Читать книгу Clemens von Bühlow Kollektion - Brigitte Lamberts - Страница 11
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ОглавлениеSamstag später Nachmittag Polizeipräsidium. Clemens von Bühlow steht am Fenster des großen Besprechungsraumes und blickt in die Dämmerung. Die Lichter des Rheinturms, die roten Flugsicherungsleuchten und die weiß blinkenden Anzeigen der Dezimaluhr sind schon gut zu erkennen. In Gedanken versunken, schrickt er zusammen, als sein Kollege Otto Kreutz die Tür aufstößt. »Was machst du denn hier im Dunkeln?« Das Licht der Neonröhren verteilt sich im Raum, weitere Kollegen treffen ein, setzen sich und greifen sofort nach den Getränken, die Clemens für seine Leute in der Kantine bestellt hat.
Vor gut einer halben Stunde hat Kriminalrat Kreutz seinen Leitenden Ermittler über die Zusammenstellung des Teams informiert, Clemens kann mehr als zufrieden sein. Eine bewährte Mannschaft, wenn auch wie gewohnt unterbesetzt. Doch Clemens vertraut seinem Chef, im Notfall hat der es bisher immer geschafft, weitere Kollegen aufzutreiben.
Clemens begrüßt das neue Team mit Handschlag: zuerst Oberkommissar Christian auf der Heide, den man von der Bereitschaft abgezogen hat. Der junge Familienvater mit seinen zerzausten blonden Haaren und den meist ungebügelten Hemden wirkt immer in Eile. Dann Hendrik Flemming, der Recherche- und Computerexperte, zugleich zuständig für die Dokumentation aller eingehenden Informationen. Clemens kann sich ein Lächeln nicht verkneifen. Ein ehemals gefürchteter Hacker, den er und Kreutz für den Polizeidienst »abgeworben« hatten und der sich erstaunlich gut zurechtfindet mit allem. Dann betritt Maria Esser den Besprechungsraum. Sie kann sich ohne Probleme zurücknehmen und versteht es doch, sich geschickt durchzusetzen. Die Spurensicherung wird vertreten durch Armin Schoeller, genannt der »Grantler«. Zwar ist er immer schlechter Laune und sehr schnell eingeschnappt, aber er hat sein Team gut im Griff und ist einer der erfahrensten Kriminaltechniker in Nordrhein-Westfalen. Zuletzt kommt der Polizeisprecher durch die Tür. Jochen Mönnekes ist ein smarter 35-Jähriger mit schwarzer Brille und gegelten Haaren. Er könnte auch im mittleren Management einer Landesbank zu Hause sein. »Unser Presseyoungster«, wie er von den Kollegen genannt wird, sieht sich gerne im Rampenlicht stehen und pocht ständig auf die Verantwortung der Staatsanwaltschaft und der Polizei, die Öffentlichkeit zeitnah zu informieren, was für ihn heißt: sofort.
Wie Clemens erfahren hat, wurde die Leiche zur Obduktion in die Verantwortung des Gerichtsmediziners Dr. Wolfgang Hummel gegeben, er ist der beste, den Düsseldorf zu bieten hat.
Das Neonlicht ist grell und lässt den wenig einladenden Raum noch abweisender erscheinen als tagsüber. Die kleinen Fenster wirken wie schwarze Löcher, und der überdimensional große Konferenztisch mit zahlreichen Stühlen, allesamt Überbleibsel aus den 1960er-Jahren, nimmt fast den ganzen Raum ein. Lediglich der Beamer, der von der Decke hängt, der Laptop und die große Präsentationswand an der Schmalseite des lang gezogenen Raumes sind neueren Datums.
Clemens begrüßt die Runde und bittet um Geduld, denn die Oberstaatsanwältin Pia Cremer ist noch nicht da.
Doch Mönnekes legt schon los und fordert eine große Pressekonferenz, und zwar so schnell wie möglich. Schließlich habe sich der Fund der Leiche schon herumgesprochen. Außerdem sei die Presse fast zeitgleich mit den Polizisten am Fundort eingetroffen.
