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6.

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Samstag früher Abend Golzheim. In nur wenigen Minuten erreichen die beiden Hauptkommissare über das Josef-Beuys-Ufer und die Cecilienallee Golzheim. Die ehemalige Schlageter-Stadt, heute als Teil der Golzheimer Siedlung bekannt, wurde 1937 konzipiert und von den Nationalsozialisten nach dem 1923 hingerichteten Freikorps-Kämpfer Albert Leo Schlageter benannt, der gegen die französischen Besatzungstruppen gekämpft hatte. Die kleinen Einfamilienhäuser, idyllisch gelegen in unmittelbarer Nähe zum Rhein, standen damals fast ausschließlich der »besseren« Gesellschaft offen. Auch heute sind die weißen Häuser sehr begehrt, denn sie sind solide gebaut und haben Charme. Hier wohnt Senta Hartmann in der Leo-Statz-Straße.

Das Haus ist hell erleuchtet. Als Clemens und Maria klingeln, bleibt bis auf das Gekläff eines Hundes alles still. Sie gehen seitlich am Haus vorbei in den Garten und schauen ins Wohnzimmer, auch hier ist Licht in den Räumen zu sehen. Zurück auf der Straße, werden sie von einem Nachbarn angesprochen. »Darf ich fragen, was Sie bei Frau Hartmann zu suchen haben?«

Maria stellt sich und Clemens kurz vor. Sie erfahren, dass Senta Hartmann nicht zu Hause ist, denn sie hat freitags und samstags, manchmal auch sonntags, ihren Liederabend im Petit Salon in der Adersstraße. Clemens fragt erstaunt, ob sie trotz Abwesenheit immer das Licht brennen lasse. Freundlich erwidert der ältere Herr, dass dies ihre Strategie der Einbruchsbekämpfung sei.

Clemens und Maria steigen erneut in ihren Dienstwagen, einen unauffälligen VW-Passat, um diesmal quer durch die Stadt Richtung Hauptbahnhof zur Adersstraße zu fahren. Wie überall in der City ist die Parkplatzsituation verheerend. Clemens fällt es immer noch schwer, sich – wie er findet – rücksichtslos in die zweite Reihe zu stellen, eine Angewohnheit, die typisch für die Düsseldorfer ist. Eine andere Variante ist, die Parklücke nur halb zu nutzen. Maria ist da ganz anders. Sie kann ohne Probleme in Einfahrten halten oder Autos blockieren, und – das ist besonders ärgerlich – sie bekommt fast immer einen Parkplatz.

»Man muss sich den nur bildlich vorstellen, natürlich nicht einfach so, sondern schon da, wo man ihn haben will«, ist Marias gängige Erklärung für dieses Phänomen.

»Blödsinn«, antwortet Clemens jedes Mal. Aber es ist schon merkwürdig, dass er fast nie, sie aber ganz oft eine Lücke findet. Nicht ohne Grund leistet sich der Hauptkommissar einen Tiefgaragenplatz zu seinem Appartement. Wie oft ist er hundemüde bis zu einer halben Stunde im Viertel herumgekurvt auf der Suche nach einem regulären Parkplatz. Und dabei geht es im Hafen noch, die vielen Restaurant- und Kneipenbesucher fahren irgendwann nach Hause. Aber in anderen Vierteln wie Bilk oder Pempelfort, ganz zu schweigen von Oberkassel, geht gar nichts. Immer wenn Maria ihn aufzieht, muss er an einen weniger ruhmreichen Kampf mit einer Parklücke denken. Da hatte er sich voller Selbstbewusstsein millimetergenau, obwohl sein alter Porsche keine Servolenkung hat, in eine Parklücke manövriert, um dann festzustellen, dass definitiv zehn Zentimeter zum Erfolg fehlten. Diese Aktion hat sich in sein Gedächtnis eingebrannt, denn an der Zerrung im Rücken hat er noch lange Freude gehabt. Diesmal bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich halb auf den Bürgersteig zu stellen.

Der Petit Salon ist in einem zweistöckigen, kastenartigen Haus untergebracht. Von außen ist nichts Besonderes zu sehen. Doch im Hof steht eine alte, gut dreißig Meter hohe Kastanie, die mit zahlreichen Lichterketten geschmückt ist und atemberaubend leuchtet. Sie wählen den offiziellen Eingang, nicht die moderne, seitliche Außentreppe, die eher als Notausgang dient. Das alte Treppenhaus mit Holzstufen, die bei jedem Schritt knarren, ist in warmes Licht getaucht und mit Kerzen und roten Plastikrosen dekoriert. Als sie im ersten Stock ankommen, verstärkt sich die anheimelnde Atmosphäre, viel Rosen, viel Plüsch, viel Rot und Gold.

