Читать книгу Clemens von Bühlow Kollektion - Brigitte Lamberts - Страница 13
7.
ОглавлениеSonntagmorgen Polizeipräsidium. Für Maria und Clemens war die Nacht kurz. Auch Kommissar Hendrik Flemming sieht übermüdet aus. Lediglich Jochen Mönnekes scheint genügend Schlaf bekommen zu haben. Am großen Besprechungstisch nehmen alle mit ihren dampfenden Kaffeebechern Platz, nur Hendrik schlürft grünen Tee. Der Vegetarier, der ständig vor dem Computer sitzt und körperliche Bewegung kategorisch ablehnt, versucht, sich zum Ausgleich gesund zu ernähren. Trotzdem ist seine Blässe unübertroffen. Pia Cremer ist verhindert, möchte aber nach der Besprechung informiert werden. Schoeller und auf der Heide sind noch einmal zur Wohnung von Briest gefahren und kommen später dazu.
Kaum hat Clemens seine Eindrücke über die Befragung von Senta Hartmann mitgeteilt, wird die Tür aufgerissen, und Dr. Hummel steht, wie immer ohne anzuklopfen, im Raum. Der große, breitschultrige Gerichtsmediziner mit dem mittlerweile schütteren Haar grüßt freundlich, knallt seine Aktentasche auf den Tisch und schaut gespannt in die Runde. Clemens kann sich ein Kopfschütteln nicht verkneifen, aber insgeheim bewundert er diese Effizienz, fast immer zu spät, aber nie versäumt Hummel seinen Einsatz. Clemens, der den Zeitdruck kennt, unter dem Dr. Hummel arbeitet, erteilt ihm sofort das Wort. Der Gerichtsmediziner holt Papiere aus seiner Tasche, drückt sie seinem Sitznachbarn Flemming in die Hand, erhebt sich und referiert frei die bisherigen Erkenntnisse. Ob er damit deutlich machen will, eigentlich schon auf dem Sprung zum nächsten Termin zu sein, oder ob er sich so besser konzentrieren kann, bleibt für alle ein Rätsel.
»Also, die Untersuchungen am Einschusskanal haben ergeben, dass über eine weite Distanz geschossen wurde, aus Richtung des Hochsitzes. Es handelt sich wahrscheinlich um ein Kleinkalibergewehr. Die Patrone wurde mit einer Zange herausgenommen, das umgebende Gewebe mit einem Jagdmesser ausgeschält, sodass wir weder eine Patrone haben noch über das genaue Kaliber bisher eine Aussage treffen können.«
Dr. Hummel schaut in die Runde, hebt fragend die Augenbrauen und fährt fort: »Briest wurde mit einem Jagdmesser aufgebrochen und ausgenommen. Die Untersuchung des Gewebes und der Geweberänder hat ergeben, dass es eine feststehende Klinge von knapp zehn Zentimetern war, eine sogenannte ›Drop-Point-Klinge‹. Der Klingenrücken ist leicht konvex. Dadurch wird die Spitze annähernd in die Mitte gerückt, und dies ermöglicht ein präzises Arbeiten. Der ausgeprägte Bauch der Schneide gewährleistet einen effektiven, schnellen Schnitt. Den Brustkorb hat der Täter mit einer kleinen Rippenschere geöffnet, nahe am Brustbein vorbei. Er hat ihn ausgesprochen professionell ausgenommen, da hat niemand wie ein Berserker gewütet, sondern klar denkend, konzentriert gearbeitet. Und die Reste des organischen Innenlebens von Briest, zumindest das, was die Tiere davon noch übrig gelassen haben, lagen neben der Leiche.«
Maria, die dieses Mal den Job übernommen hat, Stichworte zu den Informationen auf Karteikarten zu schreiben und an die Präsentationswand zu heften, kommt leicht ins Schwitzen. Schließlich soll kein noch so geringer Hinweis verloren gehen.
»Gibt es darüber hinaus irgendetwas Besonderes über die Gerätschaften zu sagen, mit denen der Tote verstümmelt wurde?«
»Nein, Herr von Bühlow. Die Rippenschere ebenso wie die Zange sind Standardausführungen, wie sie in der Gerichtsmedizin oder in der Chirurgie verwendet werden.«
Clemens dreht sich zu Flemming um, der vor seinem aufgeklappten Laptop sitzt. »Hendrik, recherchier doch mal, ob Zange und Knochenschere bei den Jägern zur Ausrüstung gehören.«
»Habe ich gerade gemacht. Weder Zange noch Knochenschere gehören dazu.«
Maria meldet sich zu Wort und fragt nach der genauen zeitlichen Eingrenzung des Todeszeitpunktes.
