Читать книгу Clemens von Bühlow Kollektion - Brigitte Lamberts - Страница 10
4.
ОглавлениеSamstagmorgen Hafen. Endlich ein freier Samstag. Clemens von Bühlow, Hauptkommissar des KK11 der Düsseldorfer Mordkommission, steht, noch nicht ganz wach, mit einem Becher Milchkaffee in der Hand vor dem großen Fenster seines Appartements und blickt auf den Innenhafen. Er genießt die Aussicht und überlegt gerade, auf was er an diesem Wochenende Lust hat. In den letzten Wochen hat er mit seinem Team rund um die Uhr gearbeitet, um den Mord an einem stadtbekannten Dealer aufzuklären. Ein guter Erfolg für alle. Als das Telefon klingelt, ist er irritiert, wer so früh etwas von ihm will.
»Von Bühlow. Hallo?«
Sein Chef, Kriminalrat Otto Kreutz, Leiter des Düsseldorfer Morddezernats, meldet sich.
»Ich weiß, du hast ein freies Wochenende und keine Bereitschaft, aber wir haben einen Mord, bei dem ich dich dabeihaben will. Das ganze Team der Bereitschaft ist schon da. Doch für auf der Heide ist das eine Nummer zu groß, der hat noch nicht so viel Erfahrung. Er selbst hat mich gebeten, dich hinzuzuziehen. Wir brauchen dich am Tatort. Bring bitte die Esser mit.«
Clemens ist alles andere als begeistert, sagt aber zu. Er hätte die zwei freien Tage dringend für sich gebraucht, um sich zu entspannen und mal wieder etwas anderes zu sehen als das Polizeipräsidium und seine Kollegen. Obwohl er seinen Beruf liebt, macht es ihm zu schaffen, dass sein Privatleben kaum noch existiert. Als er noch nicht bei der Mordkommission war, hatte er Zeit, seine Freundschaften zu pflegen, und nun kann er kaum noch am Leben der Freunde teilnehmen.
Er geht ins Bad, lässt sich kaltes Wasser über Kopf und Nacken laufen, bis sich alles taub anfühlt. Die morgendliche Benommenheit ist wie weggeblasen, und während er sich die Haare trocken rubbelt, greift er schon zum Telefon und ruft Hauptkommissarin Maria Esser an.
»Hey, kein ruhiger Samstag im Bett, ich hol dich in fünfzehn Minuten ab. Und zieh dir was Nettes an, es geht in den Grafenberger Wald.«
»Schon klar, für dich schicke ich alle meine Liebhaber nach Hause und werfe mich ins kleine Schwarze. Bis gleich.«
Clemens muss grinsen über den Spruch seiner Kollegin. Sie verstehen sich gut, was der Erfolgsquote zugutekommt und nicht immer so selbstverständlich ist, wenn man den anderen so zuhört. Aus dem Kleiderschrank greift er sich T-Shirt, Rollkragenpulli und Boxershorts und nimmt eine schwarze Jeans und ein braunes Wollsakko vom Bügel. Dass ihm keine Zeit für eine Dusche bleibt, ist ihm mehr als unangenehm. Clemens liebt es, gepflegt zu sein, daher auch seine Leidenschaft für maßgeschneiderte Anzüge. Als stilbewusster Mensch schätzt er die schönen Seiten des Lebens wie schmackhaftes Essen, einen guten Wein, die Kunst und hochwertige Kleidung. Sein Lebensmotto lautet: Lieber weniger, aber dafür mit Stil und Qualität. Sein Gehalt erlaubt keine allzu großen Sprünge, und so muss er kreativ sein. Da reicht es gerade für eine kleine Wohnung im Hafen, einem der quirligsten Viertel Düsseldorfs, mit einem sensationellen Blick und für einen alten Porsche, als Schnäppchen erstanden und ohne seinen besten Freund Alexander, der sich in seiner Freizeit aufs Schrauben verlegt hat, nicht bezahlbar.
»Na, kommst du wieder mit deinem Frosch?«, begrüßt Maria ihn, als er sie in der Parkstraße in Pempelfort abholt. Auch sie ist alles andere als begeistert über das gestrichene Wochenende.
Und wie immer antwortet er ihr mit dem Satz: »Nicht nur der Porsche, auch die Farbe ist original. Irisch-grün, typisch für die Baureihe 1968 bis 69.«
»Würde ich ja umspritzen lassen«, kommt es dann stets von Maria. Doch spätestens wenn Clemens zum wiederholten Mal erklärt: »Dann ist er nicht mehr original, und das dunkle Grün gefällt mir«, muss Maria lachen.
»Warum müssen immer wir dran glauben?«
Clemens lächelt sie charmant an, wenn auch etwas gequält.
»Wir beide sind nun mal das beste Team.«
»Schmeichler, damit kannst du mir den vermasselten Tag auch nicht schönreden«, kontert Maria, doch ihre Laune hat sich schon sichtlich gebessert.
