Читать книгу Clemens von Bühlow Kollektion - Brigitte Lamberts - Страница 17
11.
ОглавлениеSonntag früher Abend Nordstraße. In den letzten Wochen hat Clemens seinen besten Freund Alexander Langenberg arg vernachlässigt. Er rief ihn immer nur dann an, wenn der Porsche mal wieder Streicheleinheiten brauchte. Doch jetzt freuen sie sich auf einen gemeinsamen Abend. Die beiden haben Abitur am Theodor-Fliedner-Gymnasium in Kaiserswerth gemacht und schon als Nachbarskinder im Kindergarten zusammen gespielt. Nach dem Wehrdienst haben beide in Trier studiert, Alexander Psychologie und Clemens Jura. Nach dem ersten Staatsexamen ging Clemens auf die Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW in Köln. Doch das ist schon einige Jahre her. Längst sind sie in ihre Heimatstadt zurückgekehrt, und Alexander hat mittlerweile eine eigene Praxis in Pempelfort.
Sie haben eine besondere Freundschaft, wie sie bei Männern nicht oft vorkommt. Clemens war Alexanders Trauzeuge, auch wenn die Ehe nur fünf Jahre gehalten hat. Und Alexander ist Clemens’ Vertrauter in privater, aber auch schon mal in beruflicher Hinsicht. Wenn Clemens seine Gedanken ordnen muss, dann tut er dies am liebsten mit Alexander, denn dessen messerscharfe Logik ist Gold wert. Heute ist es wieder so weit; gerade weil der Fall noch ganz frisch ist, will Clemens Alexanders Einschätzung hören.
Verabredet sind sie auf der Nordstraße im Casa Gustosa. Hier gibt es gute mediterrane Küche in gastfreundlicher Atmosphäre und zu erschwinglichen Preisen. So oft es geht, besuchen sie das Restaurant, werden immer persönlich vom Besitzer begrüßt und bekommen im hinteren Bereich des kleinen Lokals einen Tisch. Hier lässt es sich etwas abseits ungestört reden, auch wenn der eine oder andere Gast auf dem Weg zu den Toiletten an ihnen vorbei muss.
Auf der Schiefertafel sind mit Kreide die Tagesgerichte angeschrieben. Clemens kann seinen Blick nicht von der angebotenen Paella für zwei Personen nehmen.
Alexander schmunzelt: »Wieso Paella, ich dachte, bei deinem letzten Urlaub in Andalusien wärst du kulinarisch auf deine Kosten gekommen?«
»Hör bloß auf. In den Bergen habe ich zwar abseits vom Tourismus zwei wirklich gute Restaurants gefunden, aber an der Küste ein Reinfall nach dem anderen. Da habe ich die schlechteste Paella meines Lebens gegessen, und über die Tapas sag ich lieber gar nichts.«
»So schlecht?«
»Grauenhaft. Aber die Seezunge in den Bergen war einmalig. Der Fisch war so groß, dass er an beiden Seiten über den Tellerrand hinausragte, und so, wie er dalag, weiß ich nun, woher die Seezunge ihren Namen hat.«
Alexander lacht. Es ist eine Freude, mit anzusehen, wie Clemens’ Augen leuchten, wenn er von kulinarischen Abenteuern erzählt. Er ist eben ein wirklicher Gourmet, obwohl seine Kochkünste eher bescheiden sind. Zu Studienzeiten war er unglaublich ambitioniert. Fast jede Woche überraschte er Alexander mit einem neuen Gericht. Zugegebenermaßen unter erschwerten Bedingungen, da er nur ein kleines Appartement mit Kochnische hatte. Als Entschuldigung konnte das allerdings irgendwann auch nicht mehr herhalten, denn das Essen war meistens ungenießbar, und oftmals half nur noch der Pizza-Service.
