Читать книгу Clemens von Bühlow Kollektion - Brigitte Lamberts - Страница 21

15.

Оглавление

Dienstag früher Morgen Hafen. In seinem Büdchen bestellt Clemens sich ein großes Glas Wasser und einen Espresso mit Zitrone, denn das letzte Glas Wein gestern Abend verlangt nach Flüssigkeit und der unruhige Schlaf nach naturbelassenen Muntermachern. Er fühlt sich gerädert und verspannt, da er erst tief in der Nacht den Weg von der Liege ins Bett gefunden hat. Rasch nimmt er alle Tageszeitungen aus dem Regal, einschließlich der Boulevardblätter, und sucht nach der Berichterstattung über den Toten im Grafenberger Wald. Der Aufmacher im Express lässt ihn nach Luft schnappen: «Bestialischer Mord im Grafenberger Wald. Jacques Briest abgeschlachtet und entmannt«. Auch die Titelstory in der Bildzeitung ist ähnlich reißerisch: »Düsseldorf hat einen neuen Schlächter. Jacques Briest teuflisch hingerichtet«. In beiden Artikeln werden Details genannt, die mit Sicherheit nicht in der Pressekonferenz zur Sprache gekommen sind.

Der Hauptkommissar ist entsetzt, fährt sich nervös durch seine Haare und überfliegt die Berichterstattung in den regionalen Tageszeitungen. Die geben kurz das wieder, was auf der Pressekonferenz erläutert wurde, und flüchten sich aus Mangel an Informationen in einen umfassenden Rückblick über die Geschehnisse während der Gerichtsverhandlung. In einer Regionalzeitung wird sogar über Sieglinde Franks Auftritt bei Gericht berichtet. Bebildert ist der Artikel mit einem Foto, das Clemens und Maria im Gespräch mit einer Person zeigt, deren Gesicht verpixelt ist. Für Clemens ist Sieglinde Frank im Hof ihres Restaurants deutlich zu erkennen.

»Das kann doch nicht wahr sein«, ruft er laut und haut mit der Faust auf die Platte des Stehtischs. Der Büdchenbesitzer, ein kleiner, kugelrunder Mitfünfziger, der von allen nur Olli genannt wird, schaut ihn verwundert an. Clemens winkt entschuldigend zu ihm herüber, bezahlt und rennt mit den Zeitungen in der Hand zum Polizeipräsidium. Hier wird er von dem stets gut gelaunten Pförtner begrüßt, der ihm mit einer Postkarte zuwedelt. Clemens steckt sie ein, läuft die breite Treppe in den zweiten Stock hinauf und betritt außer Atem das Büro von Otto Kreutz. Der telefoniert lautstark mit Pia Cremer. Clemens braucht ihm die Zeitungen gar nicht auf den Schreibtisch zu legen, dort befindet sich bereits eine beträchtliche Auswahl. Nervös geht Clemens auf und ab und wendet sich schließlich zum Bürofenster. Von dort schaut er in den Hof des Polizeipräsidiums, der für die Einsatzfahrzeuge der Polizei reserviert ist. Er traut seinen Augen nicht. Mit Schwung biegt ein Taxi auf den Hof, das der Pförtner nicht aufzuhalten vermag. Die Fahrerin, eine Schwarzafrikanerin, steigt aus und geht um das Fahrzeug herum. Der Pförtner gestikuliert wild, ohne Erfolg. Die Frau öffnet unbeirrt die Beifahrertür. Clemens lächelt belustigt, doch als er sieht, dass Erika Wagner aus dem Taxi aussteigt, wird er ernst.

›Oh nein, nicht jetzt.‹ In diesem Augenblick beendet Kreutz sein Gespräch. Clemens dreht sich zu seinem Chef um, dem wütend herausrutscht: »So eine Scheiße!«

»Könnte es sein, dass wir eine undichte Stelle haben?« Clemens ist ebenfalls aufgebracht.

»Sieht ganz so aus. Bei der Pressekonferenz haben wir uns sehr bedeckt gehalten, und weder Pia Cremer noch Jochen Mönnekes haben danach noch Interviews gegeben.«

»Was machen wir jetzt?«

Der Kriminalrat überlegt. »Zunächst müssen wir mit den Journalisten sprechen. Es dürfen nicht noch weitere Details an die Öffentlichkeit gelangen. Ich habe schon mit Mönnekes gesprochen. Der kommt gleich vorbei, und wir werden erneut eine Pressekonferenz abhalten.«

»Wir müssen unbedingt die undichte Stelle herausfinden, andernfalls läuft uns die ganze Ermittlung aus dem Ruder.«

»Und wie willst du das auf die Schnelle anstellen? Die Plaudertasche kann überall sein. Alle am Tatort haben es sehen können, die Streifenpolizisten, die Kriminaltechniker, auch die Bestatter und natürlich der Gerichtsmediziner.«

»Ich habe einen ganz guten Kontakt zu einem Redakteur vom Express, vielleicht kann der uns weiterhelfen?«

»Versuchen kannst du es ja, aber da sehe ich ziemlich schwarz. Die werden doch ihren Informanten nicht preisgeben.«

Clemens schaut auf die Uhr. Noch hat er etwas Zeit, bis er mit Maria verabredet ist, um Freiherrn von Clausen zu befragen. Vor seinem Büro steht Erika Wagner, die gekommen ist, um ihre Waffen abzuholen. Clemens begrüßt sie freundlich, bittet um etwas Geduld und zeigt auf die Stühle auf dem Flur. Sie schüttelt ärgerlich den Kopf, setzt sich aber wortlos.

Clemens ruft Thomas Berg vom Express an. Begrüßt wird er mit den Worten: »Deinen Anruf habe ich schon erwartet.«

»Du weißt schon, dass deine Kollegen da mächtig Ärger bekommen können?«

»Das ist unser Job.«

»Ich will nicht mit dir diskutieren, das haben wir schon allzu oft gemacht. Woher habt ihr diese Informationen?«

»Das kann ich dir nicht sagen.«

»Kannst du nicht oder willst du nicht? Ich brauche ja wohl nicht zu betonen, dass du mir noch etwas schuldig bist.«

»Ich weiß nur, dass es ein anonymer Hinweis war.«

»Also niemand, der sein Budget auf unkonventionelle Weise aufgebessert hat?«

»Nein. Aber mehr an Informationen kann ich dir beim besten Willen nicht geben.«

»War es ein Anruf, eine E-Mail oder ein Brief?«, hakt Clemens nach.

