Читать книгу Clemens von Bühlow Kollektion - Brigitte Lamberts - Страница 18
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ОглавлениеMontag früher Morgen Hafen. Die Stille wird durch Hühnergegacker gestört, dann ertönt eine krächzende Stimme, die ›Guten Morgen‹ wünscht. Clemens ist sofort wach und greift nach dem zweiten Wecker, um den weniger freundlichen Weckton rechtzeitig zu unterbinden. Obwohl er nur drei Stunden Schlaf bekommen hat, fühlt er sich erstaunlich frisch. Die Entscheidung, in aller Frühe die Akten des Gerichts durchzusehen und nicht noch gestern Nacht, war richtig. Er zieht sich ein dickes Sweatshirt und eine Jogginghose über und macht sich einen starken Kaffee. Mit der Tasse setzt er sich an seinen antiken Sekretär, der direkt vor dem großen Fenster seines Appartements steht. Draußen ist es noch dunkel, nur die Beleuchtung rund um den Innenhafen spendet etwas Licht, sodass Clemens die Silhouetten der gegenüberliegenden Häuser wahrnehmen kann.
Im Dunkeln sehen die Gehry-Bauten ja ganz witzig aus, trotzdem ärgert er sich darüber, wie schnell die Gebäude – zumindest das weiß verputzte und das mit der Aluminium-Fassade – unansehnlich geworden sind, im Gegensatz zu dem in Backstein ausgeführten Bau, dem die Witterung nichts anzuhaben scheint. Er schlägt die Gerichtsakten auf und beginnt konzentriert zu lesen.
Über die Persönlichkeit von Jacques Briest erfährt der Hauptkommissar wenig. Der Musiker muss sehr von sich überzeugt gewesen sein, obwohl keines seiner Engagements verlängert wurde. Als der Vertrag in Köln auslief, wo er als Erster Geiger angestellt war – hier hat er auch Senta Hartmann kennengelernt, die am Kölner Opernhaus als Sängerin engagiert war –, ging er an das Wiesbadener Opernhaus. Auch dort konnte er sich nicht länger als die vereinbarte Zeit halten und landete dann als Korrepetitor an den Wuppertaler Bühnen. »Vom Ersten Geiger zum Korrepetitor, eine rückwärtsgerichtete Karriere«, rutscht es Clemens heraus. Das war auch der Zeitpunkt, an dem Senta Hartmann erstmals Verletzungen bei ihrer Tochter bemerkte.
Nachdem Clemens den Großteil der Vernehmungsprotokolle gelesen hat, macht er sich einen zweiten Kaffee und blickt gedankenversunken aus dem Fenster. ›Kein Wunder, dass bei Senta Hartmann die Nerven blank liegen. Wirkliche Hilfe hat sie nicht bekommen, nur Anfeindungen. Und dass die Heimleitung Jahre später ohne ihre Zustimmung dem Vater auch noch eigenmächtig unbetreuten Umgang gewährt hat, obwohl der Verdacht des Missbrauchs im Raum stand, ist kaum zu glauben.‹ Er schüttelt den Kopf. Besonders mitgenommen hat ihn die Schilderung von Senta Hartmann, wie Marie sich als Kind verhalten hat, wie sie sich die Wimpern ausriss, mit dem Kopf gegen die Wand lief oder sich weigerte, auf die Toilette zu gehen.
Clemens geht zurück zum Sekretär und liest nochmals die Aussage der Mutter über das Einkoten.
