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Freitag früher Abend Zooviertel. Erika Wagner kehrt durchnässt in ihre Villa im Zooviertel zurück. Sie hat es gerade noch geschafft, ihr Auto zu erreichen, bevor der Regen niederprasselte. Völlig erledigt von der Anstrengung, die hinter ihr liegt, stößt sie die Haustür auf. Schon schlägt die antike Standuhr im Eingangsbereich die volle Stunde. Die pensionierte Lehrerin ist in Eile. Sie erwartet ihre zwei längsten und – sie gesteht es sich gern ein – besten Freundinnen zum wöchentlichen Canasta-Abend. Schnell hängt sie ihre Wachsjacke auf, legt den Rucksack ab und widmet sich dem Kamin im Wohnzimmer. Es ist zwar recht warm, aber ein Feuer in den Herbst- und Wintermonaten gehört zum Freundinnentreffen einfach dazu. Schon lodern die Flammen und verbreiten einen gemütlichen Schein in dem großzügig geschnittenen Raum. Erika schaut sich um. Es ist alles vorbereitet, der Champagner liegt kalt, und das Essen hat sie wie gewohnt beim Italiener bestellt.

Schnell schlüpft sie in einen roten Rollkragenpullover und eine elegante graue Wollhose. Kaum hat sie – an diesem Tag zum ersten Mal – ihr Lieblingsparfüm Chanel No. 22 aufgelegt, klingelt es. Hastig fährt sie sich mit den Fingern durch ihre kurz geschnittenen Locken und läuft die Treppe hinunter zur Haustür, fällt fast über ihre Füße und ist genervt, als es schon wieder klingelt. »Meine Güte, ich komme ja schon.«

Als Erste schiebt sich Irma Seidlitz resolut an Erika Wagner vorbei in die breite Diele. »Du warst auch schon mal schneller.« Die Angesprochene verdreht die Augen. Ja, ihre Freundin ist ein Jahr jünger, muss das ständig betonen und auch, dass sie gertenschlank ist. Dafür rackert sie sich dreimal in der Woche in einem Studio ab. Sie selber hält es da mit dem Grafenberger Wald, den kennt sie so gut wie kaum ein anderer.

Charlotte Prochnow hingegen, die gerade ihre Dauerwelle von einer Regenhaube befreit, ist klein und rundlich, und es ist ihr egal. Sie isst gern, was sie so fit hält wie Sport, und widmet sich ihrem liebsten Hobby: Sie ist steinreich.

Die drei sind Schulfreundinnen aus ehemals wohlhabenden schlesischen Familien, aufgewachsen in einem Ort in der Nähe von Görlitz, dann die Flucht, die Trennung. Nach dem Krieg suchten sie einander und fanden sich wieder. Wie der Zufall es wollte, hatte es sie alle ins Rheinland verschlagen.

Irma Seidlitz hatte nach dem Krieg in Düsseldorf eine kaufmännische Ausbildung absolviert und Karriere gemacht. Sie gehört zu den wenigen Frauen ihrer Generation, die eine Führungsposition in einem Unternehmen bekleideten. Privat lief es leider nicht so gut. Ab und an ein Geliebter, aber den Traummann sucht sie immer noch. Dafür hängt sie abgöttisch an ihren drei Katzen, was ihr immer wieder spitze Bemerkungen der Freundinnen einbringt.

Ganz anders Charlotte Prochnow. Sie heiratete nach dem Krieg einen Heimkehrer aus dem Rheinland, der bald an seiner Kriegsverletzung starb. Dann kam Mann Nr. 2. Und Nr. 3. Und schließlich Nr. 4. Alle gestorben. Seitdem sieht Charlotte alles immer schwarz und das Glas halb leer. Aber jedes Mal war das Erbe größer als das vorangegangene. Nun hat sie die Nase voll. Ein Freund, wenn es sich denn ergibt, ist in Ordnung, aber sie wird nie wieder den Bund der Ehe eingehen, denn sie ist davon überzeugt, dass sie ihren Ehemännern Unglück bringt.

Die Gastgeberin Erika Wagner ist wie Irma nie eine Ehe eingegangen. Stattdessen hatte sie über dreißig Jahre eine glückliche Beziehung zu einem verheirateten Mann. Er starb vor zwei Jahren, für sie ein schwerer Schlag, denn es war trotz aller Umstände eine sehr innige Beziehung gewesen. Ihre Arbeit als Lehrerin für Sport und Deutsch am Luisen-Gymnasium in der Carlstadt hat sie sehr ausgefüllt und dafür gesorgt, dass sie wie ihre Freundinnen gesund und fit ist. Gegen die altersbedingten Wehwehchen helfen Sekt und leckeres Essen. Außerdem ist sie vielseitig interessiert, ständig unterwegs, sie geht oft auf die Jagd, macht tägliche Spaziergänge und hat im Ruhestand mit Golfen angefangen. Doch das Leben der drei hätte sich nicht unterschiedlicher entwickeln können, nur in Sachen Disziplin, Durchsetzungskraft und Sturheit sind sie sich sehr ähnlich.