Der Freund lässt Clemens noch ein bisschen zappeln, bis er großherzig verkündet: »Okay, du hast mich überzeugt. Ich verzichte auf meine Dorade.«
Alexander legt die Serviette beiseite und betrachtet Clemens, der sich die Finger mit einer Zitronenscheibe abreibt, sie anschließend in die kleine Wasserschale taucht und mit der Serviette abtrocknet. Sobald die Chance besteht, stilvoll und ohne Verletzung der Etikette mit den Händen zu essen, ist Clemens dabei. Andere mühen sich ab, mit Messer und Gabel die Gambas zu zerlegen, für den Hauptkommissar undenkbar. »Affig«, ist dann immer sein Kommentar, »mit den Fingern macht es nicht nur mehr Spaß, es schmeckt auch einfach besser.«
»Die Paella war ausgezeichnet«, verkündet Clemens zufrieden und nimmt noch einen Schluck von seinem mittlerweile zweiten Glas Wein – einem Camino del puerto, ein trockener, aber dennoch fruchtiger Weißwein.
Dann beginnt Clemens vom aktuellen Fall zu erzählen. »Wir haben noch nicht viel. Die kriminaltechnische Untersuchung braucht Zeit, geht halt nicht so schnell wie in den Fernsehkrimis. Auch mit den Befragungen stehen wir noch ganz am Anfang. Doch darum geht es mir heute nicht. Jetzt interessieren mich ganz allein deine spontanen Gedanken zu dem, was ich dir gleich erzählen werde.«
Clemens berichtet ausführlich über alle bisherigen Erkenntnisse, und Alexander Langenberg hört gespannt zu.
»Hört sich nach exakter Planung an«, bemerkt er.
Clemens überlegt. »Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich nur sagen, der Schuss war gekonnt und das Ausnehmen auch. Schoeller hat noch nicht einmal Faserspuren asservieren können und geht davon aus, dass der Täter bewusst Spuren vermieden hat. Aber er hatte auch Glück mit dem Wetter.«
Alexander unterbricht Clemens. »Wenn Briest jeden Tag zur selben Zeit gejoggt ist, dann kann der Mörder sich das Unwetter auch zunutze gemacht haben.«
Clemens blickt Alexander erstaunt an.
»Na ja. Der Deutsche Wetterdienst hat schon am Morgen eine Unwetterwarnung für den frühen Abend ausgesprochen.«
»Sicher?«
»Ganz sicher!«
»Ist ja interessant. Das würde bedeuten, der Mörder hat dies womöglich in seine Planung einbezogen.«
»Kann gut sein.«
»Der Mord am gleichen Tag wie der Freispruch – das kann auch anders interpretiert werden, als affektiver Ausbruch.«
»Meinst du wegen des Übertötens?«
»Nein, das auch wieder nicht. Du hast zwar recht. Nach der klassischen Definition liegt hier eine sogenannte Übertötung vor, denn der Mörder hat sich mit dem Tod des Opfers ja nicht zufriedengegeben. Aber an einen Blutrausch glaube ich nicht.«
»Du weißt schon, dass auch Täter in einen Blutrausch geraten können, die ihre Tat eiskalt geplant und gar nicht die Absicht gehabt haben, so überzureagieren?«
»Nein, nein. Das Ausnehmen ist anders motiviert!«
Es entsteht eine kurze Pause, und Clemens wartet gespannt auf Alexanders Entgegnung.
»Aber das könnte doch passen.« Alexanders Gesicht hellt sich auf. »Dass die Tat am Tag des Freispruchs geschah, ist für mich ein dramaturgisches Element, kein emotionaler Affekt, und das lässt sich auch auf die Art der Verstümmelung beziehen.«
Clemens spielt gedankenverloren mit seiner Serviette.
»Ich frage mich, ob ich eventuell auf einer völlig falschen Fährte bin, wenn ich davon ausgehe, dass der Mörder ein ausgebildeter Jäger ist.«
»Vieles spricht dafür. Denn meistens besinnen sich die Menschen auf das, was sie gelernt haben. Und dein Mörder ist intelligent, der scheint nichts dem Zufall zu überlassen. Es könnte natürlich auch sein, dass seine Planung gerade dies berücksichtigt. Wer sich mit der Jägerei nur ein bisschen beschäftigt, stößt schnell auf die Rituale. Aber wer kann gut schießen und dann noch bravourös mit einem Messer umgehen?«
»Es gibt Berufsgruppen, die mit dem Messer umgehen können. Ein Chirurg würde doch wohl eher ein Skalpell bevorzugen, oder?«, erwidert Clemens.