»Wir schauen erst einmal, was wir bisher haben«, versucht Clemens, ihn in Schach zu halten. Mönnekes jedoch lässt sich nicht einfach beiseiteschieben und kontert lautstark. Clemens, eigentlich ruhig und besonnen, will gerade seine Stimme erheben und den Polizeisprecher in seine Grenzen weisen, da trifft Pia Cremer ein. Alle Augen richten sich auf die Eintretende. Sie ist Anfang 40, sehr schlank, hat kurze blonde Haare, ist stets klassisch gekleidet und mit einem einnehmenden Wesen ausgestattet. Es ist nicht das erste Mal, dass Clemens mit ihr zusammen an einem Fall arbeitet, und bis auf die üblichen Rangeleien sind sie bisher immer gut miteinander ausgekommen. Da sind andere Staatsanwälte oft schwieriger.
Clemens klopft auf den Tisch und beginnt: »Vorab kann ich euch eins versprechen: Das hier ist einer der spannendsten Fälle, die wir je gehabt haben. Noch steht die Identität des Opfers nicht fest. Es liegt auch keine passende Vermisstenanzeige vor. Deswegen müssen wir es anders probieren. Ich fasse jetzt die ersten Ergebnisse der Leichenschau zusammen.« Der Hauptkommissar schaut in sein Notizbuch.
»Bei der Leiche handelt es sich um einen Mann zwischen 48 und 54 Jahren, er ist gut durchtrainiert, hat ein markantes Gesicht, Geheimratsecken und beginnende Glatze, die Kopfhaare sind ganz kurz rasiert, er ist 1,80 Meter groß, dazu gepflegte Hände. Es ist anzunehmen, dass er keiner körperlich schweren Arbeit nachgegangen ist. Sein Gebiss ist in gutem Zustand, er scheint regelmäßig zur Zahnvorsorge gegangen zu sein.« Ein Blick hinüber zu Flemming signalisiert diesem, Kontakt zu Zahnärzten aufzunehmen. Mithilfe des Zahnstatus die Identität eines Toten herauszufinden, ist zwar aufwendig, aber die letzte Möglichkeit, wenn die anderen Methoden erfolglos sind. »Das endgültige Ergebnis der Obduktion liegt noch nicht vor, frühestens heute Abend können wir mit weiteren Fakten rechnen. Fest steht, dass unser Opfer durch einen Kopfschuss getötet wurde.« Clemens räuspert sich und spricht dann konzentriert weiter: »Die Kopfwunde wurde manipuliert, die Patrone entnommen und der Einschusskanal verstümmelt. Das Ausnehmen wurde post mortem ausgeführt, ebenso das zumindest teilweise Ausbluten der Leiche. Schnittwunden am Hals, an den Handgelenken und in der Leiste sind so ausgeführt, dass möglichst viel Blut herausfließen konnte. Bei der Masse, die wir neben der Leiche gefunden haben, handelt es sich um organische Substanzen, aller Wahrscheinlichkeit nach um die Organe des Opfers. Sie sind allerdings durch Tierfraß arg mitgenommen.« Das Team hört aufmerksam zu. Schon in dieser ersten Phase der Ermittlungen zählt jedes Detail.
»Dr. Hummel bestätigt die Einschätzung des Gerichtsmediziners vor Ort, grenzt aber den vorläufigen Todeszeitpunkt auf Freitag, also gestern, zwischen vierzehn und zwanzig Uhr ein. Armin, machst du bitte weiter?«
Schoeller, der kleine Kriminaltechniker, setzt sich schwungvoll seine Lesebrille auf und schaut kurz in seine Unterlagen.
»Nach den Spuren zu urteilen, wurde der Leichnam vom Weg der Lichtung über eine Grasnarbe in die etwa zwei Meter tiefe Mulde gerollt. Habe mich mit Hummel kurzgeschlossen. Schürfwunden und leichte Post-mortem-Prellungen an der Leiche bestätigen dies. Der Tote wurde entkleidet, die Sachen wurden ordentlich zusammengelegt und neben der Leiche platziert. Zudem war der Tote mit kleineren Ästen, na ja, ich sage mal ›geschmückt‹. Jogginganzug, Turnschuhe, Socken und Unterwäsche sind keine Markenfabrikate und können bei jedem Discounter gekauft worden sein. Anders der MP3-Player, ein iPod von der teuren Sorte, der neben der Leiche gelegen hat. Falls es jemanden interessiert, es war Wagner programmiert.«
Er macht eine kurze Pause und schiebt seine Lesebrille, die während seines Vortrags gefährlich weit nach vorne gerutscht ist, nach oben.