Die Freundinnen betreten das Wohnzimmer und setzen sich in ihre Lieblingssessel am Kamin. Jede hat ihren eigenen Platz, denn schon seit über vierzig Jahren spielen sie miteinander – komme, was da wolle –, nur ein Ballettabend in der Düsseldorfer Oper könnte sie davon abhalten. Außerdem behauptet Irma, dass sie auf diese Weise viel positive Energie angesammelt hat, die ihr beim Siegen hilft.

Heute ist ein besonderer Tag. Statt des üblichen Sekts zur Begrüßung präsentiert Erika Champagner. Charlotte, die ausschließlich Champagner trinkt und sich immer über Erikas Hausmarke beschwert, bemerkt in leicht gereiztem Ton:

»Es gibt ja wohl nichts zu feiern?«

Denn heute ist kein Tag der Freude.

»Wie man’s nimmt. Jetzt ist es immerhin vorbei«, antwortet Erika. Die Resignation in ihrer Stimme ist nicht zu überhören.

Sie alle wissen, worum es geht. Heute wurde am Düsseldorfer Landgericht das Urteil in einem Missbrauchsprozess gesprochen. Die Besonderheit: Das missbrauchte Kind Marie Hartmann ist geistig behindert. Erika war bei allen Verhandlungstagen im Gerichtssaal. Sie ist seit vielen Jahren mit der Familie Hartmann befreundet, auch mit der Mutter von Marie, Senta Hartmann, die als Nebenklägerin auftrat.

Wie zu erwarten war, wurde der angeklagte Vater nach der Maxime »Im Zweifel für den Angeklagten« freigesprochen. Der Missbrauch stand für viele außer Zweifel, aber der Beweis, dass der Vater der Täter war, konnte nicht ausreichend erbracht werden. Die Enttäuschung ist groß, auch wenn die drei Freundinnen ahnten und viel darüber diskutierten, dass das Verfahren so ausgehen würde.

»Ich verstehe das nicht«, ergreift schließlich Charlotte das Wort, »der Oberstaatsanwalt hätte doch nie ein Strafverfahren geführt, wenn er nicht eine Chance auf Verurteilung des Vaters gesehen hätte.«

»Wir waren anfangs ja auch sehr optimistisch«, erwidert Erika. »Es spricht alles dafür, dass er Marie missbraucht hat. Aber aufgrund ihrer Behinderung werden ihre Aussagen anders bewertet als Aussagen von Kindern ohne eine solche Behinderung. Das haben wir wohl alle unterschätzt.«

Irmas Augen blitzen auf. Heftig fuchtelt sie mit ihrer wie gewohnt viel zu beringten Hand vor Erikas Gesicht herum. Die reagiert prompt.

»Irma! Wie oft soll ich dir … !«

»Schon gut.« Irma zieht ihre Hand zurück.

»Was mich nur so ärgert, ist die Tatsache, dass Marie bereits mit vier untersucht wurde, und zwar kindergynäkologisch. Du hast uns ausführlich erklärt, was das bedeutet, und man hat damals – wie lange ist das jetzt her? –, na ja, man hat jedenfalls damals schon Verletzungen bei ihr festgestellt, im Genitalbereich.«

Erika nimmt einen kräftigen Schluck und setzt dann ihr Champagnerglas etwas unsanft auf dem gläsernen Beistelltisch ab.

»Und nie hat man Spermien oder sonst etwas gefunden, obwohl Marie mehrmals gesagt hat, dass ihr Vater sie missbraucht hat. Keine Beweise, keine Verurteilung. Dabei sind die Folgen des Missbrauchs nun wirklich mehr als deutlich. Das arme Kind! Diese ständigen Angstattacken, die Essstörungen – es ist einfach furchtbar! Und der Vater? Ist wieder frei, einfach so. Eine Schande ist das! Und dann dieser Strafverteidiger!« Erika hat sich in Wut geredet und ist kaum zu stoppen. Charlotte und Irma lassen sie gewähren, die Wut muss schließlich raus. »Hat dieser abgefeimte Mensch nichts anderes zu tun, als Marie Fangfragen zu stellen? Ständig die gleiche Frage, nur immer wieder anders formuliert. Führt Marie einfach so vor, und niemand greift ein.«

Irma schüttelt den Kopf. »Tolles Rechtssystem. Da hat ein geistig behinderter Mensch doch gar keine Chance auf Gerechtigkeit.«

»Und dabei ist die Dunkelziffer an Missbrauchsopfern unter geistig behinderten Menschen wesentlich größer als bei Gesunden. Stellt euch das mal vor, das ist doch grauenhaft.«

Für eine kurze Zeit ist nur das Knistern der Holzscheite zu hören. Die Freundinnen hängen ihren Gedanken nach. Es waren aufregende Wochen für sie.