»Nicht unbedingt. Hier stellt sich die gleiche Frage wie bei den Brüchen, auch das könnte ein Ablenkungsmanöver sein. Was sagt denn der Gerichtsmediziner?«
»Für Hummel steht außer Frage, dass es ein scharfes Jagdmesser war und eine in der Gerichtsmedizin und in der Chirurgie gebräuchliche Rippenschere. Zudem wurde seiner Meinung nach sauber und ordentlich gearbeitet, mit einem Skalpell hätte es viel länger gedauert.«
»Wie sieht seine Einschätzung bezüglich der Kraftanstrengung aus?«, fragt Alexander nach.
»Man muss schon Kraft haben, aber das sollte nicht überschätzt werden. Mit der richtigen Technik kann man viel kompensieren.«
Clemens nimmt noch einen Schluck Weißwein und fährt sich mit der Hand über die Stirn. Für Alexander ein Indiz, dass sein Freund sich zu konzentrieren versucht.
»Schon am Tatort hatte ich das Gefühl, dass etwas nicht zusammenpasst. Weißt du, Brüche sind auch eine Form der Ehrerbietung an das tote Tier.«
»Ehrerbietung?« Alexander überlegt. »Das ließe sich ganz unterschiedlich deuten.« Wieder macht er eine Pause, dann schüttelt er den Kopf.
»Das bringt nichts, wir würden nur wild spekulieren. Ich glaube, es ist noch zu früh. Wichtig ist, dass du dir beider Optionen bewusst bist: Es kann ein Jäger sein, aber ebenso gut soll es so aussehen, als ob es ein Jäger gewesen ist. Wichtiger ist es, den Umgang mit dem Gewehr und den Umgang mit dem Messer zusammen zu sehen. Wenige können beides, und das spricht eher für einen Jäger. Aber auch ein Metzger oder Chirurg kann Sportschütze sein.«
Alexander muss über seinen letzten Satz lächeln. Clemens kennt das. Alexander amüsiert sich über seine eigenen witzigen Bemerkungen immer am meisten. Doch diesmal zieht Clemens ihn nicht auf, sondern bleibt beim Thema.
»Eine Frage habe ich noch. Was glaubst du als Psychologe, ist es eine Frau oder ein Mann?«
»Jetzt stell dein Wissen nicht unter den Scheffel. Du weißt selbst, dass die Frauenquote bei Mord- und Totschlagversuchen gerade einmal bei drei Prozent liegt, also statistisch gesehen eher ein Mann als eine Frau infrage kommt. Aber das ist ein Rechenspiel mit Wahrscheinlichkeiten. Es könnte auch eine Frau gewesen sein, zwar eher unwahrscheinlich, aber möglich. Auch hier musst du es dir offen halten. Dazu hast du noch zu wenig.«
Alexander streicht über sein Kinn. Eine Geste, die Clemens verrät, dass sein Freund mit seinen Gedanken noch nicht zu Ende ist.
»Was gegen eine Frau spricht, ist natürlich die extreme Form der Gewalt, die Verstümmelung der Geschlechtsteile, vor allem das Öffnen des Brust- und Bauchraumes und die Entnahme der Organe. Auf den ersten Blick könnte man dieser Art der Verstümmelung eine sexuelle Motivation zugrunde legen«, denkt Alexander laut nach.
Nun schüttelt Clemens heftig den Kopf. »Unbändige Wut, Hass, das ja, aber kein Akt der sexuellen Befriedigung und auch keine Entmenschlichung des Opfers. Der Zusammenhang besteht darin, dass das Opfer als Missbrauchstäter angeklagt war und freigesprochen wurde. Die Verstümmelung der Genitalien ist Schuldspruch und Strafe zugleich. Das Aufbrechen hingegen ist anders motiviert.«
»Und wie?«, will Alexander wissen.