»Mehr wirst du von mir nicht erfahren.«

Thomas Berg hat aufgelegt. Clemens wählt die Nummer von Kreutz und berichtet kurz von seinem Telefonat.

»Was sagt uns das?« Kreutz, der ruhende Pol bei den Ermittlungen, ist immer noch aufgewühlt.

»Was ist, wenn der anonyme Hinweis vom Täter selbst kommt?«

»Ziemlich abwegig. Aber wenn doch, dann sitzen wir auf einem Pulverfass.«

»Es könnte aber auch eine Chance für uns sein«, überlegt Clemens.

Als Nächstes wählt er die Nummer von Schoeller.

»Wie weit bist du mit der ballistischen Untersuchung?«

»Fertig. Habe alle Möglichkeiten ausgeschöpft.«

»Und?«, fragt Clemens.

»Keine neuen Erkenntnisse«, erwidert Schoeller knapp.

»Kannst du jemanden schicken, der die Waffen zu mir raufbringt?«

»Ja, veranlasse ich.«

Clemens erhebt sich. Doch bevor er die Tür öffnet, atmet er einmal tief durch. Dann bittet er Erika Wagner höflich in sein Büro. Deren Verstimmtheit ist wie weggeblasen. Sie nimmt auf dem Stuhl gegenüber dem Schreibtisch Platz und schaut sich interessiert um, lässt ihren Blick über die Regale gleiten, die vollgestopft sind mit Akten. Im Gegensatz dazu ist der Schreibtisch des Hauptkommissars fast leer. Ein flacher Bildschirm, davor die Tastatur, dazwischen ein Bleistift und ein Füllfederhalter und links, am äußeren Rand des Tisches, zwei Schnellhefter in unterschiedlichen Farben. Clemens, dem der Besuch mehr als ungelegen kommt, spielt mit seinem Füllfederhalter, um nicht der Versuchung zu unterliegen, seiner Ungeduld durch das rhythmische Trommeln der Finger auf der Schreibtischplatte Ausdruck zu verleihen.

»Schick haben Sie es hier. Aber wahrscheinlich sind Sie gar nicht so oft im Büro, nehme ich an. Oder?«

Die alte Dame zeigt auf seine Krawatte:

»Auch sehr schick. Hat die Ihre Freundin ausgesucht?« Clemens muss grinsen, so eine Gesprächseröffnung hätte er ihr nicht zugetraut.

»Danke für das Kompliment.«

»Oder war es Ihre Frau?«

›So klopft man also die Familienverhältnisse ab.‹ In diesem Moment klingelt das Telefon.

»Die Waffen von Frau Wagner sind hier«, lässt Flemming verlauten.

Sichtlich erleichtert, seinen unliebsamen Gast wieder loszuwerden, bittet Clemens sie, ihm zu folgen.

»Sehr schön, dass es bei Ihnen doch so zügig zugehen kann. Und danke auch für den Kaffee, den Sie mir nicht angeboten haben. Beim nächsten Mal gern, heute muss ich aber sofort im Anschluss an unsere Transaktion zum Flughafen. Eine Bekannte von mir, Mia, kommt aus Rom zu Besuch.«

»Wann kommt sie denn an?«, fragt Clemens aus Rainer Höflichkeit.

»In zwanzig Minuten.«

»Das schaffen Sie spielend. Bis Ihre Freundin ihr Gepäck hat und durch den Zoll ist, dauert es mindestens noch eine halbe Stunde.«

»Nein, mein Lieber. Sie kommt mit einer Privatmaschine, und der Fahrdienst steht auch schon bereit.«

Clemens kann sich erneut ein Lächeln nicht verkneifen.

Trotz der Eile öffnet Erika Wagner die Tasche und mustert ihre Gewehre. »Wie sehen die denn aus! Herr von Bühlow, da hätte ich Ihren Leuten aber deutlich mehr Sauberkeit zugetraut. Jetzt kann ich die Waffen wieder reinigen. Und die technische Überprüfung, die ich offensichtlich machen muss, stelle ich Ihnen auch in Rechnung.« Clemens betrachtet die Waffe, die Erika Wagner ihm direkt vor die Nase hält. Ihre Aufregung kann er nicht nachvollziehen und schweigt. Doch die Taktik greift nicht. Während sie den Empfang der Waffen quittiert, ergießt sich ein wahrer Redeschwall über ihn.

»Man würde doch erwarten können, dass Polizisten, die im Umgang mit Waffen geübt sind, für die gepflegten Waffen anderer mehr Sorgfalt aufbringen. Ich erwarte eine Entschädigung für diesen schlampigen Umgang, und auch dafür, dass Sie mich, eine Unschuldige, verdächtigt haben. Auch wenn diese Anekdote meinem Ruf einen Hauch Abenteuer verleiht.«

Clemens reißt der Geduldsfaden.

»Noch sind Sie nicht aus dem Rennen«, erwidert er scharf.

Doch damit kann er die selbstbewusste Frau in keinster Weise beeindrucken. Sie packt ihre Gewehre zusammen, dreht sich um, verlässt wütend das Büro und knallt die Tür so fest zu, dass Flemming zusammenzuckt.

»Was war das denn?«

»Darf ich vorstellen: Erika Wagner, Jägerin aus Leidenschaft.« Schon verlässt Clemens mit den Worten: »Mist, schon so spät«, das Büro. Schnell schnappt er sich seinen Mantel, läuft die Treppe herunter und nimmt zwei Stufen auf einmal. Auf dem Hof steigt er in seinen Porsche. Als er auf die Straße einbiegt, sieht er Erika Wagner schimpfend in ihr Taxi steigen.

»Du warst auch schon mal pünktlicher«, begrüßt ihn Maria Esser, die auf der Parkstraße auf und ab gegangen ist und verfroren aussieht. Auf dem Weg zu Freiherr von Clausen erzählt Clemens von seinem Gespräch mit Kreutz, dem filmreifen Auftritt von Erika Wagner und von seinem Kontakt zum Express. Maria, die auch die Tageszeitungen durchgesehen hat, ist ebenfalls beunruhigt.