Am Eingang zum Salon treffen sie auf Pascal Schmitz, den Besitzer. Nachdem sie sich vorgestellt haben, bittet er sie, sich die letzte Viertelstunde des Programms anzuschauen, dann könne er sie zu Frau Hartmann bringen. Clemens und Maria nehmen gleich an der Tür in zwei barocken Sesseln Platz. Drei Zugaben ringt der anhaltende Applaus Senta ab. Bei der letzten Zugabe, ›Lili Marleen‹, läuft Clemens ein Schauer über den Rücken, als er sich vorstellt, wie des Nachts kurz vor dem Zapfenstreich alle Soldaten des Zweiten Weltkriegs diesem Lied gelauscht haben, egal welcher Nation sie angehörten und egal an welcher Front sie kämpften. Lale Anderson machte das Lied berühmt, und nach 1944 wurde es auch von Marlene Dietrich gesungen, dem Star der US-amerikanischen Truppen. Beeindruckt muss er sich eingestehen, dass er für kurze Zeit dachte, dort auf der Bühne stünde die wahre Marlene Dietrich. Der abschließende Applaus gibt ihm Zeit, sich zu fassen. Schon taucht Pascal neben ihnen auf und geleitet die Hauptkommissare in sein Büro, das zugleich Senta Hartmanns Garderobe ist.

Ihre Befragungen verlaufen eingespielt. Entweder Maria Esser beginnt und Clemens von Bühlow wird zum genauen Beobachter oder umgekehrt. Nach kurzer Zeit wechseln sie die Rollen und zwingen so die Befragten, sich immer wieder neu auf eine andere Person und eine andere Art der Befragung einzustellen.

Diesmal übernimmt Clemens die Aufgabe, Senta Hartmann die Nachricht des gewaltsamen Todes ihres Ex-Mannes zu überbringen. Völlig entgeistert nimmt sie die Mitteilung auf. Sie starrt Maria und Clemens mit aufgerissenen Augen an. Keine Regung, kein Anzeichen dafür, dass sie verstanden hat. Dann löst sich langsam die Starre. Die zuvor krampfhaft ineinander verschränkten Hände gleiten auseinander, fahrig streicht sie mit den Händen über ihr Abendkleid.

»Wo waren Sie am Freitag zwischen vierzehn und zwanzig Uhr?«, fragt Maria.

Unkonzentriert antwortet Senta Hartmann in kurzen Sätzen. »Freitag hatte ich hier Generalprobe. Bin um neunzehn Uhr eingetroffen.«

»Was haben Sie vorher gemacht?«, hakt Clemens nach.

»Bis zwölf Uhr war ich bei Gericht. Dann war ich zu Hause.«

»Die ganze Zeit?«

»Ich war mit dem Hund draußen, habe gegessen und mich hingelegt.«

»Und nach der Generalprobe?«, will Clemens wissen.

»Die Generalprobe dauerte bis dreiundzwanzig Uhr, dann waren Herr Schmitz und ich noch im Bogletti. So gegen zwei war ich wieder zu Hause.«

»Sie nehmen die Nachricht recht gefasst auf«, bemerkt Maria.

Zum ersten Mal blickt Senta Hartmann sie direkt an.

»Wenn Sie wüssten, was er meiner Tochter und mir angetan hat, würden Sie das verstehen.«

»Wir müssen Sie bitten, uns in die Gerichtsmedizin zu begleiten, auch wenn es spät ist, aber ich will absolute Gewissheit haben. Morgen kommen Sie dann bitte um zehn Uhr ins Präsidium.«

Vom Salon zu den Unikliniken ist es nicht weit, und so dauert es keine fünfzehn Minuten, bis Clemens von Bühlow mit dem Wagen von der Moorenstraße auf das Gelände der Düsseldorfer Universität einbiegt. Nachdem sie die Schranke passiert haben, fährt er den spärlich beleuchteten Weg zwischen den alten Häusern entlang, bis er vor einem mit Efeu zugewachsenen Haus anhält. Die Katakomben des Rechtsmedizinischen Instituts am hellen Tag aufzusuchen, ist schon merkwürdig genug, aber in der Nacht ist es unheimlich. Clemens drückt auf die Klingel. Es dauert nicht lange, und der diensthabende Gerichtsmediziner, Dr. Lukas Schwert, öffnet leicht verschlafen die Tür. Für Clemens ist es unverständlich, wie man hier auch nur ein Auge zubekommt. Senta war noch nie in der Gerichtsmedizin. Der Geruch, ein Mix aus Desinfektionsmitteln und Formalin, verbunden mit einem süßlichen Fäulnis- und einem muffigen Verwesungsgeruch, der sich in die alten Mauern eingefressen hat, nimmt ihr sofort den Atem.