»Vorerst sehe ich das als Ritual.«
»Also gibst du mir recht. Es hat mit der Dramaturgie der Tat zu tun.«
»Ja und nein. Da verbirgt sich mehr dahinter.«
Clemens greift nach seinen Zigaretten und blickt Alexander an. Der nickt ihm zu, sie erheben sich und gehen vor die Tür. Kaum hat er einen tiefen Zug genommen, gibt Alexander zu bedenken: »Normalerweise sind starke Verstümmelungen ein Indiz dafür, dass Täter und Opfer sich kannten.«
»Da bin ich mir sicher. Jacques Briest war kein Zufallsopfer. Aber in welchem Verhältnis der Täter zu seinem Opfer gestanden hat, da habe ich noch überhaupt keinen Schimmer.« Clemens überlegt kurz. »Noch was. Die ordentlich zusammengelegten Kleider, was hältst du davon?«
»Auf jeden Fall braucht es nicht jemand zu sein, der privat ausgesprochen ordentlich ist. Eher jemand, der im Beruf auf Präzision und Genauigkeit Wert legen muss. Es hängt vielmehr mit der Planung und der Architektur des Mordes zusammen. Alles ist minutiös durchdacht, nichts oder nur wenig wird dem Zufall überlassen. Und dazu gehört auch das ordentliche Zusammenlegen der Kleidung. Du sprachst vom Ausbluten. Lässt man nicht Schweine ausbluten, oder verwechsle ich da etwas?«
»Anzunehmen, dass der Täter durch das Ausbluten die Sauerei etwas begrenzen wollte«, wirft Clemens ein, schaut sich um und zerdrückt seine gerade einmal halb gerauchte Zigarette im Aschenbecher, der vor dem Eingang steht.
»Komm, lass uns wieder reingehen, es ist ziemlich kühl geworden.«
»Da kommen jetzt im Winter schwere Zeiten auf dich zu.« Alexander grinst.
Als sie wieder am Tisch sitzen, erkundigt sich Alexander nach dem zuständigen Staatsanwalt. Da er häufig mit psychologischen Gutachten für die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft beauftragt wird, kennt er einige Kollegen von Clemens und natürlich auch die Staatsanwälte.
»Pia Cremer«, antwortet Clemens knapp.
»Da hast du aber Glück, die ist kompetent, engagiert, bereit, auch mal ein Risiko einzugehen, und sehr angenehm im Umgang.«
»Ja, ich bin auch heilfroh.« Clemens genießt einen weiteren Schluck Weißwein. »Sie scheint Privates und Berufliches strikt zu trennen.«
Alexander zieht eine Augenbraue hoch. »Hat sie dich abblitzen lassen?«
»So könnte man es nennen. Bei unserem letzten gemeinsamen Fall wollte ich sie – wirklich nur unter Kollegen, wir kamen gerade aus der Gerichtsmedizin – auf einen Drink einladen. Charmant, aber energisch hat sie mir einen Korb gegeben.«
»Da warst du aber mutig.«
»Wieso?«
»Ich wüsste niemanden aus ihrem beruflichen Umfeld, zu dem sie privat Kontakte pflegt.«
»Sag bloß, du hast es auch schon mal versucht.«
»Du kennst mich doch. Vor mir ist keine gut aussehende Frau sicher.«
»Du bist also auch abgeblitzt!«
Alexander spielt den Empörten. Doch dann zuckt er mit den Schultern und gibt es lachend zu.
Clemens lacht mit und entschließt sich, bei der nächstbesten Gelegenheit einen zweiten Versuch zu starten, auch wenn der peinliche Zusammenstoß von heute Morgen ihm garantiert keine Pluspunkte eingebracht hat.
Clemens schaut auf seine Armbanduhr. »Wir sollten langsam aufbrechen, es ist schon recht spät geworden.« Alexander nickt. Eigentlich wäre er gern noch etwas geblieben, aber morgen um acht hat er schon seinen ersten Patienten, und da muss er hellwach sein. Sie bezahlen und verabschieden sich vom Restaurantbesitzer. Clemens begleitet Alexander ein Stück die Nordstraße hinunter, zieht noch schnell einen Parkschein für den nächsten Tag und holt die Gerichtsakten aus dem Kofferraum seines Autos.
Ehe sich Alexander versieht, ist Clemens schon auf die Duisburger Straße gesprungen und hat sich das einzig herannahende Taxi geangelt. Nachdem er die Autotür geöffnet hat, dreht er sich nochmals zu Alexander um, winkt ihm zu und verschwindet im Taxi. Schon seit Jahren ist er seinem Grundsatz treu, nie selbst zu fahren, auch wenn er nur ein Glas Alkohol getrunken hat.