Читать книгу Die Vorsehung - Bärbel Junker - Страница 9
ARIELLAS ENTSCHEIDUNG
ОглавлениеHinter dem Gebäude in Eichensee stand eine schmale Bank, auf die sich Samwinn und Finntam mit Ariella in ihrer Mitte setzten.
Ariella musterte die beiden Halblinge, die sie für Kinder gehalten hatte.
Kinder! Ihre Augen umflorten sich. Eine Träne rann ihre weiche Wange hinunter. Sie schluckte, bemühte sich das Weinen zu unterdrücken.
Da schmiegte sich eine kleine Hand tröstend in ihre. Samwinns Sternenaugen sahen zu ihr hoch. „Warum weinst du?“, fragte er sanft.
Ariella schüttelte den Kopf, denn zu sprechen vermochte sie nicht. Die mühsam unterdrückten Tränen saßen wie ein Kloß in ihrer Kehle und ließen ihre Stimmbänder versagen.
Samwinn wartete geduldig, dass sich Ariella wieder beruhigte, während Finntam unruhig hin und her rutschte. Tränen beunruhigten und verwirrten den kleinen Halbling. Er lachte gerne und viel. Und er liebte gutes und reichliches Essen. Traurigkeit war nicht seine Sache, davon hielt er sich lieber fern.
Allerdings war das hier und jetzt nicht möglich. Also hieß es Warten und darauf hoffen, dass sich diese Menschenfrau wieder beruhigte. Er starrte auf seine weichen Lederstiefel, um die Frau nicht ansehen zu müssen.
„Da kommt jemand“, flüsterte Samwinn warnend und stellte sich neben die Bank. „Komm her zu mir, Finntam, damit sie uns nicht bemerken, falls sie sich auf die Bank setzen wollen.“
Finntam glitt von der Bank und stellte sich dicht neben seinen Freund. Gerade noch rechtzeitig, denn in diesem Moment bog ein eng umschlungenes Pärchen um die Ecke, welches abrupt stehen blieb, als es Ariella sah. Sie hatten wohl gehofft, hier ein verstecktes Plätzchen zum Kuscheln zu finden. Kichernd verschwanden sie wieder. Die beiden Besucher aus einer anderen Welt blieben für sie unsichtbar.
Die beiden Halblinge setzten sich wieder neben Ariella. Finntam baumelte mit den Beinen und warf einen vorsichtigen Blick auf die Menschenfrau. Weinte sie noch? Nein, dachte er erleichtert und entspannte sich.
„Samwinn, wir haben nicht mehr allzu viel Zeit“, erinnerte er seinen Freund. „Erzähl der Menschenfrau von der Prophezeiung damit sie versteht, weshalb sie mit uns kommen soll.“
„Finntam, würde es dir etwas ausmachen, mich bei meinem Namen zu nennen? Menschenfrau hört sich nicht besonders freundlich an“, bat Ariella.
Finntams Gesicht lief knallrot an. Verlegen starrte er eine Weile auf seine Stiefel, als sähe er sie zum ersten Mal. Endlich hob er den Kopf, sah Ariella schüchtern an und nickte.
„Ich danke dir“, sagte diese lächelnd. „So, und um was geht es nun in dieser Prophezeiung?“
„Sie besagt, dass eine menschliche Frau dazu ausersehen ist, Smethama, unsere Welt, vor der Willkür des Schattenfürsten zu retten“, erwiderte Samwinn.
„Und wie kommt ihr darauf, dass ich diese Frau bin?“, fragte Ariella verwundert.
„Unsere Hohe Herrin, die Elfen-Zauberin Lisha’yinn, hatte eine Vision, in der sie dich erkannte. Sie ist eine mächtige Zauberin und irrt sich nie“, meldete sich Finntam zu Wort, der seine Verlegenheit überwunden hatte.
„Das mag wohl so sein, Finntam. Doch ich glaube nicht an Visionen“, erwiderte Ariella.