»Ich habe das alles nicht verstanden. Missbrauch kam mir überhaupt nicht in den Sinn. Eher hatte ich den Verdacht, dass Jacques einfach zu ungeduldig mit Marie war. Auch Maries Ausspruch: ›Du tust der Marie nicht weh, du bist eine ganz liebe Toilette‹, konnte ich mir nicht erklären. Erst die Psychologen der Kinderschutzambulanz haben mir so manches erläutert. Dass beispielsweise die Weigerung von Marie, auf eine Toilette zu gehen und lieber in die Windeln zu machen, eine typische Übersprungsangst sei. Missbrauchte Kinder entwickeln Ängste, die sie wiederum auf Situationen und Dinge übertragen, die in keinem logischen Zusammenhang zum Missbrauch stehen. Das kann ganz vielfältig sein, und bei Marie war es unter anderem die Toilette.«
Clemens blättert einige Seiten vor zu den Protokollen über die Vernehmung von Sieglinde Frank, einer Schulfreundin von Senta Hartmann, die nach ihrer Gesellenprüfung als Köchin einige Zeit als Kindermädchen bei den Briests angestellt war. Sie hatte als Erste Auffälligkeiten bei Marie bemerkt, zum Beispiel den verzückten Blick des Kindes, wenn sie gewickelt wurde. Richtig stutzig wurde sie aber erst, als sie beobachtete, wie Marie beim Spielen ihre Puppen im Genitalbereich leckte.
Auf dem Weg zum Polizeipräsidium schaut er wie fast jeden Morgen im Büdchen auf der Hammerstraße vorbei, wie in Düsseldorf und Köln die Kioske genannt werden. Hier bekommt man alles, was zum Überleben notwendig ist, wenn mal wieder das Toilettenpapier, der Kaffee, die Milch, das Brot oder die Zigaretten ausgegangen sind. Auch abends kann es schon einmal vorkommen, dass er hier Halt macht, um sich eine Flasche seines Lieblings-Chardonnays zu kaufen. Er bestellt sich ein Croissant mit Butter und einen Milchkaffee, dann balanciert er beides gekonnt zu einem der Stehtische mit Blick auf die Straße. Diese wenigen Minuten, bevor er sich wieder aufmacht, genießt er sehr, eine kurze Schonfrist mit den besten Croissants in ganz Düsseldorf.
Im Büro von Hendrik Flemming wartet schon das Team auf den Hauptkommissar. Gut gelaunt begrüßt er die Runde, zieht schnell Mantel und Schal aus, hängt beides sorgfältig an den Kleiderhaken neben Flemmings schmuddelige Kapuzenjacke. Er schätzt Flemming als Kollegen, irgendwie mag er ihn auch, aber an die ausgeleierten T-Shirts und die Stoffturnschuhe, in denen er herumläuft, kann er sich nicht gewöhnen. Heute sind die zwei Neuen anwesend, die Kommissaranwärter Florian Schmidt und Sonja Melchior, abgestellt vom Dezernat Raub. Sie sind recht jung, an Erfahrung mangelt es noch, aber sie wirken engagiert, und – für den Leiter der Ermittlungen besonders wichtig – sie sind nicht einfach abkommandiert worden, sondern haben sich freiwillig gemeldet. Das lässt auf eine gute Zusammenarbeit hoffen. Zuerst reicht er Sonja Melchior die Hand und lächelt der jungen Frau aufmunternd zu. In ihren dunkelbraunen Augen liest er Anspannung, aber auch Neugierde. Sie reicht ihm gerade bis zur Brust. Ihre dunkelblonden Locken hat sie geschickt mit einem Gummiband gebändigt, nur vereinzelt lugt ein Haarkringel aufmüpfig in die Stirn. Dann wendet er sich Florian Schmidt zu. ›Ein witziger Bursche‹, geht es ihm durch den Kopf, als er den Rotschopf mit den dunkelgrünen Augen und unzähligen Sommersprossen im Gesicht genauer betrachtet.
»So, dann wollen wir mal.« Clemens setzt sich und fasst die bisherigen Ergebnisse kurz zusammen, um die beiden auf den aktuellen Stand zu bringen. Sein Fazit: »Die bisherigen Vernehmungen haben ergeben, dass keine der Personen ein wasserdichtes Alibi aufzuweisen hat.«
Dann schaut er zu Maria hinüber, die das Wort ergreift. »Dr. Lamberty hat bis kurz nach sechzehn Uhr und um neunzehn Uhr dreißig ein Alibi, für die Zeit dazwischen und danach gibt es keine Zeugen. Die Ex-Frau von Briest, Senta Hartmann, hat kurz nach sechzehn Uhr und dann erst wieder ab neunzehn Uhr ein Alibi.«
»Da liegt noch eine Menge Arbeit vor uns«, leitet Clemens die Arbeitsverteilung ein. »Hendrik, nimm Kontakt zu den Kollegen aus Brüssel auf. Hast du den Absender der E-Mail identifiziert?«
»Ja, sie ist gegen dreizehn Uhr auf Frau Hartmanns Rechner eingegangen. Die Gerichtsverhandlung endete etwa um zwölf, also muss sich Michael Schneider gleich, nachdem er nach Hause gekommen ist, an den Computer gesetzt haben.«
»Wer ist dieser Michael Schneider?«, fragt Maria.