»Die Idee mit dem forensischen Entomologen war nicht schlecht.« Hummel nickt Clemens kurz zu. »In Absprache mit der Oberstaatsanwältin habe ich den kleinen Dienstweg bemüht und einen befreundeten Kollegen angesprochen. Denn diese Disziplin ist eigentlich erst dann wirklich hilfreich, wenn eine Leiche schon länger irgendwo gelegen hat. Die Untersuchung der Insekten hat uns tatsächlich ein Stück weitergebracht. Die in der Leiche abgelegten Eier der Schmeißfliege hatten ihre erste Haut schon abgestreift. Das bedeutet, wir müssen gut vierzehn Stunden zurückrechnen, dann kommen wir auf neunzehn Uhr. Das begrenzt aber nur die Zeitspanne nach hinten, die sogenannte ›Leichenliegezeit‹, und die können wir uns auch logisch erklären. Im November beginnt es weit vor achtzehn Uhr zu dämmern. Um neunzehn Uhr dreißig ist es bereits dunkel. Und der Mörder wird wohl kaum in der Dunkelheit geschossen haben, wenn man die Entfernung bedenkt.«
Als Dr. Hummel die enttäuschten Gesichter der Kommissare sieht, setzt er lächelnd hinzu: »Aber es gibt ja auch noch andere Methoden. Die Obduktion hat die Ergebnisse der Untersuchung zum Todeszeitpunkt vor Ort bestätigt: Leichenflecken, Leichenstarre, die nicht mehr vorhandene Reaktion der Gesichtsmuskulatur, ebenso das Fehlen der Pupillenreaktion und die gemessene Körpertemperatur – das alles bestätigt ein Zeitfenster zwischen sechzehn Uhr dreißig und achtzehn Uhr.«
»Das ist doch mal eine klare Ansage. Mit dem Zeitfenster lässt sich arbeiten.« Clemens ist zufrieden mit der Aussage.
In diesem Moment schiebt sich Armin Schoeller vorsichtig durch die Tür. Doch Dr. Hummel lässt sich in seinen Überlegungen nicht irritieren.
»Für die Definition des Todeszeitpunktes schon, aber für die Überprüfung der Alibis müssen wir leider doch noch etwas Zeit dazugeben. Der Täter musste erst einmal in den Wald gelangen, und das Aufbrechen hat bestimmt vierzig bis fünfzig Minuten gedauert. Das bedeutet, mit einer Zeitspanne von sechzehn bis neunzehn Uhr sind Sie auf der sicheren Seite.«
Clemens überlegt kurz, doch der plötzlich aufgetauchte Gedanke ist schon wieder weg. Also wendet er sich der Wand mit den Zetteln und Fotos vom Tatort zu. Abrupt dreht er sich um, sodass die anderen aufmerken. »Armin, wie schätzt du die Spuren am Tatort ein? Hat der Mörder einfach nur Glück gehabt wegen des Unwetters oder war das ein Profi?«
»Was verstehst du unter Profi – einen Killer?«, fragt Schoel-ler verwundert.
»Nein, einfach jemanden, der Ahnung hat.« Clemens drückt sich bewusst vage aus, um Schoeller nicht zu beeinflussen. Der streicht sich über seine Bartstoppeln.
»Ohne Regenguss wäre es für uns weniger mühsam. Aber du hast recht, er hat nicht nur Glück gehabt. Ich schätze, wir haben es mit jemandem zu tun, der etwas genauer weiß, wie man Spuren vermeidet. Dass wir keine DNA-Spuren finden konnten, liegt am starken Regen, aber wir haben noch nicht einmal Faserspuren gefunden, und das gibt mir zu denken.«
Clemens nickt Schoeller zu. »Und was hat die Durchsuchung bei Briest erbracht?«
»Auf der Heide kommt gleich, dann können wir das in kleiner Runde besprechen.« Er blickt zu Dr. Hummel hinüber, der seine Tasche schon unter den Arm geklemmt hat.
Mönnekes, der wie gewohnt unruhig wirkt, hebt die Hand. Clemens kommt ihm zuvor.
»Herr Mönnekes, wo wir jetzt alle derzeitigen Ergebnisse zusammenhaben, kommen wir zu Ihnen. Was machen wir mit den Journalisten?«
»Die haben mir den ganzen Samstag zugesetzt. Deswegen sollten wir heute auf jeden Fall eine Presseerklärung rausgeben.«
»Nein«, weist der Hauptkommissar den Vorschlag zurück, »wir gehen erst mal zu Kreutz und bringen ihn auf den aktuellen Stand. Dann halten Sie mit dem Kriminalrat nach Absprache mit der Oberstaatsanwältin eine Pressekonferenz ab. Nichts über die laufenden Ermittlungen, nur wer der Tote ist, dass wir noch ganz am Anfang stehen und in alle Richtungen ermitteln, dass er erschossen wurde und wir eine Hotline einrichten, um Hinweise aus der Bevölkerung entgegenzunehmen. Dass der Tote Jacques Briest ist, wird sich wie ein Lauffeuer verbreiten. Die Frage, ob es einen Zusammenhang mit dem Missbrauchsprozess gibt, wird garantiert kommen. Lassen Sie sich da nicht ins Bockshorn jagen. Noch ist alles offen.«
Mönnekes nickt erleichtert, auch wenn es ihn wurmt, dass er mit seinem Vorschlag der Presseerklärung Clemens wieder einmal eine wunderbare Steilvorlage dafür geboten hat, dass der ihm sagen kann, was er zu tun hat.