»Dass die nicht kapieren, dass sie unsere Ermittlungen erheblich gefährden, und dann noch das Foto von Sieglinde Frank. Auch wenn in der Bildunterschrift ihr Name nicht erwähnt und das Bild verpixelt ist, kann auch der Dümmste den Zusammenhang herstellen.«

»Das wird Konsequenzen haben, da kannst du sicher sein. Pia Cremer wird juristische Schritte einleiten.« Clemens fingert eine Zigarette aus seiner Packung, und Maria kurbelt das Fenster herunter. Nachdem er einen langen Zug genommen hat, versucht er, nicht nur Maria, sondern auch sich selbst zu beruhigen:

»Kreutz, Cremer und Mönnekes werden die Wogen hoffentlich glätten und zu einem zufriedenstellenden Ergebnis kommen. Hauptsache, wir können ermitteln, ohne dass eine Hysterie ausbricht.«

Bis zu Freiherr von Clausen brauchen sie eine halbe Stunde, denn er wohnt in einer kleinen Villa in Wittlaer im äußersten Norden von Düsseldorf am Max-Clarenbach-Weg mit direktem Blick auf den Rhein. Von Clausen öffnet mit einer Serviette in der Hand die Tür. Überrascht begrüßt er den unangemeldeten Besuch und bittet beide herein. Er frühstücke noch, denn mit seniler Bettflucht habe er nichts am Hut, bemerkt er schmunzelnd. Er genieße es schon seit Jahren, abends spät ins Bett zu gehen und morgens länger zu schlafen. Der Freiherr macht auf Anhieb einen sympathischen Eindruck, obwohl ihn eine gewisse Arroganz umgibt. Er ist etwa 1,85 Meter groß, schlank, ein gut aussehender 80-Jähriger, braun gebrannt, mit schlohweißem, dichtem Haar.

Nachdem sie am Esstisch Platz genommen haben und durch die Panoramascheibe auf den Rhein blicken, fragt Maria, ob er hier allein wohne. Er lächelt traurig.

»Meine Frau ist vor fünf Jahren gestorben. Seitdem lebe ich allein. Frau Bleibtreu, meine Haushälterin, kommt jeden Morgen, macht Frühstück, kauft ein und kocht.«

Auf den Sonntag angesprochen, bestätigt er die gemeinsame Jagd mit Erika Wagner und zwei Freunden. Sie waren früh aufgebrochen, brachten fünf bis sechs Stunden im Wald zu und aßen anschließend in einem Restaurant zu Mittag. Danach waren sie wieder zurück nach Düsseldorf gefahren.

»Ist Ihnen an Erika Wagner etwas aufgefallen?«

»Worauf wollen Sie hinaus, junger Mann?«, pariert von Clausen.

»War sie wie immer oder eher nervös?«

»Ich würde sagen, wie immer, sehr konzentriert, sehr professionell, liebenswürdig. Ihr bisweilen bissiger Humor verschlägt einem immer noch die Sprache. Diesmal war sie zwischenzeitlich zornig auf sich selbst. Sie kann weder beim Kartenspielen verlieren, noch kann sie es hinnehmen, wenn sie danebenschießt.«

»War das diesmal der Fall?«, fragt Maria nach.

»Ja. Ich kenne sie als exzellente Schützin, doch Sonntag wollte ihr nichts gelingen. Wissen Sie, das ist ja nicht der Rede wert, das kann jedem geübten Jäger passieren, aber in unserem Alter setzt einem das schon zu. Man denkt dann gleich, es liegt am Alter, dass man Fähigkeiten verliert; das macht manche traurig und Erika eben wütend.«

»Machen Sie solche Jagdausflüge häufig?«, will Clemens wissen.

»Früher waren wir aktiver. In den letzten Jahren haben wir es reduziert und gehen drei- bis viermal im Jahr gemeinsam auf die Jagd. Warum wollen Sie das wissen?«

Von Clausen ist keineswegs naiv. Als Geschäftsmann hat er sich früher immer offen und gesprächig gegeben. Wenn sein Gegenüber dann die Einschätzung gewonnen hatte, es ließe sich leicht mit ihm verhandeln, überrumpelte er ihn und zwang ihm seine Strategie auf. Clemens erklärt von Clausen kurz, dass sie sich gerne ein umfassendes Bild von der Persönlichkeit Erika Wagners machen wollen, und dazu gehören auch ihre Aktivitäten als Jägerin. Ehe von Clausen das Wort ergreifen kann, fragt Maria schon:

»Wer legt die Termine fest?«

»Wir besprechen das meist direkt nach der Jagd beim Essen.«

»Und wer regte die letzte Jagd an?«

»Das kann ich Ihnen nicht mehr sagen, vielleicht war es Erika. Ich erinnere mich, dass sie meinte, im November müssten wir uns nochmals aufmachen, da der Dezember ihr zu kalt werden könnte.«

Der Hauptkommissar hat noch eine Frage zu den Waffen. Er selbst sei ja kein Jäger, deshalb möge von Clausen bitte die unqualifizierte Frage entschuldigen, aber nach welchen Kriterien suche der Jäger die Waffe für die jeweilige Jagd aus?

»Das kommt ganz darauf an, was man bejagen will, ob beispielsweise Federwild, Rotwild oder Schwarzwild. Dann hat jeder Jäger natürlich auch seine Lieblingswaffe.«

»Und was wollten Sie Sonntag schießen?«

»Schwarzwild, dafür braucht man eine Büchse.«

»Was für Waffen hat Frau Wagner?«

»Sie wollen es aber ganz genau wissen, jetzt sagen Sie nicht, das sei nur Routine.«

»Wir müssen leider oft Fragen stellen, die abwegig erscheinen, aber nur so können wir ein Puzzleteilchen nach dem anderen zusammensetzen«, erklärt Maria.

Der Gesichtsausdruck von Clausens bleibt amüsiert, er nimmt der Hauptkommissarin diese Ausrede keineswegs ab, und das soll sie auch sehen.

»Mit absoluter Gewissheit kann ich das nicht sagen. Soviel ich weiß, hat sie zwei Flinten und eine Büchse. Das reicht vollkommen aus. Lieber Qualität als Quantität, denn wir sind Jäger aus Leidenschaft und keine Waffennarren.« Der Freiherr wirkt nun doch etwas ungehalten, erhebt sich und gibt so zu erkennen, dass das Gespräch beendet ist.

Auf der Rückfahrt zeigt sich Maria enttäuscht von der Befragung, doch Clemens wirkt zufrieden. Immerhin haben sie einiges über Erika Wagner erfahren.

Die Kollegen sind mittlerweile bis auf Sonja Melchior wieder eingetroffen. Sie hat sich per Handy gemeldet und braucht noch Zeit für die Befragung von Sentas Freundin Jutta Schmittmann, da die Unterredung mit Pascal Schmitz vom Petit Salon mehr Zeit in Anspruch genommen hat als gedacht. Bevor Clemens alle zur Besprechung bittet, schaut er bei Kreutz vorbei, der gerade von der Pressekonferenz kommt. Die heiklen Details werden vorerst nicht weiter verbreitet, und die Boulevardpresse hat sich, nachdem Pia Cremer mit juristischen Konsequenzen gedroht hat, zu einer konstruktiven Zusammenarbeit bereit erklärt.