Sie kommen zügig voran. Noch sind die Straßen nicht mit Einkaufswilligen und deren Fahrzeugen verstopft. Als sie vor den Rheinischen Landeskliniken links in die Rennbahnstraße einbiegen und die erste Anhöhe genommen haben, sehen sie schon das ganze Aufgebot: zwei Mannschaftswagen, der Kleintransporter der Spurensicherung, der Wagen des Gerichtsmedizinischen Institutes, alle sind schon da. Und wie kann es auch anders sein, Clemens registriert zwei Wagen mit dem Schild »Presse« hinter der Windschutzscheibe. Ärgerlich schüttelt er den Kopf. »Wenn die schon da sind, dann können wir uns auf einige Fragen gefasst machen.«
Ein Streifenpolizist hält den Hauptkommissar an. Clemens zeigt seinen Dienstausweis und wird gebeten, den Porsche ein Stück weiter auf einem der Parkplätze abzustellen. Der Hauptkommissar schlängelt den Wagen geschickt an den abgestellten Autos vorbei und biegt auf den ersten Parkplatz am Wildgehege ein. Die beiden steigen aus. Was jetzt kommt, ist Routine. Clemens öffnet den Kofferraum. Wo andere ihre Warnwesten und Verbandskästen verstauen, bewahrt er in Folie eingeschweißte Handschuhe und weiße Overalls auf, in die Maria und er nun hineinschlüpfen. Dazu noch Überzieher für die Schuhe und – was ihn immer noch trotz all der Routine nervt – die lästigen Plastikhauben. Egal wie man sie aufsetzt, immer macht man eine schlechte Figur. Zurück auf der Straße erklärt ihnen der junge Polizist den Weg. »Einfach immer geradeaus durch den Wald. Sie können es nicht verfehlen.«
Schon von Weitem sind die rot-weißen Absperrbänder zu sehen. Die Spurensicherung hat ihre Arbeit bereits aufgenommen. Vermummte Gestalten bewegen sich in der Mulde und auf dem Weg.
Die Hauptkommissare erreichen die Absperrung. Clemens zeigt erneut seinen Dienstausweis, und beide schlüpfen unter dem Absperrband hindurch. Maria Esser geht hinüber zu den Kollegen der Bereitschaft, die in einer kleinen Gruppe zusammenstehen, um sich ein erstes Bild von den bisherigen Erkenntnissen zu machen, und Clemens von Bühlow steuert auf den Gerichtsmediziner zu, der gerade aufbrechen will. Er hebt kurz die Hand zur Begrüßung.
»Der Tote ist durch einen Kopfschuss umgekommen. Er wurde ausgenommen und zudem entmannt, allem Anschein nach post mortem. Zum Todeszeitpunkt kann ich nur so viel sagen: Es muss gestern passiert sein, aller Wahrscheinlichkeit nach in der zweiten Tageshälfte bis zum frühen Abend. Alles Weitere wird die Obduktion zeigen.«
Clemens nickt. Bei so eindeutigen Fällen von Fremdverschulden gehört der Gerichtsmediziner von Anfang an zum Team. In anderen Situationen wird erst einmal der Notarzt gerufen, was oft weniger hilfreich ist, denn nicht alle Notärzte haben Erfahrung mit Kapitalverbrechen. So bildet er sich gern selbst ein erstes Urteil, bevor der Tote in die Gerichtsmedizin kommt.
Ein Kollege von der Spurensicherung macht ihn auf die Zweige im Mund und auf dem Körper des Toten aufmerksam und deutet auf einen undefinierbaren, Fliegen umschwärmten Haufen. Clemens zieht sich den Mundschutz über, geht in die Hocke, betrachtet den Toten eingehend und schaut sich die Äste an. Maria kümmert sich derweil um die beiden Journalisten, die rauchend hinter dem Absperrband stehen und – Clemens weiß nicht, wie sie es rauskriegen – noch vor der ersten Meldung an die Presse schon Wind von der Leiche bekommen haben. Noch lässt sich nichts sagen, ein männlicher Toter. Wenn sie mehr wissen, wird kurzfristig eine Pressekonferenz einberufen, doch nun mögen sie die polizeilichen Ermittlungen nicht weiter stören, erklärt die Hauptkommissarin freundlich, aber bestimmt.
Oberkommissar Christian auf der Heide vernimmt gerade Axel Nolte, und Kriminalrat Otto Kreutz ist schon zusammen mit der Oberstaatsanwältin Pia Cremer auf dem Weg ins Präsidium. Sie hat es sich nicht nehmen lassen und den Tatort selbst in Augenschein genommen. Das macht sie fast immer, ganz im Gegensatz zu einigen ihrer Kollegen, die sich die Eindrücke und Fakten von den Ermittlern referieren lassen. Die Oberstaatsanwältin braucht das, tuscheln die Kommissare, freundlich gesonnen und mit einem gewissen Respekt. Pia Cremer arbeitet nach dem Motto: Auch ein Staatsanwalt muss die Fährte aufnehmen. Als Nächstes wird sie die Obduktion des Toten beantragen und den Ermittlungsauftrag ausstellen, dann kann Kreutz sein Ermittlungsteam zusammenstellen.