»Weder bei den Sachen noch im Umkreis der Leiche wurden irgendwelche Papiere gefunden, die uns helfen, die Identität des Opfers zu klären. Lediglich ein Schlüsselbund steckte in einer Tasche der Jogginghose, mit zwei Schlüsseln. Nachgemachte Schlüssel, deren Rohlinge Standardware sind, werden in jedem Schnellservice für Schuhreparatur und Schlüsseldienst verwendet. Verwertbare Spuren am Tatort sind durch den starken Regen nicht so üppig. Das wird dauern, bis wir hier zu handfesten Ergebnissen kommen. Dennoch konnten wir Schuhabdrücke sichern, wenn auch allesamt nur Fragmente. Sie ergeben ein Profil von Wanderschuhen Größe 43. Das Profil wird an der Ferse und an der Fußspitze undeutlicher, kann sein, dass die Schuhe dem Täter zu groß waren. Der Mörder schoss vom Hochsitz aus, dort wurden die gleichen Schuhabdrücke gefunden, auch Schmauchspuren. Wie es aussieht, hat der Schütze die Schusswaffe auf der Brüstung abgestützt. Mehr lässt sich zurzeit noch nicht sagen.«
Maria meldet sich zu Wort. »Habt ihr auf dem Hochsitz oder in der näheren Umgebung keine Patronenhülse gefunden?«
»Nein, nichts. Die Kollegen haben alles abgesucht. Sonst hätte ich es ja erwähnt. Vermutlich hat der Täter die Hülse eingesteckt«, grantelt Schoeller zurück und blickt kurz auf seine Armbanduhr.
Maria kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Der Kriminaltechniker kämpft entweder mit seiner Brille, oder er schaut auf die Uhr. Für einen technisch so versierten Mann dürfte es eine Kleinigkeit sein, die Schrauben an seiner Brille wieder fest anzuziehen.
Clemens bedankt sich bei Schoeller und weist darauf hin, dass die Identifizierung der Leiche oberste Priorität hat. Er bittet Hendrik Flemming, die Fingerabdrücke des Toten durch das System zu jagen. Maria spricht nochmals die lange Zeitspanne des angenommenen Todeszeitpunktes an.
»Das wird so oder so schwierig. Dadurch, dass die Leiche ausgenommen wurde, ist sie auch schneller ausgekühlt, und der Regenguss macht die Bestimmung nicht leichter«, erwidert Clemens und schaut nun zu Pia Cremer hinüber.
»Frau Cremer, würden Sie das Hinzuziehen eines forensischen Entomologen genehmigen? Die Leiche und das organische Material daneben waren von Insekten nur so übersät. Schoeller, hast du die Insekten konserviert?«
»Selbstverständlich, ich bin ja kein Anfänger.« Auf einigen Gesichtern zeigt sich ein Grinsen, Schoeller kann seine spitzen Bemerkungen nicht lassen.
Pia Cremer überlegt kurz. »Ich bespreche das mit Dr. Hummel. Wenn er glaubt, dass ihm das hilft, unterstütze ich das Vorgehen.«
Clemens wendet sich an Christian auf der Heide. »Lass dir jede neue Vermisstenanzeige melden, die Ähnlichkeit mit unserem Opfer hat. Und bitte die Behörde für Schusswaffen, alle Jäger in Düsseldorf und Umgebung rauszusuchen, die Jagdschein und Waffenbesitzkarte haben.« Maria blickt ihn verwundert an. Clemens fängt ihren Blick auf.
»Nur so ein Gefühl. Kollege Schoeller hat darauf hingewiesen, dass die Leiche mit Zweigen geschmückt war, ein Ritual bei den Jägern, man nennt das Bruch. Immerhin eine Spur, der wir nachgehen sollten.« Christian auf der Heide nickt zustimmend.