„Und woher wusste sie dann wie du aussiehst?“
Ariella sah ihn überrascht an.
„Ja, Men … äh, Ariella“, verhaspelte sich Finntam. „Dieses Bild hat die Hohe Herrin für uns angefertigt, damit wir dich erkennen“, fuhr er triumphierend fort und hielt ihr die kleine Silberscheibe hin.
Ariella griff danach.
Staunend betrachtete sie ihr wie aus dem Gesicht geschnittenes Konterfei auf der glänzenden Scheibe. Selbst das winzige Muttermal unter ihrem linken Auge, welches einem Schönheitspflästerchen glich, fehlte nicht.
„Finntam hat recht, Ariella“, sagte Samwinn. „Unsere Herrin hat sich noch nie geirrt. Selbst deine Traurigkeit stimmt mit der Prophezeiung überein die da sagt, dass diese Retterin gebeugt von Kummer ist.“
„Wie kommst du darauf, dass ich Kummer habe?“, fragte Ariella leise.
„Du hast geweint und deine Augen blicken sehr traurig“, war die schlichte Antwort.
„Ich würde euch gerne helfen“, sagte Ariella. „Ich weiß zwar nicht, ob ich es kann, aber ich werde es mir überlegen.“
„Die Zeit drängt. Wenn du uns wirklich helfen willst, dann musst du hier und jetzt entscheiden, ob du noch heute mit uns gehst“, erwiderte Samwinn.
Damit hatte Ariella nicht gerechnet. Sollte es diese Parallelwelt – oder wie immer man sie nennen wollte – wirklich geben, und die beiden Halblinge sprachen für deren Existenz, würde sie jedoch auf keinen Fall so Hals über Kopf ihre Welt verlassen, nicht, bevor sie den Tod ihrer Lieben gerächt hatte.
„Ich kann noch nicht mitkommen“, sagte sie aus diesen Gedanken heraus. „Nicht bevor die Schuldigen am Tod meiner Familie ihre gerechte Strafe erhalten haben. Wer weiß wie viele unschuldige Menschen dieser schwarze Kuttenmann sonst noch in Flammen aufgehen lässt“, fügte sie leise und nur für sich hinzu.
Doch Samwinn hatte ihre geflüsterten Worte vernommen, denn Halblinge verfügen über ein überaus feines Gehör.
„Die Prophezeiung verlangt, dass du freiwillig mit uns gehst. Freiwillig bei uns bleibst. Und dass du freiwillig dazu bereit bist, wenn es darauf ankommt, für unsere Zukunft zu leiden“, erklärte er.
„Das hättest du ihr vielleicht nicht sagen sollen“, flüsterte Finntam seinem Freund zu. „Jetzt kommt sie bestimmt nicht mit und dann greift das Böse in Smethama weiter um sich.“
„Doch, Finntam. Ariella muss alles wissen. Nur dann kann sie eine Entscheidung fällen“, erwiderte Samwinn bestimmt.
Ariella hatte schweigend und mit zunehmender Verwunderung dem Gespräch der beiden Halblinge gelauscht. Sie sollte eine ganze Welt vor der Willkür eines mächtigen Schattenfürsten retten? Das konnte doch nur ein schlechter Scherz sein! Wären nicht die beiden ungewöhnlichen Halblinge gewesen, hätte sie an irgend so einen Fernseh-Schabernack geglaubt.
Sie fand diesen Samwinn und seinen Freund Finntam zwar ausgesprochen liebenswert. Doch langsam wurde ihr diese Sache zu viel. Auch wenn sie alles verloren hatte, diese Welt war ihre Heimat. Dass es noch andere Welten geben sollte, daran hatte sie nie geglaubt.
„Ich kann nicht mit euch gehen“, sagte sie aus diesen Gedanken heraus. „Es tut mir sehr leid.“
Finntam riss entsetzt die Augen auf, während sein Freund ganz ruhig blieb. Er lächelte sogar.