»Ob das wirklich klappt, werden wir sehen. Ich bin da wenig optimistisch, zumal die heikelsten Informationen sowieso schon öffentlich sind.«

Clemens beginnt die Besprechung mit Infos zu diesem Thema und wechselt dann zum Gespräch mit von Clausen. Dann ist Florian an der Reihe. Er beginnt etwas nervös, verhaspelt sich gleich zu Anfang und errötet leicht.

»Ich habe Lamberty unter Druck gesetzt. Er ist trotzdem besonnen und ruhig geblieben. Auffällig war, dass ich förmlich sehen konnte, wie ihm die Gedanken durch den Kopf jagten. Irgendwas ist da. Ich habe ihm versichert, dass wir Diskretion wahren, solange seine Aussagen nicht ermittlungsrelevant sind. Doch er hat darauf bestanden, nur mit dir zu sprechen. Nach Dienstschluss kommt er ins Präsidium.«

Clemens erinnert die Verlegenheit Florians an seine eigenen Anfänge. Auch er hatte vor seinem Chef – es war Kreutz, damals noch nicht Leiter des Morddezernats – einen ungeheuren Respekt und kam sich unbedeutend vor.

»Das klingt doch schon ganz gut«, muntert er Florian auf. »Mal hören, was er mir zu sagen hat.«

Christian auf der Heide berichtet von seinem Gespräch mit der Leitung des Kinderchors.

»Oliver Boll ist aus allen Wolken gefallen und hat es nicht wahrhaben wollen. Er hat bei der Einstellung den Lebenslauf von Briest genau gelesen und war sehr angetan. In den drei Monaten Probezeit hat er oft an den Chorproben teilgenommen und sowohl pädagogisch als auch fachlich nichts an Briest auszusetzen gehabt. Vielmehr war er begeistert, weil dieser neuen Schwung in den Chor gebracht hat, die Kinder waren viel engagierter und haben ihr Niveau in kurzer Zeit enorm gesteigert. Er hat ihn als Glücksfall für den Chor gesehen, gut ausgebildet, für wenig Geld zu haben. Zudem hatte er das Gefühl, auch Briest würde es guttun. Von einem Prozess gegen ihn hat er nichts gewusst.«

»Glaubst du das?«, fragt Clemens den jungen Oberkommissar.

»Das ist schwer einzuschätzen. Boll wirkt devot. Für seinen eigenen Erfolg kämpft er bestimmt verbissen. Aber vom Missbrauchsprozess zu wissen und Briest trotzdem weiter arbeiten zu lassen, für so dumm halte ich ihn nicht.«

»Was hat das Telefonat mit dem Küchenchef ergeben?« Hendrik ist der Nächste.

»Francesco, so heißt er, bestätigt die Aussagen von Erika Wagner. Sie ist um fünfzehn Uhr dreißig im Restaurant eingetroffen. Die Menüfolge war schnell besprochen, sie ist eine Viertelstunde später wieder abgefahren. Ich habe auch mit Vittorio gesprochen, dem Kellner, der das Essen zu Frau Wagner gebracht hat. Er hat pünktlich um zwanzig Uhr geliefert und die Damen wie jeden Freitag mit einem Glas Sekt in der Hand angetroffen. Die Stimmung war wohl etwas verhalten. Sonst würden sie immer mit ihm flirten und ihn über seine neuen Freundinnen aushorchen, aber diesmal wären sie zwar freundlich, aber doch sehr zurückhaltend gewesen. Mehr wusste er nicht.«

»Wie sieht es mit den Hinweisen aus der Bevölkerung aus?«, fragt Maria.

Hendrik verzieht leicht den Mund. »Ein paar Wichtigtuer, aber noch nichts wirklich Interessantes. Florian und ich bleiben dran.«

»Gut, wir sollten uns dem nachbarlichen Umfeld von Erika Wagner und Sieglinde Frank widmen. Florian, wenn Hendrik dich entbehren kann, weist du zusammen mit Sonja einige Kollegen von der Streife ein, die sich in den Stadtteilen Pempelfort, Wehrhahn und Altstadt gut auskennen. Ihr könnt dann gemeinsam die Befragungen durchführen. Ich kläre das mit Kreutz, nicht dass es wieder zu Verstimmungen kommt und uns nachgesagt wird, wir verfügen einfach so über Kollegen.«

Dieses Bitten und Betteln um personelle Unterstützung geht Clemens auf die Nerven. Am liebsten würde er immer den kollegialen kleinen Dienstweg wählen, aber da hat man ihn schon oft genug auflaufen lassen. Und nachdem im September gerade einmal sechzig neue Beamte ihren Dienst im Düsseldorfer Polizeipräsidium angetreten haben, wird das in Zukunft auch nicht besser, schätzt er. Die Neuzugänge bedeuten alles andere als eine Verstärkung. Denn es sind fünfzig Polizisten weniger als die, die das Präsidium verlassen haben, da hilft auch die Zusage des Landes nichts, bei Bedarf gäbe es Unterstützung.

Inzwischen ist es kurz nach sechzehn Uhr. Lamberty müsste gleich eintreffen, und die Canasta-Damen dürften auch schon warten. Wenn die Freundinnen von Erika Wagner auch solche flotten Rhetorikerinnen sind, dann würde das nicht einfach werden. Vielleicht hatte Frau Wagner die beiden auch schon angerufen und ihren Ärger über die schlechte Behandlung der Gewehre weitergegeben. Clemens spricht sich kurz mit Maria ab. Sie wird die Frauen alleine aufsuchen, und er kümmert sich um Lamberty, der gerade vom Pförtner angekündigt wird.

Dr. Justus Lamberty kommt auf den Hauptkommissar zu und begrüßt ihn. Er sieht ohne weißen Kittel jünger und lässiger aus, mit seinen abstehenden Haaren, einem karierten Holzfällerhemd und brauner Cordhose. Sie gehen ins kleine Besprechungszimmer. Clemens mustert den Freund von Senta Hartmann, ohne ein Wort zu sagen. Der Arzt wirkt ruhig, und doch kann er eine Spur von Nervosität nicht verbergen. Er ist es dann auch, der zu reden beginnt.

»Ich habe mit dem Mord nichts, rein gar nichts zu tun. Das versichere ich Ihnen.« Clemens von Bühlow antwortet nicht.

Lamberty erträgt das Schweigen nicht.