Maria hat noch eine Idee. »Der Tote war gut durchtrainiert. Ist es dann nicht möglich, dass er regelmäßig gejoggt ist und nicht weit vom Grafenberger Wald entfernt wohnt? Sonst hätten wir Autoschlüssel, Papiere oder Geld bei ihm finden müssen. Er scheint ja nicht ausgeraubt worden zu sein.«
»Der iPod spricht dagegen, doch können wir das zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht mit Gewissheit sagen. Mit dem regelmäßigen Joggen könntest du recht haben. Sollten wir auf jeden Fall im Hinterkopf behalten. Ich schlage vor, wenn wir in vier Stunden die Identität des Opfers nicht geklärt haben, gehen wir an die Presse.« Pia Cremer gibt ihre Zustimmung, doch Jochen Mönnekes, der die ganze Zeit aufmerksam zugehört hat, sieht das anders.
»Wir können doch die Presse bei der Identifizierung des Toten um Hilfe bitten.«
Clemens ist sichtlich erstaunt, dass der Polizeisprecher immer noch nicht aufgegeben hat. Am liebsten würde er Mönnekes dazu ein paar deutliche Takte sagen. Aber er will keine Unruhe im Team, und so antwortet er scheinbar gelassen: »Das ist noch zu früh. Je nachdem, wer der Tote ist, müssen wir uns genau überlegen, wie wir vorgehen. Natürlich hat die Öffentlichkeit ein Recht darauf zu erfahren, was in Düsseldorf passiert, aber auf einige Stunden mehr oder weniger kommt es nicht an.«
Der Polizeisprecher lässt nicht locker. »Dann haben wir morgen in den Tageszeitungen die wildesten Spekulationen.«
»Spekuliert wird immer. Doch bei den wenigen Informationen, die bisher nach außen gedrungen sind, ist die Gefahr nicht groß.« Damit ist die Sache erledigt. Ohne auf eine Erwiderung des Polizeisprechers zu warten, stehen alle auf, der Raum leert sich schnell.
Kaum eine halbe Stunde später kommt Hendrik Flemming mit einem breiten Lächeln in Clemens’ Büro. Clemens und Maria, mitten im Gespräch, stocken und schauen ihn erwartungsvoll an.
»Wir haben ihn!« Das nun folgende Prozedere kennen sie. Genüsslich erzählt Flemming ein Detail nach dem anderen und kostet die Überraschung in aller Ruhe aus. Die Ungeduld der anderen stachelt ihn nur noch mehr an, doch mit Bedrängen geht da gar nichts.
»Also, unser Toter ist polizeilich erfasst. Er saß im Frühjahr 2009 in U-Haft, wegen des Verdachts auf Kindesmissbrauch. Da er Ausländer ist, nämlich Belgier, geschieden, nicht neu verehelicht und zudem arbeitslos, konnten sie ihn ohne Schwierigkeiten erst einmal festsetzen. Glück muss man haben. Und jetzt kommt es: Erst gestern ist er vom Landgericht freigesprochen worden.«
»Sag bloß, das ist dieser Briest.« Clemens atmet geräuschvoll aus. »Scheiße, da können wir uns auf ein riesiges Medienaufgebot gefasst machen. So wie der Prozess wochenlang die Schlagzeilen der regionalen Presse beherrscht hat, dürfte es keinen in Düsseldorf und Umgebung geben, dem dieser Musiker kein Begriff ist.« Er fährt sich mit den Fingern über die Stirn.
»Bist du dir sicher?« Marias Stimme klingt angespannt.
»Ja, ja, der Abgleich der Fingerabdrücke ist eindeutig. Zur Sicherheit habe ich eine manuelle Auswertung in Auftrag gegeben.«
Clemens reagiert umgehend. »Sag Schoeller Bescheid. Sofort die Spurensicherung zu der Bleibe von Briest. Und auf der Heide soll versuchen, den Richter zu erreichen; wir brauchen eine schnelle Einführung in die Prozesslage und natürlich die Akten. Ich kümmere mich um Mönnekes, die Presse sollten wir, solange es geht, raushalten. Morgen reicht auch noch.«
Er holt tief Luft. »Ich will absolute Gewissheit. Wir suchen die Ex-Ehefrau von Briest auf, erste Befragung und dann sofort in die Gerichtsmedizin. Sag denen bitte Bescheid, dass wir am späten Abend kommen. Auf dem Handy könnt ihr mich rund um die Uhr erreichen, wir sehen uns dann morgen um acht Uhr dreißig zur Morgenbesprechung. Und informiert die Cremer.«