»Ein Werber mit ehemals angesehener kleiner, aber florierender Werbeagentur.«
»Wieso ehemals?«, unterbricht Clemens.
»Nach meinen Recherchen hat es da den klassischen Absturz gegeben. Seine einzige Tochter ist missbraucht worden, danach ging die Ehe kaputt, Alkohol spielte bei ihm eine immer größere Rolle. Die Agentur kam in Schräglage und konnte nur durch einen Verkauf gerettet werden. Mittlerweile ist er Hartz-IV-Empfänger und wohnt in der Altstadt. Seine Lage dürfte sich nach dem Selbstmord seiner Tochter vor drei Monaten nicht verbessert haben«, konstatiert Hendrik.
Clemens ist immer wieder erstaunt, was Flemming herausbekommt, doch er hütet sich, nach dessen Recherchemethoden zu fragen.
»Okay, Christian, du besuchst mit Sonja diesen Schneider und fühlst ihm mal auf den Zahn. Florian, du rufst den Pfleger aus dem St.-Vinzenz-Krankenhaus an und versuchst herauszufinden, ob er im fraglichen Zeitraum Lamberty gesehen hat, und widmest dich den hoffentlich bald eintreffenden Hinweisen aus der Bevölkerung. Die Pressekonferenz hat Mönnekes mit Pia Cremer für elf Uhr angesetzt, Kreutz vertritt mich, er wird nur das Nötigste an die Presse weitergeben.«
Clemens überlegt kurz, bevor er fortfährt: »Christian, wenn ihr mit Schneider fertig seid, geh denen von der ARGE, wie gestern besprochen, mal auf die Nerven. Ob die mehr über Briest wissen, wo er seine Zeit verbracht hat. Wer übernimmt den Strafverteidiger von Briest?«
Clemens schaut in die Runde. »Christian, vielleicht schaffst du das. Es ist Horst Büttner, bei dem musst du dein ganzes taktisches Können ausspielen. Der lässt dich sonst auflaufen. Aber wer könnte uns besser Auskunft über Briest geben als er?« Clemens nickt Christian aufmunternd zu und wendet sich erneut an Flemming.
»Und Hendrik, du hältst den Kontakt zu Hummel und Schoeller, ob es da was Neues gibt. Maria und ich werden jetzt Erika Wagner einen Besuch abstatten und anschließend bei Sieglinde Frank vorbeischauen, dem früheren Kindermädchen der Briests. Spätestens um achzehn Uhr treffen wir uns wieder hier.«
Kaum sind die Aufgaben verteilt, strömen auch schon alle auseinander.
Auf dem Hof des Polizeipräsidiums spricht Clemens einen jungen Polizisten an, der gerade mit seinem Kollegen in einen Streifenwagen einsteigen will.
»Könnt ihr uns zur Nordstraße mitnehmen?«
Maria schaut ihn verwundert an.
»Ich habe mein Auto gestern dort stehen lassen.«
Sie verdreht die Augen und raunt ihm zu: »Du bist doch sonst so korrekt.«
»Und wann soll ich es abholen? Wir haben volles Programm.«
Der junge Streifenpolizist schaut unsicher zu seinem älteren Kollegen hinüber, der Clemens und Maria mit einer Handbewegung zu verstehen gibt, dass sie mitfahren können.
Nachdem Clemens ausgestiegen ist, bedankt er sich durch das offene Fenster bei den Kollegen und schließt dann die Beifahrertür seines Wagens auf. Kaum sitzen die beiden im Porsche, nimmt Maria ihn ins Gebet. »Wegen so einer Kleinigkeit kannst du richtig Ärger bekommen.«
»Ja, ja, ist schon gut«, erwidert er etwas ungehalten. Doch Maria lässt nicht locker. »Du weißt selber, dass es Kollegen gibt, die auf deine Erfolge neidisch sind.«
Clemens steckt sich eine Zigarette an und öffnet das Fenster einen Spalt breit.