Und damit wendet sich Clemens dem gesamten Team zu und schaut sie nacheinander an. »Wir müssen mehr über Briest erfahren, was er so den ganzen Tag getrieben hat. Am besten stellt ihr ein, zwei Leute fürs Telefon ab und gebt eine spezielle E-Mail-Adresse an, die auf Hendriks Rechner landet. Ich könnte mir vorstellen, dass es da einige gibt, die Briest nichts Gutes wünschten.«
Clemens fährt mit den Fingern durch seine dunklen Locken und überlegt, was noch zu tun ist.
»Maria, wir müssen Kontakt mit der ARGE aufnehmen. Vielleicht erfahren wir dadurch mehr über Briests Situation.«
Maria, die gerade mit Hendrik eine Liste von Jägern durchsieht, gibt ihm ein Zeichen, dass sie verstanden hat.
»Und ganz wichtig, den Strafverteidiger von Briest befragen. Der müsste doch einiges über seinen Mandanten wissen, oder?«
Zufrieden zieht Clemens die Bürotür von Otto Kreutz hinter sich zu. Die Pressekonferenz ist für morgen, also Montag, angesetzt. Heute wird Mönnekes die Presse auf die juristischen Konsequenzen aufmerksam machen, sollten sie Bilder von Senta Hartmann vor ihrem Haus veröffentlichen. Und für den Hauptkommissar besonders erfreulich: Der Kriminalrat hat ihm Verstärkung durch zwei Kommissaranwärter zugesagt. Mit Schwung eilt er den Gang entlang zu seinem Büro. Viel zu spät sieht er die Oberstaatsanwältin, die gerade um die Ecke biegt. Obwohl er noch abbremst, spürt er bereits den heißen Kaffee, der sich über sein Hemd ergießt, und sieht einen Stapel Papiere in Zeitlupe zu Boden segeln.
»Mist«, rutscht es Pia Cremer sichtlich verärgert heraus. Mit knallrotem Kopf steht der Hauptkommissar vor ihr und senkt verlegen den Blick, da die Bluse der Oberstaatsanwältin deutliche Kaffeespuren aufweist und sich leicht die Konturen ihrer Brüste abzeichnen. Schnell reicht er ihr sein Stofftaschentuch und bückt sich, um die Akten aufzusammeln. Maria, die gerade auf die beiden zusteuert, rettet die Situation.
»Ich habe noch ein frisches T-Shirt in meiner Sporttasche. Vielleicht können Sie das überziehen?«
Pia Cremer hat sich mittlerweile wieder gefangen, doch ihr Gesicht drückt unzweideutig Missbehagen aus.
In Clemens’ Büro warten schon Schoeller, Christian auf der Heide und Flemming. »Wie siehst du denn aus?«, kann sich der Kriminaltechniker nicht verkneifen. Die drei schmunzeln, denn sie kennen die Eitelkeit ihres Kollegen nur zu gut. Clemens winkt unwirsch und geht zu einem seiner Schränke. Dort im obersten Fach liegen ständig frische Hemden, die farblich alle zu seinen anthrazitfarbenen Anzügen passen. Er greift sich das oberste, zieht das alte Hemd aus und das neue über. Kaum hat er die Hemdzipfel in die Hose gestopft, erscheinen schon Pia Cremer und Maria in der Tür. Es ist nicht zu fassen, aber selbst in einem einfachen T-Shirt sieht die Oberstaatsanwältin großartig aus.
Schnell fasst Clemens die wichtigsten Erkenntnisse der Morgenbesprechung für Pia Cremer und die erst später eingetroffenen Kollegen zusammen, dann schaut er gespannt zu Schoeller hinüber, der auf Christian auf der Heide zeigt. Der reagiert umgehend.