»Es fällt mir schwer, Ihnen zu sagen, wo ich in der fraglichen Zeit war. Es ist sehr persönlich und geht niemanden etwas an.«

»Bei Mord geht uns leider alles an. Mehr als meine Diskretion kann ich Ihnen nicht zusichern, aber das sollte ausreichen.«

»Sie garantieren mir, dass unser Gespräch unter uns bleibt, wirklich unter uns? Auch Ihre Kollegen dürfen nichts davon erfahren. Ich habe viel investiert, um in meinem Beruf so schnell so weit zu kommen. Ich stehe kurz davor, Chefarzt zu werden, und ich kann es mir nicht leisten, dass mein Ruf Schaden nimmt.«

»Das verstehe ich. Doch wenn Sie mir nicht sagen, was los ist … Nur so viel: Spekulationen und Gerüchte sind gefährlich. Und die werden kommen, wenn wir Sie weiterhin in der Klinik aufsuchen.«

Lamberty lässt sich Zeit und betrachtet seine Hände. Dann hebt er den Blick und schaut an Clemens vorbei aus dem Fenster. »Ich gehe einmal die Woche zum Pokern, versuche aber, mich zu disziplinieren. Es gab Zeiten, da ist mir dies nicht gelungen, doch jetzt habe ich mich im Griff. Ich habe keine Spielschulden, keine finanziellen Sorgen, aber wenn nur der geringste Verdacht aufkommt, dass ich ein Problem habe, könnte es sein, dass ich für die Klinik in der Position nicht mehr haltbar bin. Verstehen Sie?«

Clemens nickt. »Wo und wann spielen Sie?«

»In einem Lokal auf der Luisenstraße, je nach dienstfreier Zeit, aber meistens am Freitagnachmittag.«

»Ich werde das persönlich überprüfen. Wenn das stimmt und Sie ein Alibi haben, brauchen Sie nichts zu befürchten. Dennoch möchte ich Sie bitten, mir eine Bankauskunft zukommen zu lassen. Den offiziellen Weg möchte ich nicht einschlagen, dann kann ich Ihnen die gewünschte Diskretion vielleicht nicht garantieren.«

Lamberty überlegt kurz und stimmt dem Vorschlag zu. Erleichtert verlässt er das Präsidium.

Kaum ist Lamberty gegangen, sucht Clemens erneut Kreutz auf. Der hat Besuch. Er grüßt kurz und macht Kreutz ein Zeichen, ihn später anzurufen. Doch Kreutz winkt ihn herein und stellt ihm Jürgen Beyer vor, einen ehemaligen Kollegen, jetzt im Ruhestand. Clemens betrachtet Beyer interessiert, der etwas ungepflegt, aber nicht unsympathisch wirkt. Nach kurzer Zeit verabschiedet sich Beyer.

»Der sieht blass aus.« Clemens schaut Kreutz fragend an.

»Ja, einer von uns, der die Arbeit irgendwann nicht mehr ausgehalten hat. Eine lange Geschichte.«

»Kommt der öfter?«

»Immer mal wieder. Aber er hat von dem Fall gelesen und war wohl auch schon mal bei einem Liederabend.«

»Und was hast du gesagt?«

»Dass wir noch im Dunkeln tappen, das Übliche.«

»Wie wahr«, seufzt Clemens. Er berichtet kurz über den Ermittlungsstand und bittet um personelle Unterstützung für die Befragungen der Nachbarn von Sieglinde Frank, Erika Wagner und Michael Schneider.

Kreutz ist alles andere als begeistert. »Du hast doch schon zwei Kommissaranwärter zusätzlich in deinem Team, das muss reichen.«

»Reicht aber nicht. Es werden doch zwei Polizisten auf Streife helfen können.«

»Im Augenblick geht gar nichts. Steinbeißer braucht alle verfügbaren Einsatzkräfte.«

»Was ist denn bei dem los?«

»Hat sich das noch nicht zu dir herumgesprochen?«

»Was denn?« Clemens reagiert leicht gereizt. Wenn er sich in einen Fall vergräbt, bekommt er nichts anderes mehr mit. Für ihn ist das eine Schwäche, und die Anspielung von Kreutz, obwohl der es nicht als Vorwurf gemeint hat, macht ihm bewusst, dass er wieder einmal nicht auf dem Laufenden ist, mit welchen Fällen die anderen Hauptkommissare beschäftigt sind.

»Ein Wirtschaftsexperte, Richard Hausmann, der die Stadt berät und damit beauftragt ist, chinesische Unternehmen nach Düsseldorf zu holen, ist vermisst gemeldet. Anfangs hat man diesen Fall wie jeden anderen behandelt, doch nachdem zwei sehr wichtige Verhandlungen geplatzt sind, bei denen er die zentrale Funktion für die Stadt einnehmen sollte, geht man von etwas Ernstem aus.«

»Wann wurde er als vermisst gemeldet?«

»Freitagabend ist er nicht nach Hause gekommen, Samstag hat seine Frau die Anzeige gemacht. Sonntag hätte er eine wichtige Besprechung mit Vertretern der Stadt zur Vorbereitung auf den Montag gehabt, aber auch Montag ist er nicht erschienen. Seit Sonntag geht es beim Kollegen Steinbeißer rund, wie du dir denken kannst.«

»Kannst du trotzdem mal nachfragen?«

»Ich erkundige mich bei der Polizeidienststelle Mitte, ob man dir hilft, aber versprechen kann ich nichts.«

Auf dem Flur begegnet Clemens seinem Kollegen. Rainer Steinbeißer geht nervös auf und ab. Das macht er immer, um sich besser konzentrieren zu können. Beide kennen sich schon seit Jahren und schätzen sich. Trotzdem gibt es zwischen ihnen nicht wirklich einen Draht. Steinbeißer steht kurz vor seiner Pensionierung. Bis heute hat er es nicht verwunden, dass Clemens, ein um Jahrzehnte jüngerer Kollege, anscheinend ohne große Anstrengung so schnell das erreicht hat, was er sich mühsam über die Jahre erarbeiten musste.

Clemens erkundigt sich nach dem Stand der Ermittlungen. Steinbeißer geht von Entführung aus, aber das Motiv ist völlig unklar. Vielleicht hängt die Entführung mit den geschäftlichen Aktivitäten von Hausmann zusammen. Aber den Deal mit den Chinesen hätte man auch anders verhindern können.

»Wenn du mal deine Gedanken sortieren willst, unterstütze ich dich gerne. Mir hilft oft das Gespräch mit jemandem, der nicht direkt involviert ist«, bietet von Bühlow an. Steinbeißer nickt, doch Clemens weiß, dass es nicht dazu kommen wird. Rainer Steinbeißer ist zwar kein Überflieger, aber ein solider Arbeiter, und wenn nicht diese Eifersucht auf Clemens’ Erfolge wäre, könnten sie prima miteinander auskommen.

