf in den Nacken und lachte, lachte so schrill, so grässlich, so böse, dass es ihr kalt den Rücken runterlief.
Sie zitterte vor Furcht!
Plötzlich verstummte das Gelächter. Den Blick aufmerksam auf den Boden gerichtet, ging der Fremde langsam um den noch immer lodernden Wagen herum. Immer weiter zog er seine Kreise, bis er in die Nähe des Gebüschs gelangte, hinter dem sie zitternd lag.
Vor Schreck hielt sie den Atem an.
Nur wenige Schritte von ihr entfernt blieb der Mann stehen. Langsam drehte er sich um und musterte den Wald.
„Nein, aus diesem Höllenfahrzeug kann niemand entkommen sein“, murmelte er in einem Selbstgespräch gefangen. „Die Prophezeiung wird sich nicht erfüllen. Der Schattenfürst kann mit mir zufrieden sein. Schon sehr bald werden beide Welten ihm gehören, denn seine Macht ist grenzenlos.“
Ariella begriff nicht, was da vor sich ging. Von was für einer Prophezeiung sprach der Fremde? Und von welchem Schattenfürsten? Was war das überhaupt für ein Name? Sie starrte den Mann in der Kutte aus dem Schutz des üppigen Gebüschs an und … verstand nichts!
Verstohlen musterte sie den Teil seines Gesichts, den die Kapuze nicht verbarg. Es war ein hartes, ein gnadenloses Gesicht. Bleich war es, mit tiefen, zu den Mundwinkeln führenden Falten, einer scharf geschnittenen Nase, dichten Augenbrauen über eiskalten grauen Augen und schmalen Lippen. Dieser Mann war skrupellos und kannte keine Gnade, das versprach dieses erbarmungslose Gesicht!
Nach einem letzten, scharfen Blick, drehte sich der Fremde um, ging zurück zur Straße und verschwand aus ihrem Blickfeld. Sie wartete noch fast eine Stunde, bevor sie es wagte, sich der Straße zu nähern. Als sie dort ankam, war der furchteinflößende Fremde verschwunden.
Sie verstand nicht, warum das Schicksal sie so hart traf. Aber ihr war durch diese Begegnung eines klar geworden, nämlich, dass es für sie besser war, weiterhin als tot zu gelten.
Sie würde diesen Mann und dessen Auftraggeber, den er Schattenfürst nannte, finden, und sollte es Jahre dauern! Sie hatte nichts mehr zu verlieren. Sie hatten ihren Mann und ihre Tochter getötet. Sie durften ihrer Strafe nicht entgehen!
Durch einen schmalen, unterirdischen Gang, der noch aus der Zeit ihrer Großmutter stammte, kehrte sie heimlich und ungesehen in ihr Haus zurück, das abgelegen auf einem weitläufigen Grundstück stand. Ihre Großmutter hatte es ihr vererbt.
Hastig packte sie die wenigen Wertsachen, Kleidung und einige persönliche Gegenstände zusammen und schaffte sie durch den Tunnel zum Ende des Geländes. Hier stand in einer baufälligen Scheune der noch immer fahrbereite Wagen ihrer Mutter, den sie nach deren Tod weder ab- noch umgemeldet hatte.
Nachdem sie ihre Ersparnisse aus dem Versteck geholt hatte, das sie und ihr Mann einer Bank vorzogen, startete sie den Wagen und fuhr in eine ungewisse Zukunft davon.
Jetzt saß sie hier in der kleinen Eigentumswohnung ihrer Mutter, die vor einem Jahr gestorben war und weinte sich wieder einmal die Augen aus. Dabei konnte sie froh sein, die Wohnung noch nicht verkauft zu haben, sonst hätte sie nicht gewusst wohin.
Hier kannte sie niemand. Und in einer Großstadt wie Hamburg war es einfacher sich zu verbergen, sollten ihre Feinde an ihrem Tod zweifeln und nach ihr suchen.
Sie sehnte sich so sehr nach ihrer kleinen Familie, benötigte so dringend die Liebe und den Zuspruch ihres Mannes.
Da fiel ihr in ihrer Verlassenheit plötzlich Marvin Schygalla ein, Ingners und ihr bester Freund, der mit ihrem Mann in derselben Gegend aufgewachsen war. Ja, an ihn konnte sie sich mit der Bitte um Hilfe wenden. Er würde für sie da sein, und seine ausgezeichneten Beziehungen würden ihr vielleicht sogar bei ihrer Suche nach den Mördern nützen. Wieso nur hatte sie daran nicht schon eher gedacht!
Außerdem würde er sich Sorgen über das plötzliche Verschwinden seiner Freunde machen, wenn er plötzlich nichts mehr von ihnen hörte.
Aber durfte sie ihren treuen Freund, der auch der Patenonkel ihrer Tochter war, in diese schreckliche Sache hineinziehen? Ihn unter Umständen vielleicht sogar gefährden?
Nein, sicherlich nicht!