»Und Mönnekes fühlt sich von dir nicht ernst genommen. Wenn dem so etwas zu Ohren kommt, kann er ganz schnell Stimmung gegen dich machen.«
»Schau mal lieber, ob du das Haus von Erika Wagner findest, das müsste hier gleich sein.«
Die 78-jährige Dame wohnt im Zooviertel in der Goethestraße. Zwischen den Häusern aus den 1950er- und 1960er-Jahren gibt es noch eine Vielzahl von stattlichen Gründerzeitvillen. Das Haus von Frau Wagner fällt etwas kleiner aus. Für dieses Viertel eher eine Ausnahme, kein Königinnenbalkon, aber ein altes Patrizierhaus mit Jugendstil-Ornamenten, gepflegt und in Anthrazit, Grau und hellem Gelb gehalten. Früher wohnte in diesem Haus eine Familie mit Dienstboten, später wurde jede Etage zu einer eigenständigen Wohnung umgebaut.
Mitte der 1960er-Jahre hat Erika mit dem Geld, das ihr als Lastenausgleich zugesprochen worden war, das Jugendstil-Haus erworben. Damals schon ein kleines Vermögen, ist das Haus heute ein Vielfaches wert. Über die Jahre hat sie das Innere zurückbauen lassen. Im Keller, wo früher Heizungsanlage und Küche untergebracht waren, befinden sich nun diverse Räume. Das Erdgeschoss wird durch einen großen Eingangsbereich dominiert mit angrenzendem Wohnzimmer, Esszimmer, Küche und Gästetoilette. Eine alte Holztreppe mit herrschaftlich anmutendem, roten Teppichläufer führt in den ersten Stock. Hier befindet sich ein großes Schlafzimmer, Bad und Ankleidezimmer. Im Dachgeschoss, wo früher die Dienstboten untergebracht waren, hat sie sich eine Bibliothek eingerichtet, ein Gästezimmer und ein kleines Bad.
Freundlich, doch etwas verwundert, Besuch von der Polizei zu bekommen, bittet sie die beiden herein. Der angebotene Kaffee wird dankend angenommen, er dient dazu, den Polizisten etwas Zeit zu verschaffen, um sich ungestört umsehen zu können und sich einen ersten Eindruck zu verschaffen. Clemens ist begeistert. Bei alten Menschen ist er es gewohnt, dass ältere Möbel und viel Nippes, ob nun wertvoll oder nicht, das Interieur bestimmen. Ganz anders bei Erika Wagner. Stilvoll ergänzen sich hier Antiquitäten mit Designermöbeln und alte Meister mit moderner Kunst. Nichts steht herum. Und doch sind die Räume mit Leben erfüllt.
Erika Wagner kommt mit einem Tablett ins Wohnzimmer und steuert auf die Sitzecke am Kamin zu. Nachdem sie eingeschenkt und sich gesetzt hat, blickt sie die beiden neugierig an.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragt sie souverän, ihr Lächeln wirkt sympathisch.
»Wie stehen Sie zu Senta Hartmann?« Clemens fragt direkt, ohne Geplänkel. Er schätzt Erika Wagner als resolute Frau ein, die nicht um den heißen Brei herumredet, klare Fragen schätzt und auf den Punkt kommt.
»Steht Ihr Interesse an meiner Person mit der Ermordung von Jacques Briest in Zusammenhang?«, fragt diese zurück.
»Ja. Wer hat Ihnen davon erzählt? Die Presse hat den Namen noch nicht veröffentlicht«, erwidert Maria.