Maria Esser ist in der Zwischenzeit mit ihrem alten Passat in Oberkassel angekommen. Bis zum Drakeplatz ist es vom Präsidium aus über die Rheinkniebrücke nur ein Katzensprung, aber die Suche nach einem Parkplatz hat mehr Zeit in Anspruch genommen, als sie gedacht hat. Zügig überquert sie den Platz, steuert auf ein modernes Wohnhaus zu und drückt energisch auf den Klingelknopf von Irma Seidlitz. Kaum gibt der Summer die Tür frei, nimmt sie die Treppe. Bewegung tut ihr gut. Auch wenn ihr das Klingelschild verraten hat, dass die alte Dame recht weit oben wohnt.

Plötzlich ertönt eine Stimme: »Nur noch ein Stockwerk, dann haben Sie es geschafft.« Maria blickt nach oben und sieht einen Kopf mit kurzen blondierten Haaren, der sich über das Treppengeländer beugt.

Kaum hat sie die Wohnung betreten und einem Tee zugestimmt, verschwindet Irma Seidlitz in der Küche. Maria schaut ihr hinterher und wundert sich über die aufrechte Haltung. Als ob sie einen Stock verschluckt hätte. Dann blickt sie sich um. Die Maisonette-Wohnung mit Fenstern bis zum Boden ist lichtdurchflutet und in hellen Farben gestaltet. Bis auf einen großen Esstisch, eine Couchgarnitur mit einem Bezug aus einem leuchtenden Stoff mit großen Blumen, wie man es eher dem Geschmack der US-Amerikaner zutrauen würde, und einem Bücherregal, das bis unter die Decke reicht, ist die Wohnung eher spärlich eingerichtet. Lediglich ein großer Golfsack, der an der Wand zur Küche lehnt, passt nicht ins Bild. In diesem Augenblick kommt Irma Seidlitz mit einem großen Tablett ins Zimmer.

»Sie spielen Golf?«

»Ja, schon seit einigen Jahren. Meine Freundin Erika Wagner hat nicht locker gelassen, bis ich es ausprobiert habe.«

»Und? Wie gefällt es Ihnen?«

»Wunderbar. Man ist an der frischen Luft, kann sich bewegen, und es tut dem Körper gut. Etwas anstrengend wird es bloß, wenn Erika einen schlechten Tag hat und die Bälle nicht punktgenau da landen, wo sie es gerne hätte. Dann kann sie schon einmal ziemlich unwirsch werden.«

»Sie unternehmen viel zusammen?«

»Ja. Mit Erika spiele ich Golf, und gemeinsam mit Charlotte gehen wir zum Ballett, ins Theater, und natürlich sind da noch unsere regelmäßigen Canasta-Abende.« Sie ist kaum zu bremsen. »Natürlich hat jede von uns auch ihre eigenen Aktivitäten. Ich besuche zum Beispiel regelmäßig das Fitness-Studio, und Charlotte spielt einmal die Woche Bridge.« Sie lächelt verschmitzt. »Im Parkhotel bei einem Glas Champagner. Und Erika geht zur Jagd. Charlotte und mir ist die Jagd fremd, aber die Erlebnisse von Erika haben uns schon oft einen unterhaltsamen Abend beschert.«

Interessiert schaut Maria die Frau an, die so lebhaft erzählt und aufgrund ihrer Magerkeit zwar zerbrechlich wirkt, aber dennoch sehr agil ist. Diese gluckst, versucht so, ein Lachen zu unterdrücken, und ihre kleinen dunklen Augen blitzen auf. »Zweimal schon hat Erika Wilderer gestellt, und die Geschichte mit dem Liebespaar war auch nicht schlecht.«

Ohne auf eine Nachfrage zu warten, fährt sie belustigt fort. »Es ist zwar schon ein paar Jahre her, aber ich amüsiere mich über diese Geschichte immer noch. Fast hätte Erika ein Liebespaar erschossen. Sie glaubte, da wäre eine Sau im Unterholz. Freiherr von Clausen, einem Jagdfreund von ihr, ist es zu verdanken, dass kein Unglück passiert ist. Er hat in letzter Sekunde das Gewehr von Erika nach oben gerissen, sodass der Schuss nur die Baumkronen erschüttert hat.«

Sie fuchtelt mit ihrer mit Ringen und Armreifen geschmückten Hand vor Maria Essers Gesicht herum.

»Erika hat bestimmt vor Wut gekocht. Und ihr Kommentar zu dem Vorfall: ›Was haben die da auch rumzumachen‹, war typisch.«

Der Redeschwall von Irma Seidlitz wird jäh unterbrochen, als wie auf Kommando drei Katzen die Treppe heruntergelaufen kommen und ihr um die Beine schnurren. Maria bewundert die drei Kater ausgiebig und nutzt die entstandene Pause, um das Gespräch auf den letzten Canasta-Abend zu lenken. Irma Seidlitz bestätigt, dass sie und Charlotte gemeinsam wie immer um halb acht eingetroffen seien, der Abend sei normal verlaufen, vielleicht nicht ganz so unbeschwert, wegen des Gerichtsurteils. Das Essen war vorzüglich und Erika wie immer eine gute Gastgeberin. Auch diesmal habe sie beim Spielen geschummelt, und es wäre fast zum Streit gekommen, weil man sich mal wieder nicht auf die Regeln hätte einigen können. »Und das jetzt schon seit vierzig Jahren«, seufzt sie.

»Wie sind Sie zu Erika Wagner gelangt?«, will Maria wissen.

»Wie meinen Sie das?«

»Na ja, mit der Straßenbahn oder dem Taxi?«

»Wie immer mit dem Taxi.«

»Wissen Sie, wer Sie gefahren hat?«

Irma Seidlitz lacht, erhebt sich, geht in die Diele und kommt mit einer Visitenkarte zurück, die sie Maria überreicht.

»Wir haben unsere eigene Chauffeurin, und das schon seit mehreren Jahren«, antwortet sie, immer noch amüsiert. »Den Freitagtermin hat sie fest für uns reserviert. Und auch sonst ist Maria über Handy für uns jederzeit erreichbar, wenn wir ihre Hilfe benötigen.«

Maria betrachtet die Visitenkarte. Maria Ndereba, selbstständige Taxifahrerin, Mitglied im Verbund Rheintaxi.