Trotzdem war sie einen Moment lang versucht, ihn anzurufen. Sie sehnte sich so sehr nach Zuspruch, benötigte so dringend einen guten Freund, eine Schulter, an die sie sich anlehnen konnte.
Zögernd nahm sie ihr Handy aus der Tasche.
Und wenn ihn mein Anruf zur Zielscheibe dieser Mörder macht? Könnte ich das mit meinem Gewissen vereinbaren?
Hätte Ingner ihn angerufen?
Nein, das hätte er sicherlich nicht! Er hätte seinen engsten Freund niemals einer eventuellen Gefahr ausgesetzt!
Außerdem besteht ja auch noch die Möglichkeit, dass das Handy angepeilt oder abgehört wird. Schließlich habe ich nicht die leiseste Ahnung, wer hinter dem Anschlag steckt! dachte Ariella verzagt. Später vielleicht, wenn einige Zeit vergangen ist und ich mehr über diese schreckliche Tragödie in Erfahrung gebracht habe.
Und um nicht doch noch in Versuchung zu geraten, steckte sie das Handy hastig zurück in ihre Tasche.
Wer kann ein Interesse an meinem und dem Tod meiner Familie haben? grübelte sie niedergeschlagen. Für wen verkörpern wir eine solche Gefahr, dass unser Tod der einzige Ausweg zu sein scheint?
Wie schon so oft zermarterte sie sich das Gehirn. Zu einem Ergebnis gelangte sie nicht. Sie stellte die verwegensten Überlegungen an, um sie im nächsten Moment wieder zu verwerfen. Sie hatten keine Feinde und keine Geheimnisse, waren weder reich, noch berühmt, waren nur eine ganz normale Familie.
Und trotzdem hatte es irgendjemand auf sie, ihren Mann und ihre kleine Tochter abgesehen.
Aber WER und WARUM?
Ihr Leben war bis zu diesem unglücksseligen Tag völlig normal verlaufen. Ingner und sie hatten sich ineinander verliebt, geheiratet und Inaella, ihre wundervolle Tochter bekommen.
Da Ingner zwei Mietshäuser von seinem Onkel geerbt hatte, musste sie nicht arbeiten und konnte sich ganz ihrer kleinen Tochter widmen.
Und da Ingner ihr Eigentum von zu Hause aus verwaltete und hier auch seinen Interessen nachging, passte er bei Bedarf auf Inaella auf, sodass sie ihrem liebsten Hobby nachgehen und an Schwert-Wettkampf-Turnieren teilnehmen konnte. Sie hatte sich anstelle von Puppen schon seit frühester Jugend für Waffen und Sportkämpfe interessiert.
Obwohl finanziell besser gestellt als andere Familien, hatten sie doch stets ein ganz normales, unauffälliges Leben geführt. Zwar mussten sie nicht jeden Tag aus dem Hause gehen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, aber das konnte ja wohl kaum ein Grund sein, ihr und ihrer kleinen Familie nach dem Leben zu trachten!
Warum also dieses schreckliche Verbrechen?
Auch im Leben ihres Mannes, der gutmütig und hilfsbereit war, hatte es nichts gegeben, das eine solche Tat hätte herausfordern können.
Ingner hatte Geschichtswissenschaften studiert und mit dem Masterabschluss das Studium beendet. Da er ein weit gefächertes Interessengebiet sein eigen nannte, war er eines Tages zufällig auf die Genealogie gestoßen. Und die Ahnenforschung war ein so vielschichtiges Gebiet, dass es ihn schon bald gefangen nahm.
Besonders die Erforschung ihrer Abstammung hatte es ihm angetan. Und je länger er forschte, desto besessener wurde er. Und trotzdem er in der Erforschung ihrer Herkunft immer wieder auf Hemmnisse stieß, hatte ihn dies nicht entmutigt, sondern vorangetrieben.
Sie hatte sich nicht sehr dafür interessiert und daher auch keine Ahnung, wie weit er mit seinen Recherchen gekommen war. Er hatte ihr am Abend vor dem Unglück zwar etwas über die Fortschritte seiner Nachforschungen erzählen wollen, doch sie war zu müde gewesen und eingeschlafen.
Gefangen in ihren Erinnerungen starrte Ariella blicklos vor sich hin. Und bei dem Gedanken an ihren geliebten Mann und ihre geliebte Tochter stöhnte sie vor Schmerz.
„Warum nur, warum?“, wimmerte sie verzweifelt.
Doch niemand antwortete ihr.
Vielleicht hilft es mir ein wenig einen Ort zu besuchen, an dem ich mit meiner kleinen Familie so glückliche Stunden verbrachte, dachte Ariella.
Und plötzlich überfiel sie ein solches Verlangen das Kunstzentrum Eichensee aufzusuchen, dass ihre Tränen versiegten und sie aufsprang. Sie eilte ins Schlafzimmer und begann sich so hastig anzukleiden, als liefe ihr das Kunstzentrum davon.
Jeans, T-Shirt, Stiefel und Lederjacke. Noch die Schultertasche, die Autoschlüssel und ab ging es zur Garage. Wenig später fuhr sie davon.