„Und wenn ich dir sage, dass du Koktos, den Kuttenmann, nur in Smethama finden wirst. Wärst du dann bereit, mit uns zu gehen?“, fragte Samwinn leise.
Ariella starrte ihn sprachlos an. „Du kennst diesen Mörder?“, flüsterte sie.
„Viele in unserer Welt kennen Koktos, den Schlächter des Schattenfürsten“, erwiderte Samwinn traurig. „Er hat schon viel Leid über mein Volk und all die anderen Völker gebracht. Er wechselt zwischen deiner und unserer Welt je nach Belieben hin und her. Doch er stammt aus unserer Welt, in der er auch lebt.“
„Warum hat er meine Familie getötet? Ich kenne doch weder ihn noch den Schattenfürsten“; stieß Ariella verzweifelt hervor.
„Niemand kennt den Schattenfürsten“, erwiderte Samwinn. „Keiner hat ihn je gesehen. Die Prophezeiung verspricht, dass nur du ihn zu erkennen vermagst. Warum das allerdings so ist, das weiß ich auch nicht. Antworten kannst du nur von unserer Hohen Herrin Lisha’yinn erhalten. Vielleicht hat sie eine Erklärung für den Tod deiner Familie.“
„Dann glaubst du, dass mein Schicksal mit der Zukunft eurer Heimat verknüpft ist?“, fragte Ariella nachdenklich.
„Ja, das meine ich“, erwiderte Samwinn. „Ich bin fest davon überzeugt, dass Smethama und seine Völker eine schreckliche Zukunft erwartet, solltest du nicht mit uns gehen.“
„Ihr bürdet mir da eine ungeheure Verantwortung auf“, sagte Ariella. Und der leise Vorwurf in ihren Worten war nicht zu überhören.
„Wir haben es uns nicht ausgesucht. Es tut mir leid“, erwiderte Samwinn leise.
Ariella sah die beiden Halblinge nachdenklich an. Was habe ich schon zu verlieren? dachte sie traurig. Meine Lieben sind tot. Dieser unheimliche Schattenfürst darf nicht wissen, dass ich überlebt habe. Hier muss ich mich ständig verstecken und trotzdem immer auf der Hut sein, dass mich dieser grauenhafte Kuttenmann nicht bemerkt.
In meiner Welt, sieht die Zukunft also ziemlich trostlos für mich aus. Vielleicht bietet sich mir in der Welt der Halblinge ja tatsächlich viel eher die Gelegenheit, den Kuttenmann und dessen Auftraggeber zu bestrafen.
„Aber ich brauche Kleidung und einige andere Dinge, sollte ich mich dazu entschließen, euch zu begleiten“, sagte sie aus ihren Gedanken heraus.
Samwinn und Finntam sahen sich an. Sie kommt mit, dachten sie erleichtert. Wir haben sie doch noch überzeugt.
„Du bekommst in Smethama alles, was du benötigst“, erwiderte Samwinn. „Deine übliche Kleidung würde dir bei unserem Vorhaben sowieso nichts nützen. Und was du außerdem noch brauchst, das besorgen wir.“
„Unserem Vorhaben? Werdet ihr mir helfen und mich begleiten?“, fragte Ariella überrascht.
„Ja, aber nicht nur wir“, erwiderte Samwinn geheimnisvoll wie ein Orakel.
„Sehr unterschiedliche Lebewesen werden dir zur Seite stehen“, mischte sich Finntam ein, der bislang still zugehört hatte. „Und viele nützliche Gegenstände wirst du erhalten“, fügte er hinzu.
Samwinn sah ihn warnend an, denn sie waren ermahnt worden, nichts zu verraten.
„Also gut“, erwiderte Ariella und überwand ihre Skepsis und ihre Befürchtungen. „Dann lasst uns gehen, denn in dieser Welt hält mich nichts mehr.“