»Was für eine naive Frage. Haben Sie nicht recherchiert? Natürlich Senta, wer sonst? Sie rief mich noch in der Nacht an, nachdem sie ihn in der Gerichtsmedizin identifizieren musste. Übrigens keine gelungene Aktion der ermittelnden Beamten, wenn Sie mich fragen. Mitten in der Nacht und gerade einmal einen Tag nach dem Gerichtsurteil. Etwas mehr Pietät wäre angebracht gewesen.« Die beiden Hauptkommissare stutzen. Solche deutliche Kritik an ihrer Arbeit hören sie nicht oft.
Doch Clemens lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. »Was für einen Eindruck machte sie auf Sie?«
»Aufgelöst, um Fassung ringend, aber das ist ja in der Situation verständlich. Außerdem ist Senta sehr emotional.«
»Wie meinen Sie das? Wird sie aggressiv, lässt sie sich zu unüberlegten Handlungen hinreißen?«, fragt Maria.
Die alte Dame schaut die Fragende fast mitleidig an. »Nein, keineswegs, meine Liebe. Sie hat nahe am Wasser gebaut, sie kann theatralisch werden, wird fahrig oder nervös, mehr nicht. Und nein, sie ist nicht zu einem Mord fähig, auch nicht im Affekt. Das ist es doch, was Sie von mir wissen wollen, oder?«
Wieder übernimmt Clemens. »Hatten Sie den Eindruck, dass ihr der Tod von Briest nahe gegangen ist?«
»Nahe gegangen ja, aber nicht so, wie man es bei einem geliebten Menschen erlebt. Eher bedauernd, als wenn ein Unbekannter zu früh gegangen ist.«
Clemens schaut sie verwundert an. »Das kann ich nicht nachvollziehen. Immerhin wollte sie ihren Ex-Mann im Gefängnis sehen. Sie muss ihn doch gehasst haben für all das, was er ihrer Tochter und ihr angetan haben soll.«
»Herr von Bühlow, das ist doch offensichtlich. Er war auch einmal der Mann, den sie zu lieben glaubte. Mit dem sie die Ehe einging und ein Kind in die Welt gesetzt hat. Es hat bestimmt eine glückliche Zeit gegeben. Sicherlich wird sie sein Tod nicht kalt gelassen haben. Auch wenn Sie sich das nicht vorstellen können. Sind Sie verheiratet?«
Clemens ignoriert die Frage. »Kommen wir zurück zu Ihrer Beziehung zu Frau Hartmann.«
»Ich habe mit Frau Hartmann keine Beziehung, Herr Hauptkommissar, wir sind seit Jahren freundschaftlich verbunden. Wenn Sie Zeit haben, erzähle ich Ihnen gern die ganze Geschichte. Es könnte ja Ihre Ermittlungen bereichern.«
Erika Wagner gießt Kaffee nach und bietet Gebäck an. Maria greift zu, sie amüsiert sich über den flotten Ton der Gastgeberin.
Sie erfahren, dass Erika als junge Frau Mathilde Hartmann begegnete und die beiden sich anfreundeten. Dann kamen die Kinder zur Welt, erst Sebastian, dann Senta, und Erika wurde immer mehr in die Familie aufgenommen. Als Patentante von Senta begleitete sie deren Entwicklung vom süßen Mädchen bis zur vielversprechenden Sängerin. Dann Sentas Heirat, die Geburt von Marie, und sie wird wieder Patentante. Die Tragödie, dass Marie behindert ist. Während der Geburt hatten sich die Ärzte zu spät zu einem Kaiserschnitt entschlossen, es kam zu Komplikationen, zu geringe Versorgung des Gehirns mit Sauerstoff, deshalb ist Marie entwicklungsverzögert. Dann begann irgendwann die Ehe zu wackeln, und erste Verdachtsmomente gegen den Vater kamen auf.
»Jacques habe ich nie ausstehen können. Doch ich habe es mir zur Regel gemacht, mich rauszuhalten, wenn ich nicht um Rat gefragt werde.«
›Was ihr sicherlich nicht immer gelingt‹, schätzt Clemens.
»Was wissen Sie über den gewaltsamen Tod von Jacques?«, möchte Maria wissen.