Charlotte nimmt den Faden wieder auf. »Wie hat sich eigentlich der Vater von Marie heute verhalten?«

»Der hat völlig unbeteiligt dagesessen und keine Miene verzogen. Ich habe mich gefragt, ob er vielleicht irgendetwas eingenommen hat. Aber egal, der Mann hat doch sowieso kein Herz. Den lässt es doch vollkommen kalt, was er Marie angetan hat.«

»Schon nach den ersten Verhandlungstagen habe ich euch gesagt, das wird nichts«, ereifert sich Charlotte.

»Du siehst doch immer alles pessimistisch«, zischt Erika zurück. »Wir mussten es immerhin probieren.«

»Ich weiß, Erika«, erwidert Charlotte, »aber im Gegensatz zu dir ist der Preis, den Senta und Marie bezahlen, sehr hoch. Allein die emotionale Belastung während der Verhandlung.«

Doch bevor Erika etwas erwidern kann, versucht Irma, das Gespräch in ruhigere Bahnen zu lenken: »Wie hat Senta denn das Urteil aufgenommen?«

Erika seufzt: »Ihr ist alle Farbe aus dem Gesicht gewichen. Ich habe geglaubt, sie wird ohnmächtig oder bekommt einen Weinkrampf. Aber weder das eine noch das andere ist passiert. Sie ist einfach nur auf ihrem Stuhl zusammengesunken und wirkte wie abwesend.«

Erika hebt Aufmerksamkeit heischend die Hand.

»Aber wer hatte dafür einen großen Auftritt heute? Erinnert ihr euch noch an Sieglinde Frank, die früher Marie betreut hat? Eine alte Schulfreundin von Senta. Gut, sie ist manchmal etwas herb und direkt, aber dass sie vor allen Anwesenden aufsteht und Briest als pädophiles Schwein beschimpft, hätte ich ihr nicht zugetraut.«

»Was hat sie gesagt?«, fragt Charlotte aufgeregt nach.

»Im Wortlaut weiß ich es nicht mehr. Es war so etwas wie ›Du wirst dich jedenfalls nie wieder an Kindern vergreifen‹.«

Erika trinkt ihr Glas leer. Nach kurzer Pause erfolgt ihr Schlusswort, Irma und Charlotte kennen das von ihr. »Recht und Gerechtigkeit sind eben zwei verschiedene Paar Schuhe. Und es zeigt sich wieder einmal, dass das juristische Denken vollkommen konträr zum alltäglichen Rechtsempfinden ist. Doch Gott sei Dank gibt es ja eine höhere Gerechtigkeit. Auch dieser Herr Briest steht einmal vor seinem Schöpfer.«

Erstaunt schauen sich Irma und Charlotte an – das aus Erikas Mund, die nun wirklich keine Gläubige ist.

In diesem Moment klingelt es. Vittorio Bertoni, ein junger Aushilfskellner ihrer Lieblingstrattoria, bringt das Essen, pünktlich um zwanzig Uhr. Da die Canasta-Runde zu den festen Stammgästen des Italieners gehört, bespricht die jeweilige Gastgeberin zuvor stets mit dem Küchenchef das Menü, meist etwas Besonderes, das nicht auf der Karte der Trattoria Baccala in der Heinrichstraße steht. Heute gibt es Fischsuppe mit Baguette als Vorspeise, Perlhuhn auf Schalotten mit Nudelvariationen als Hauptgericht und als Nachtisch Mousse au chocolat, dazu einen Montepulciano.

Beim Essen wird das Thema fallen gelassen. Schon zu oft haben die Frauen darüber gesprochen. Um die latente Traurigkeit, die sich eingeschlichen hat und die auch das exzellente Essen nicht ganz vertreiben kann, in den Griff zu bekommen, ringen sie sich dazu durch, dennoch zu spielen. Die drei sind alles andere als oberflächlich, doch im Laufe der Jahre und vor dem Hintergrund dessen, was sie erleben und erleiden mussten, ist das Beiseiteschieben, das Ablenken, zu einer wohltuenden Verhaltensregel geworden.

Wie immer wird das Spiel hitzig, da keine von ihnen verlieren kann. Erika schummelt, was das Zeug hält, Irma stellt immer neue Regeln auf, und Charlotte fegt schon mal die Karten vom Tisch. Weit nach Mitternacht löst sich die Runde auf. Charlotte und Irma nehmen sich wie jedes Mal ein Taxi mit ihrer ganz persönlichen Chauffeurin. Sie ist Afrikanerin, groß und kräftig, und besitzt ein ausgesprochen humorvolles Gemüt, sodass die Fahrten mit ihr immer zu einem Erlebnis werden, vor allem wenn andere Verkehrsteilnehmer sich rücksichtslos verhalten; dann kann man durch Maria seinen Wortschatz ungemein erweitern. Sie ist selbstständige Taxi-Unternehmerin und hat einen kleinen Kreis von Stammkunden, für die sie jederzeit da ist, auch in Notfällen. Maria bringt die Damen nach Hause und begleitet sie jeweils bis zur Haustür. Wie immer, so auch diesmal, sind Irma und Charlotte beschwipst, das ist normal nach einem Canasta-Abend.

Clemens von Bühlow Kollektion

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