»Darf ich die Visitenkarte behalten?«

»Gerne. Ich habe noch eine am Telefon liegen.«

Obwohl Maria weitere Fragen stellt und ihr Gegenüber reichlich erzählt, erfährt sie nichts Relevantes mehr. Lediglich die Bemerkung, dass Erika an diesem Abend erschöpft ausgesehen habe, lässt sie aufhorchen. Frau Seidlitz begründet dies damit, dass ihre Freundin über eine Woche jeden Tag bei Gericht war und so ihren normalen Rhythmus durchbrochen habe. Und in dem Alter sei das halt anstrengend.

Auf der Straße macht sich die Hauptkommissarin ein paar Notizen, bevor sie sich erneut in ihr Auto setzt und zur Kaiserswerther Straße fährt. Hier besitzt Charlotte Prochnow eine Wohnung in den Backsteingebäuden aus den 1920er-Jahren. Schon die Haustür lässt vermuten, dass das Innere noch viel vom herrschaftlichen Charme früherer Zeiten besitzt. Maria wird nicht enttäuscht. Die Wohnung im Erdgeschoss ist zwar durch die hohen Kastanien vor dem Haus relativ dunkel, aber bereits die meterhohen, weiß gestrichenen Doppeltüren sind imposant, und das alte, sehr gepflegte Fischgrätenparkett wäre heute kaum bezahlbar. Charlotte Prochnow bittet sie in ihr Wohnzimmer, das mit den reich geschnitzten, dunklen Möbeln an alte Herrenzimmer erinnert. Sie ist nicht unfreundlich, aber doch sehr distanziert. Mit ihren hellwachen, stechenden Augen mustert sie die Hauptkommissarin intensiv, bevor sie ihr ein Glas Wasser anbietet. Maria lehnt dankend ab. Auch sie bestätigt die Ankunft bei Erika Wagner um halb acht, auch sie beharrt darauf, dass es ein Abend wie jeder andere gewesen sei, nur mit dem Unterschied, dass diesmal Erika endlich ihren Geiz überwunden und anstatt der sonst üblichen Hausmarke Champagner gereicht habe. Auch das Essen sei wieder sehr schmackhaft gewesen, aber das sei ja nicht Erikas Verdienst.

»Worüber haben Sie sich an diesem Abend unterhalten?«

Charlotte sieht sie irritiert an. »Das können Sie sich doch wohl denken. Seit dem Beginn der Gerichtsverhandlung gab es kein anderes Thema mehr.« Der leicht gereizte Ton lässt die hohe Stimme der alten Dame noch schriller klingen. Maria schreckt zusammen, schiebt aber sofort die nächste Frage nach. »Nach dem Urteil müssen Sie doch ziemlich aufgebracht gewesen sein?«

»Nein, eigentlich nicht, eher enttäuscht. Zornig waren wir die Jahre zuvor, als wir miterleben mussten, wie Senta verzweifelt versucht hat, ihr Kind vor diesem Mann zu schützen.«

»Kennen Sie Senta Hartmann gut?«

»Gut ist vielleicht übertrieben. Irma und ich, wir kennen sie schon, seit sie ein Kind war, hatten aber in den letzten Jahren nur selten Kontakt zu ihr. Erika war es, die uns immer auf dem Laufenden gehalten hat.«

»Trauen Sie Erika Wagner einen Mord zu?«

Diese Frage kommt für Charlotte Prochnow so überraschend, dass es ihr die Sprache verschlägt.

»Das glaube ich jetzt nicht, was Sie mich gerade gefragt haben. Sind Sie von allen guten Geistern verlassen? Nur weil sie Jägerin ist und den Ermordeten kannte? Meine Güte, Sie haben vielleicht eine morbide Fantasie. Daran sollten Sie arbeiten.«

Sie erhebt sich von ihrem Sofa und gibt Maria Esser zu verstehen, dass die Befragung zu Ende ist. Der klassische Rausschmiss. Maria lässt sich nicht lange bitten.

Der Flur des Polizeipräsidiums ist hell erleuchtet, und die Fenster wirken wie schwarze Löcher. Clemens schaut hinaus, aber die Spiegelung lässt nichts erkennen. Da fällt ihm die Postkarte wieder ein, die er achtlos in die Jackentasche gesteckt hat. Er holt sie heraus und muss lächeln. Da schauen ihn seine Eltern nebst Schwester gut gelaunt an, im Hintergrund ist der Bauernhof seiner Schwester zu sehen. Er dreht die Karte um und erkennt die Handschrift seines Vaters, immer noch sehr akkurat, wenn auch etwas zittrig. Man würde ihn ja nie erreichen, und so probiere er es mal ganz konventionell mit schönen Grüßen aus dem Urlaub. Clemens schmunzelt. Und zuckt zurück, als er merkt, dass Maria neben ihm steht und die Karte liest. Sie grinst übers ganze Gesicht.

»Dich nennen sie also immer noch den Kleinen, ich glaub es nicht.« Sie lacht schallend los.

»Das gehört sich nicht, Post anderer zu lesen«, weist Clemens sie verschmitzt zurecht.

Maria kontert: »Bei Postkarten gibt es kein Briefgeheimnis, sind ja Postkarten.«

Die beiden kichern noch, als sie sich einen Espresso besorgen und zur Besprechung gehen.

»Wehe, du plauderst unser Geheimnis aus«, ermahnt Clemens Maria in gespielt strengem Ton.

»Ich halte schon dicht, mein Kleiner«, kann sich Maria nicht verkneifen. Und Clemens ahnt, dass ihm dieser Spitzname nachhängen wird.

Die Kollegen haben sich schon eingefunden, und Clemens ergreift sofort das Wort: »Das war heute ein ziemlich anstrengender Tag. Wenn nichts Ereignisreiches zu verkünden ist, dann lasst es uns kurz machen. Wir brauchen alle mal eine Verschnaufpause. Maria, wie war die Befragung der Canasta-Damen?«

»Nicht so ergebnisreich. Die sind ganz schön taff, jede auf ihre Art. Da wird munter rumgezickt, und die eine oder andere bissige Bemerkung über die jeweilige Freundin durfte ich mir auch anhören.« Maria muss einen Lacher unterdrücken und verschluckt sich so heftig, dass sie kaum Luft bekommt. »Aber dennoch, die sind eine eingeschworene Gemeinschaft, die halten zusammen wie Pech und Schwefel. Charlotte Prochnow habe ich direkt gefragt, ob sie Erika Wagner einen Mord zutrauen würde.«

»Und was hat sie gesagt?«

»Das wäre absurd, und dann hat sie mich höflich rausgeworfen.«

»Und was sagt dir dein Bauchgefühl?«

Maria überlegt. »Hm, ich kann mir schon vorstellen, dass die beiden alles tun würden, um Erika Wagner zu schützen. Übrigens, ehe ich es vergesse: Sie sind mit dem Taxi gekommen. Ich habe Maria Ndereba angerufen, die fährt sie immer, und sie bestätigte mir, die zwei pünktlich um halb acht in der Goethestraße abgesetzt zu haben. Da sie diesmal aber in Eile war, hat sie nicht gewartet, bis Erika Wagner die Tür geöffnet hat, sondern ist gleich weitergefahren.«

»Dem Namen nach könnte sie Afrikanerin sein. Dann habe ich sie heute Morgen gesehen, als sie Erika Wagner zu uns ins Präsidium gebracht hat«, erinnert sich Clemens und übergibt das Wort an Sonja Melchior.