»Nur das, was mir Senta gesagt hat. Er ist im Grafenberger Wald erschossen worden. Kein schöner Tod, falls es ein Anfänger war. Aber jemand, der sich mit Gewehren auskennt, wird wohl gut getroffen haben. Ich nehme an, Sie wissen, dass ich passionierte Jägerin bin und immer noch aktiv?«
»Das wäre meine nächste Frage gewesen«, nimmt Clemens den Faden auf. »In welcher Form sind Sie aktiv?«
»Erst gestern war ich mit Freunden auf der Jagd. Leider wird es in dieser Jahreszeit immer beschwerlicher, das Wetter, die Kälte, die Feuchtigkeit. Ich fürchte, ich kann mein Hobby nicht mehr lange ausüben. Vielleicht noch so fünf bis zehn Jahre. Sie schießen doch auch, oder?«
Wieder gehen die beiden nicht auf Erika Wagners Frage ein.
»Würden Sie uns bitte Ihre Waffen zeigen?«
»Sie glauben also doch, dass ich Herrn Briest getötet habe? Junger Mann, ich wünschte, ich hätte es getan, aber es steht mir nicht zu, über einen anderen Menschen in dieser Form zu richten. Und ja, auch wenn Sie offensichtlich keinen Durchsuchungsbefehl oder Ähnliches haben, können Sie einen Blick auf meine Waffen werfen.« Sie erhebt sich aus ihrem Sessel und bittet ihre Gäste, ihr in den Keller zu folgen. Ein Raum ist ganz der Jägerei gewidmet, mit Geweihen geschmückt und in den Regalen alles untergebracht, was ein Jäger braucht. Im hinteren Teil steht ein großer Stahlschrank, in dem drei Gewehre aufbewahrt sind. Sie holt aus ihrer Hosentasche die Schlüssel, die mit einer kleinen Kordel an ihrem Gürtel befestigt sind.
»Tragen Sie die immer bei sich?«, fragt Maria erstaunt.
Die alte Dame lächelt. »Ja. Gewehre und Munition müssen immer unter Verschluss sein, und auch der Schlüssel sollte an einem sicheren Ort verwahrt werden. Aber das wissen Sie sicherlich.«
Nachdem Erika Wagner die schwere Stahltür geöffnet hat, reicht sie Clemens das erste Gewehr. »Mit diesem hier habe ich gestern geschossen. Ich erwähne es nicht gern, aber ich war nicht erfolgreich.« Clemens betrachtet die Gewehre eingehend und bemerkt, dass alle gereinigt sind. Auf seine Nachfrage erklärt sie: »Ich mache das immer sofort. Eine alte Angewohnheit. Fernsehen, ohne etwas dabei zu tun, kann ich nicht. Entweder poliere ich Silber, putze Schuhe oder reinige meine Gewehre.«
»Mit wem waren Sie gestern auf der Jagd?«, meldet sich Maria zu Wort.
»Mit einem alten Freund, Freiherr von Clausen. Wir machen das in größeren Abständen regelmäßig, etwa dreimal im Jahr. Ich nehme nicht an, dass Sie ihn kennen?«
»Wer war noch dabei?«
»Zwei weitere Freunde von ihm, die ich auch schon seit Jahren kenne, ebenfalls ältere Herren. Herr von Clausen hat seine Jagd im Sauerland, lebt aber in Düsseldorf. Sie werden ihn bestimmt aufsuchen wollen, oder?«
Auch wenn Clemens für eine ballistische Untersuchung eigentlich eine richterliche Anordnung bräuchte, fragt er dennoch, ob er für kurze Zeit die Gewehre mitnehmen kann. Frau Wagner ist nicht erfreut, willigt aber ein. »Ich hätte die Waffen gern wieder in tadellosem Zustand zurück. Ist das in Ihrer Behörde möglich?« Clemens und Maria nicken gleichzeitig.