Dr. Schwert führt sie einen langen Gang entlang, vorbei an einem großen Sektionssaal, dessen Notbeleuchtung fünf nebeneinanderstehende Sektionstische erkennen lässt. Am Ende des Ganges gelangen sie in einen bis zur Decke weiß gekachelten Raum, an dessen Stirnseite die Toten in ausziehbaren Schubladen aufbewahrt werden. Doch Clemens hat vorgesorgt und darum gebeten, dass der Tote in der Kapelle aufgebahrt wird, die sie gerade erreichen. Behutsam schlägt der Gerichtsmediziner das Laken so vom Gesicht des Toten, dass man die Kopfwunde nicht sehen kann. Senta schaut kurz hin, wendet sich ab, atmet einmal durch und betrachtet das Gesicht dann etwas länger. Langsam nickt sie, schaut kurz zu Clemens hinüber, dreht sich um und geht eilig zurück zum Ausgang.

Als Maria und Clemens das Gebäude verlassen, sitzt Senta Hartmann auf einer der Parkbänke vor dem Gerichtsmedizinischen Institut. »Bitte bringen Sie mich nach Hause. Ich fühle mich nicht wohl.«

Auf dem Weg nach Golzheim lassen Clemens und Maria die Sängerin erst einmal in Ruhe. Sie hat sich erschöpft in den Rücksitz fallen lassen. Plötzlich fragt sie: »Sind Sie sicher, dass er umgebracht wurde?«

»Ja, alles spricht dafür«, erwidert Clemens.

»Wie ist es passiert?«

»Er wurde im Grafenberger Wald erschossen.«

»Wann?«

»Freitag, der genaue Todeszeitpunkt steht noch nicht fest.«

»Deswegen die Frage, wo ich war.«

»Ja. Und auch wenn es sich abgedroschen anhört, aber wir müssen diese Frage stellen.« Maria dreht sich zu der Sängerin um und schaut in ein paar funkelnde Augen. »Als wenn ich nicht schon genug durchgemacht hätte. Wenn man Hilfe braucht, ist niemand da, auch von der Polizei nicht.«

Wütend rüttelt sie am Beifahrersitz. »Eine Zumutung, mich hierher zu bringen und dann auch noch des Mordes zu verdächtigen.« Dann bricht sie in lautes Schluchzen aus. Maria blickt zu Clemens hinüber, der ihr mit einer Handbewegung zu verstehen gibt, Senta Hartmann erst einmal sich selbst zu überlassen.

So überraschend sie die Beherrschung verloren hat, so schnell hat sie sich wieder im Griff. Sie räuspert sich kurz. »Ich habe meinen Ex-Mann nicht umgebracht.«

Maria versucht erneut einen Vorstoß, in der Hoffnung, nicht gleich wieder für eine sehr emotionale Darbietung verantwortlich zu sein.

»Was meinten Sie damit, keine Hilfe bekommen zu haben?«

»Was glauben Sie, wie oft ich mit meiner Tochter Marie bei der Kinderschutzambulanz zur therapeutischen Diagnostik war. Keiner konnte oder wollte mir helfen. Immer wieder musste ich mich gegen die Verdächtigungen wehren, ich hätte weggeschaut, womöglich meinen Ex-Mann geschützt oder würde nur Rache an ihm nehmen wollen.«

»Wieso hat die Diagnostik nichts erbracht?«, will Maria wissen.

»Weil Marie zu dem Zeitpunkt noch nicht gesprochen hat. Sie ist ja stark entwicklungsverzögert. Erst bei der Zweitdiagnostik vier Jahre später fand man heraus, dass Marie eine massive Angst vor ihrem Vater hat. Damals war man sich schon zu achtzig Prozent sicher, dass ein Missbrauch durch den Vater stattgefunden hat. Doch das Einzige, was ich erreichen konnte, war, dass er nur noch betreuten Umgang bekam.«

»Und warum haben Sie keine Anzeige erstattet?«

Bevor Senta antworten kann, erklärt Clemens die vielen Fragen, denn er bemerkt, dass Senta wieder kurz davor ist, ihr emotionales Gleichgewicht zu verlieren.