»Die Wohnung von Briest besteht aus einem großen Zimmer mit Kochnische und einem angeschlossenen kleineren Raum, der als Schlafzimmer dient; alles ausgesprochen gepflegt, wenn auch etwas abgegriffen. Lediglich eine grandiose CD-Sammlung mit klassischer Musik, eine Musikanlage der Superlative und ein hochwertiger Flügel sind auffällig. In den Schränken und im Schreibtisch kaum Unterlagen, weder persönliche noch berufliche, auch steuerrelevante Ordner sind nicht auffindbar. Keine Bücher in den Regalen, lediglich im Flur standen zwei große Kartons mit Büchern. Keine Bilder an den Wänden. Die Wohnung macht den Eindruck, als ob er gerade erst eingezogen ist oder dabei war, sie zu verlassen. Briest lebte dort allein, nichts wurde gefunden, was auf Besuche in jüngster Zeit hindeutet. Die Befragung der Nachbarn und des Hausbesitzers, der auch dort wohnt, hat nichts Relevantes erbracht. Es heißt, er sei ein ruhiger, höflicher Mieter, der am späten Nachmittag bei jedem Wetter joggte und selten zu Hause war. Besuch hat niemand gesehen. Was er den ganzen Tag gemacht hat – eine Anstellung oder ein Engagement hatte er ja nicht –, wissen wir noch nicht. Doch jetzt kommt der Knaller.« Auf der Heide wird sichtlich aufgeregt. »Der Vermieter und Hausbesitzer, Otto Kleinhans, schon weit über achtzig Jahre, hatte in dieser Anliegerwohnung seinerzeit sein Architekturbüro und erzählte uns von einem Safe, den er damals einbauen ließ. Total verrückte Stelle, also mach uns keinen Vorwurf, dass wir den nicht selbst gefunden haben. Wenn du den Spülkasten an der Toilette abnimmst, siehst du dahinter eine Klappe, hinter der sich der Safe befindet. Mit dem Toilettenkasten davor wirklich weder zu sehen noch zu ertasten. Gerade mal so groß, dass ein, zwei größere Sachen darin Platz finden. Kleinhans hatte Briest seinerzeit bei der Wohnungsbesichtigung darauf aufmerksam gemacht. Und wir wurden fündig: Der Safe enthielt zwei Ordner, einen mit Zeitungsausschnitten und Briefen und einen mit Fotos von Kindern, sie sind teilweise nackt. Die Identität der Kinder auf den Fotos haben wir noch nicht feststellen können.«
Hendrik Flemming meldet sich zu Wort. »Ich habe mir den Ordner mit den Zeitungsausschnitten gestern Nacht noch näher angesehen und den Computer bemüht. Die folgende Info kommt unter Vorbehalt, sie muss noch genauer recherchiert werden, und ich möchte die Kollegen in Brüssel anfragen. Also: Der Vater von Jacques Briest war Musiklehrer und wohl ein brillanter Musiker. Er saß mehrere Jahre im Gefängnis, weil ihm drei Vergehen an Schülern nachgewiesen wurden. Eindeutig Pädophilie. Daraufhin zerbrach die Familie. Jacques kam auf ein Internat für musisch Hochbegabte. Der Vater starb vor zwei Jahren an Prostatakrebs. Es sieht so aus, als wenn er auch seinen Sohn über Jahre missbraucht hätte.«
»Was sagt der Richter, der das Missbrauchsverfahren gegen Jacques Briest geführt hat?« Clemens schaut den jungen Kollegen Christian an.
»Ich habe mich kurz mit ihm unterhalten. Seiner Meinung nach war es fürchterlich, was dort abgegangen ist und wie wenig relevante Hilfe das Rechtssystem in diesem Fall bietet. Er ist fest davon überzeugt, dass Briest schuldig ist. Aber er hatte nicht die geringste Handhabe, ihn zu verurteilen.« Er hustet kurz auf. »Die Akten konnte ich mir noch nicht genau ansehen, dazu fehlte mir die Zeit.«
»Bitte kopiere die Akten dreimal: für mich, für Maria und für Hendrik. Jeder von uns sollte sie durchlesen. Ich denke, damit sind wir erst mal fertig, oder?«
Fast alle sind gegangen, nur Christian steht herum, als wenn er noch etwas loswerden will.
»Gibt es noch etwas?«, fragt Clemens irritiert, der kurz noch mit Maria gesprochen hat.
»Ich bin etwas nervös. Bei meiner Frau kann es jederzeit losgehen.«
»Ich dachte, erst in drei Wochen?«, fragt Maria besorgt nach.
»Na ja«, Christian kratzt sich verlegen am Kopf, »die Ärzte gehen davon aus, dass der Nachwuchs früher den Weg in die große weite Welt plant. Und ich mache mir halt Sorgen.«
Clemens, der seinen Kollegen sehr schätzt, versucht, ihn zu beruhigen. »Das klappt schon, du bist ja jederzeit auf dem Handy erreichbar. Und wenn es so weit ist, dann werden wir schon jemanden finden, der deinen Part übernimmt.« Es ist sowieso erstaunlich, wie Christian das alles hinbekommt, denn mit seinen knapp dreißig Jahren ist er schon Vater von zwei süßen Mädchen, und nun kommt das dritte.