Nachdem sie wieder am Kamin sitzen, neben sich die eingepackten Gewehre, dreht sich die Vernehmung um das Alibi von Frau Wagner für den Freitagnachmittag. Sie berichtet knapp: »Um halb vier habe ich beim Italiener vorbeigeschaut, das Essen bestellt, dann einen ausgiebigen Spaziergang im Grafenberger Wald gemacht, um neunzehn Uhr war ich wieder zu Hause, und um halb acht kamen meine Freundinnen. Um zwanzig Uhr wurde das Essen geliefert.«
»Wo haben Sie das Essen bestellt?«
»In der Trattoria Baccala auf der Heinrichstraße. Sehr gute Küche. Gehen Sie dort mal essen, Sie werden begeistert sein.«
»Sind Sie im Wald jemandem begegnet?«
»Meine Liebe, bei dem scheußlichen Wetter? Nein, da war niemand.«
Ob sie immer so lange spazieren gehe, fragt Clemens, und Erika Wagner räumt ein, dass sie diesmal die größere Runde eingeschlagen habe, was eigentlich nicht geplant war, und dann habe sie noch vor dem herannahenden Unwetter flüchten müssen. Sie sei aber rechtzeitig zu Hause angekommen.
Auf dem Weg zur Haustür dreht sich Clemens noch einmal um: »Frau Wagner, gestatten Sie mir eine letzte Frage. Sie erwähnten Frau Hartmanns Bruder Sebastian. Wohnt der auch in Düsseldorf?«
»Das wissen Sie nicht? Nun, Sebastian ist nach dem Studium in den USA geblieben und kommt nur selten zu Besuch.«
»Was macht er denn beruflich?«, fragt Maria.
»Er ist Ingenieur und wird in der ganzen Welt eingesetzt.«
»Und wie ist das Verhältnis zwischen den Geschwistern?«
»Das sollten Sie vielleicht Frau Hartmann selbst fragen. Meiner Meinung nach verstehen die beiden sich sehr gut. Frau Hartmann hängt an ihrem älteren Bruder.«
»Haben die beiden viel Kontakt?«
Erika Wagner bemüht sich um Gelassenheit, aber man merkt ihr deutlich an, dass sie nichts mehr sagen möchte. »Das ist nicht nur eine Frage, Herr Hauptkommissar, sondern mehrere. Nochmals: Die beiden Geschwister hängen seit dem Tod der Eltern sehr aneinander. Und glauben Sie mir, Sebastian hat mit dem Mord an Herrn Briest nichts zu tun. Oder glauben Sie etwa, er hat sich heimlich nach Deutschland geschlichen, sich eine Waffe besorgt und im Wald herumgeschossen? Da wäre es nun wirklich wahrscheinlicher, dass ich dem Widerling aufgelauert habe.«
Auf dem Weg zum Auto lacht Maria laut auf. »Was für eine wunderbare Person!« Clemens starrt seine Kollegin entgeistert an. Er hat selten eine so eigensinnige Zeugin befragt und ist es gewohnt, dass die Menschen ihm, falls sie nichts Unrechtes getan haben, bereitwillig Auskunft geben. Aber Erika Wagner ist eindeutig eine Nummer für sich. Wortlos startet er den Wagen und fährt über die Grafenberger Allee Richtung Innenstadt.
»Wie schätzt du sie ein?« Clemens unterbricht die Stille. Er kann sich keinen Reim auf das Gespräch und die Aussagen von Frau Wagner machen.
»Schwer zu sagen. Entweder ist sie Zockerin und hat Nerven aus Stahl, oder es ist nur ein dummer Zufall, dass sie die Patentante von Frau Hartmann und von Marie und zugleich Jägerin ist.«
»An Zufälle glaube ich nicht, aber auf jeden Fall ist sie ein harter Brocken, liebenswürdig, mit Haaren auf den Zähnen. Und wenn du mich fragst, sagt sie grundsätzlich jedem, was sie denkt, auch wenn sie nicht gefragt wird.« Nun muss auch er schmunzeln.
»Dass sie uns ihre Waffen überlässt, ist sehr nett. Vielleicht weiß sie nicht, dass unsere Kriminaltechnik trotz des Reinigens einiges herausbekommen kann«, überlegt Maria.
»Die Waffen hätten wir so oder so bekommen. Aber vielleicht weiß sie mehr, als wir ihr zutrauen. Dass sie gestern mit dem Gewehr geschossen hat, macht es für Schoeller und seine Leute schwierig. Und ob Pia Cremer die große ballistische Untersuchung genehmigt, die ein Schweinegeld kostet, kann ich nicht einschätzen.«