Diese schaut kurz in ihre Aufzeichnungen und beginnt. Jutta Schmittmann, beste Freundin von Senta Hartmann, eine große, blonde Frau von mitreißender Fröhlichkeit, hat nichts Außergewöhnliches bei ihren Kindern bemerkt. Meistens saßen Senta und sie beim Plausch in der Küche, während Briest seine Tochter und Juttas Kinder im Garten beaufsichtigte. Es sei zu keinen Vorfällen, großem Geschrei oder irgendwelchen Turbulenzen gekommen. Das Gespräch mit Pascal Schmitz im Petit Salon war da schon interessanter. Er hat ihr so einiges über das bunte Volk des engeren Kreises rund um den Salon erzählt. Viele Paradiesvögel, Transvestiten, Prostituierte, aber auch Homosexuelle, Künstler, Geschäftsleute und natürlich das ›normale‹ Publikum. Senta Hartmann hat dort viele Freunde.

»Ich kam mir im Petit Salon wie in einer Scheinwelt vor. Einmal gibt es die Besucher quer durch alle Gesellschaftsschichten, vornehmlich ein mehr oder weniger kulturinteressiertes Publikum, das es auch etwas außergewöhnlich liebt. Dann die sogenannten Stammgäste, die zur ›Familie‹ gehören und auch die Abende dort verbringen, an denen es keine Veranstaltungen gibt. Am Wochenende, also samstags und sonntags, und ebenso donnerstags und freitags gibt es immer Programm, entweder Liederabende, Comedy oder Theaterstücke. Man sitzt dort an kleinen, runden Tischen, kann etwas trinken, rauchen oder auch eine Kleinigkeit essen. Ein schönes Ambiente. Nach der Veranstaltung bleibt die Bar geöffnet, sodass man den Abend gemütlich ausklingen lassen kann. Mittwochs ist nur für Stammgäste geöffnet, und Montag und Dienstag bietet der Salon seine Räumlichkeiten für geschlossene Gesellschaften an. Sind die Abende nicht ausgebucht, ist für die ›Familienmitglieder‹ geöffnet.«

Die junge Kollegin schaut in die Runde. »Es ist eine eingeschworene Gemeinschaft. Zum größten Teil Menschen, die aufgrund ihrer Lebensgestaltung anderswo eher ausgegrenzt werden und sich dort unter Freunden und Gleichgesinnten glauben. Senta Hartmann gibt regelmäßig Liederabende, ist mit dem Besitzer gut befreundet und taucht auch mittwochs auf. Pascal Schmitz meint, es käme zwar zu Reibereien oder Eifersüchteleien, wie das unter Freunden so sei, aber die Leute gehen respektvoll miteinander um. Dort werde jeder so akzeptiert, wie er ist. Eine Liste seiner Stammgäste hat der Besitzer verweigert. Herr Schmitz bittet uns, sehr diskret vorzugehen, wenn wir Befragungen durchführen müssen. Dazu hat er folgenden Vorschlag: Wir kommen an einem Mittwochabend als Gäste bei ihm vorbei, er bereitet alles vor und hofft darauf, dass seine Freunde uns Auskunft geben. Wir sollen aber bloß nicht wie Polizisten auftreten.«

Clemens ist überrascht und schaut zu Maria hinüber.

»Einen Versuch ist es wert«, lautet ihre Einschätzung.

»Ich glaube, es bringt mehr, als wahllos Leute aufzusuchen, die nicht mit uns sprechen wollen. Schmitz meinte, dass Senta sehr beliebt sei und viele Anteilnahme für ihr Schicksal gezeigt hätten. Aber ob sie zu helfen bereit seien, werde sich zeigen. Die meisten stünden auf dem Standpunkt, Briest habe es verdient.«

»Wir probieren es. Ruf bitte Pascal Schmitz gleich an und frag, ob es schon morgen Abend geht, etwas kurzfristig, ich weiß, aber uns rennt die Zeit davon.«

Er wendet sich an Hendrik: »Gibt es etwas Neues aus der Bevölkerung?«

Hendrik schaut etwas enttäuscht aus. »Nein, nicht wirklich.«

»Okay, dann war es das für heute.«

Christian auf der Heide meldet sich und fragt nach Lamberty.

»Ich habe ihm Diskretion zugesagt. Was er in der fraglichen Zeit getrieben hat, scheint mit unserem Fall nichts zu tun zu haben. Tut mir leid, dass ich euch da nicht mehr sagen kann.«

In diesem Moment geht die Tür auf, und Kreutz betritt den Besprechungsraum. »Hallo zusammen, wollte nur sagen, dass morgen zwei Kollegen bereit sind, euch in Pempelfort und am Wehrhahn bei Befragungen zur Seite zu stehen.«

Clemens bedankt sich höflich bei seinem Chef, auch wenn er es als eine Selbstverständlichkeit ansieht, dass die Streifenpolizisten sein Team unterstützen.

»Also, Sonja und Christian, ihr nehmt morgen die Kollegen mit. Und jetzt ist Feierabend.«

»Was machst du noch?«, fragt Maria auf dem Weg zu ihren Büros.

»Ich werde mir ein Glas Wein genehmigen, vielleicht ein paar Brote schmieren, falls nicht der letzte Rest in meinem Kühlschrank schimmelig ist, und nochmals über die Persönlichkeiten unserer Verdächtigen nachdenken. Übrigens, hast du mitbekommen, woran Steinbeißer sitzt?«

»Nein, keine Ahnung.«

Clemens berichtet kurz. »Mir geht die Entführung nicht aus dem Kopf. Nur so ein Gefühl. Ich werde ihn morgen mal aufsuchen.«

Clemens von Bühlow Kollektion

Подняться наверх