»Wir hatten noch keine Zeit, die Gerichtsakten zu studieren. Verstehen Sie unsere Fragen daher bitte nicht falsch.«

»Ich habe ja Anzeige erstattet, aber meine Anwältin hat mir damals geraten, sie wieder zurückzunehmen. Marie war einfach noch zu klein. Wenn es zum Verfahren gekommen wäre und wenn mein Ex-Mann freigesprochen worden wäre, hätte die Gefahr bestanden, dass er wieder Umgang mit Marie bekommt, oder man hätte mir womöglich das Sorgerecht entzogen.«

»Wann kam es dann zur Anzeige?«

»Viele Jahre später, als Marie achtzehn war. Sie lebt seit 2003 in einem Heim. In Begleitung einer Betreuerin hat sie vor zwei Jahren ihren Vater wegen sexuellem Missbrauch angezeigt.«

Mittlerweile haben sie das Haus von Frau Hartmann erreicht. Diese verabschiedet sich von den Kommissaren. Sie wirkt ruhiger, wenn auch immer noch etwas fahrig, und sehr erschöpft. Als Clemens sie an den morgigen Termin im Polizeipräsidium erinnert, nickt sie unmerklich und geht ohne ein weiteres Wort den kurzen Weg durch den Vorgarten. Kaum hat sie den Schlüssel ins Schloss gesteckt und die Haustür geöffnet, bricht ein Blitzlichtgewitter los. Maria stürzt aus dem Auto und rennt auf Senta Hartmann zu, die fassungslos zu den Fotografen auf der anderen Straßenseite hinüberblickt. Rasch fasst sie Senta an der Schulter, schiebt sie ins Haus und knallt die Tür zu. Auch Clemens ist losgelaufen, in Richtung Blitzlichter, doch die Fotografen sind schon ein gutes Stück entfernt. Kopfschüttelnd bleibt der Hauptkommissar stehen. Auch wenn er die letzten Jahre seine Fitness etwas vernachlässigt hat, ist er immer noch sportlich und keineswegs so schnell abzuhängen. Aber der Vorsprung ist zu groß. Er holt sein Handy aus der Manteltasche und ruft die Polizeiinspektion Nord an, sie ist zuständig für den Stadtteil Golzheim. Dann klingelt er bei Senta Hartmann. Kaum ist er eingetreten, kommt ihm ein quirliger Cairn-Terrier entgegengelaufen und springt an ihm hoch. Clemens begrüßt den Hund ausgiebig, er liebt Tiere und bedauert es sehr, keine Zeit für einen Hund zu haben.

»Darf ich vorstellen, das ist Rudi«, bemerkt Maria lächelnd.

»Nicht gerade ein Wachhund«, konstatiert Clemens und gibt Rudi einen letzten Klaps auf das Hinterteil.

Senta, die sich wieder etwas beruhigt hat, kommt aus dem Wohnzimmer. »Dürfen die das, einfach fotografieren?«

»Nein, natürlich nicht. Wenn Personen auf einem Foto erkennbar sind, ist eine Veröffentlichung ohne deren Zustimmung als Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht zu verstehen und strafbar.« Clemens geht einige Schritte ins Wohnzimmer und schaut durch das große Fenster in den Garten. »Ich würde Ihnen raten, heute Nacht an allen Fenstern die Jalousien herunterzulassen. Sollte es an der Tür schellen, öffnen Sie erst, wenn Sie sicher sind, dass Sie die Person kennen. Und ich habe soeben veranlasst, dass jede halbe Stunde eine Streife an Ihrem Haus vorbeifährt und kontrolliert. Sie brauchen sich also keine Sorgen zu machen.«

Rudi begleitet die Beamten bis zur Tür und genießt es, von beiden nochmals gestreichelt zu werden.

Im Wagen herrscht Stille, es ist spät geworden.

Maria unterbricht Clemens’ nachdenkliches Schweigen. »Und was ist, wenn die Fotos morgen in den Boulevardmedien auftauchen?«

»Das glaube ich nicht, dazu war es schon zu spät. Aber wir müssen uns etwas einfallen lassen. Mönnekes soll morgen früh den persönlichen Kontakt zu den infrage kommenden Chefredakteuren aufnehmen.« Clemens schaut kurz zu Maria hinüber. »Du hast sie ja recht schnell beruhigen können.«

»Nun ja«, antwortet Maria einsilbig und schaut aus dem Fenster.

»Wie wirkte sie auf dich bei der Befragung?«

»Anfangs relativ gefasst, aber diese Entgleisung war wirklich bühnenreif. Ich kann das nur schwer einschätzen. Als Sängerin mit Schauspielausbildung könnte sie uns auch ganz gut etwas vormachen.«

Clemens überlegt. »Als sie den Toten das zweite Mal betrachtete, lag so viel Traurigkeit in ihren Augen, das war nicht vorgetäuscht.«

Maria wiegt leicht den Kopf hin und her, sie teilt die Einschätzung ihres Kollegen nicht.

Clemens schaut sie an. »Morgen fragen wir mal genauer nach, denn die Angaben zum Tagesablauf der Hartmann reichen nicht aus. Und wir sollten uns die Prozessakten ansehen.«

Clemens von Bühlow Kollektion

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