Von Bühlow geht ein gutes Stück auf die Lichtung zu. Er will sich ungestört den Tatort und die nähere Umgebung anschauen und alles auf sich wirken lassen. Im Gegensatz zur gängigen Polizeiarbeit gibt er seiner Fantasie Raum. Er verlässt sich auf seine Intuition, auf die sich spontan einstellenden Assoziationen. Seine Kollegen ziehen ihn manchmal auf, wenn seine Fantasie mit ihm durchgeht, doch seine Erfolge geben ihm meistens Recht. Für ihn ist diese erste Phase der Ermittlung die spannendste, wenn er die vielfältigen Eindrücke aufsaugt, sie ins Verhältnis zueinander setzt und versucht, das Geschehen für sich zu rekonstruieren.
Das Unwetter der letzten Nacht hat viele Spuren beseitigt, aber dennoch ist deutlich zu erkennen, dass die Leiche vom Weg über die Böschung in die Mulde gerollt wurde: Abgeknickte Bodendecker, die zerwühlte Laubdecke, und die Erde ist eingedrückt. Clemens schaut sich um und bemerkt den Hochsitz. Sofort geht er zu den Kollegen der Spurensicherung zurück und bittet sie, auch den Hochsitz genau zu untersuchen. Dann entfernt er sich erneut, setzt sich abseits auf einen Stapel Holzstämme und betrachtet den Ort.
Schnell wird ihm klar, dass es sich hier um eine Hinrichtung handelt. Ein gezielter Schuss, das muss die Gerichtsmedizin noch bestätigen, und das Opfer wurde ausgenommen wie ein erjagtes Wild von einem Jäger. Die Zweige erkennt er sofort als Bruch. Damit soll etwas gezeigt werden. Aber was? Vielleicht, dass hier ein Mensch wie ein Schwein abgeschlachtet wurde? Der Mörder hat nicht einfach so getötet, er richtet hin, weil diese Person es aus seiner Sicht verdient hat. ›Wie war das noch mit den Brüchen?‹ Clemens versucht, sich zu erinnern. Früher hat ihn sein Vater ab und an zur Jagd mitgenommen, ohne seinen Sohn dafür begeistern zu können.
›Der Bruch auf dem Körper bedeutet Inbesitznahme‹, überlegt er. ›Es ist der letzte Gruß des Jägers an das erlegte Wild, und zugleich definiert er damit das Geschlecht des Tieres. Wie lag der Zweig noch mal?‹ Clemens versucht, sich das Bild ins Gedächtnis zu rufen. ›Ja, mit dem abgerissenen Ende Richtung Kopf, also das Zeichen für ein männliches Tier. Kurios. Erst wird der Tote entmannt, um ihm dann später seine Männlichkeit wiederzugeben. Und der Zweig im Mund?‹ Clemens denkt angestrengt nach. »Der ›letzte Bissen‹, auch ein Bruch, der nur einem männlichen Tier zuteil wird«, rutscht es ihm heraus. Clemens ist irritiert. Irgendetwas passt nicht zusammen. Er streicht sich mit den Fingern über die Stirn. Eine Angewohnheit, die sich immer dann einstellt, wenn er hoch konzentriert ist. »Ja, das ist es«, überlegt er laut. »Brüche sind nicht nur Zeichen der Inbesitznahme und definieren das Geschlecht des Tieres, sie sind auch Ausdruck der Ehrerbietung.« Doch warum sollte ein Mörder seinem Opfer Ehre bezeugen? Vor allem bei so einem bestialischen Mord macht das doch keinen Sinn. Es sind keine Anzeichen einer sogenannten Wiedergutmachung zu finden. Clemens schüttelt den Kopf, klappt seinen Moleskin auf und notiert seine ersten Eindrücke – eine Marotte, jeder neue Fall ein neues schwarzes Notizbuch. Wer weiß, vielleicht schreibt er nach seiner Pensionierung mal ein Buch über seine spektakulärsten Fälle, ein Traum für eine ganz ferne Zukunft. Jetzt muss erst einmal die Identität des Toten festgestellt werden, dann wird manches klarer, dessen ist sich der Hauptkommissar sicher.
Er ist froh, dass man ihn gerufen hat. Auch wenn die Ermittlungen noch ganz am Anfang stehen und ein Mord aus Rache für ihn naheliegend ist, ist eines jetzt schon klar: Dieser Fall lässt Abgründe erahnen.