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Kapitel 18

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»Kann ich dich mal was fragen?« Georg und Constanze nutzten ihre Freistunde und schlenderten gemeinsam durch den Park. Der Herbst hatte Einzug gehalten und die Blätter an den Bäumen bunt gefärbt, aber die Sonne schien noch angenehm warm. »Klar, was gibt es denn?« Georg hob eine Kastanie vom Boden auf und betrachtete sie. »Was ist eigentlich mit Toni Marcello passiert?« Constanze hatte ihr Gesicht der Sonne zugewandt und hielt die Augen geschlossen, deshalb entging ihr völlig, dass Georg kurz zusammenzuckte und blass wurde. Er zwang sich jedoch, mit ruhiger Stimme zu antworten. »Toni, er hat sich letztes Schuljahr das Leben genommen.« »Das ist ja furchtbar!« Nun sah Constanze ihm direkt ins Gesicht und er hoffte, dass er sich soweit in der Gewalt hatte, dass seine Gesichtszüge ihn nicht verrieten. »Ja, es war schrecklich. Er ist eines Tages aus der Schule verschwunden. Man fand ihn nach dreitägiger Suche schließlich, als er am Rheinufer angespült wurde. Er war offenbar von einer der Brücken gesprungen.« »Wie schlimm! Weiß man denn, warum er es getan hat?« »Nein, er hat keinen Abschiedsbrief hinterlassen. Zumindest hat man nie einen gefunden. Seine Eltern waren auch völlig ratlos und geschockt.« »Das kann ich mir vorstellen. Oh, Georg, wie furchtbar muss das für die Eltern sein, ihr Kind zu verlieren und nicht einmal zu wissen, warum.« Constanze schloss wieder die Augen und eine einzelne Träne löste sich aus ihren Wimpern. »Seine Freunde konnten uns auch nicht viel weiterhelfen. Ich glaube, du unterrichtest diese Klasse in Musik, Tom Sturm, Henry Zilm und Alex Fischer.« »Das waren seine Klassenkameraden?« »Ja und sie waren, soweit ich weiß, Freunde. Jedenfalls teilten sie sich ein Zimmer, bis letztes Jahr.« »Wie furchtbar!« sagte Constanze noch einmal und sah Georg an: »Wie bist du damit umgegangen? Es hat dich ja sicherlich auch betroffen.« »Es hat uns alle betroffen.« entgegnete Georg rasch und wich Constanzes klaren blauen Augen aus, in denen sich eine Mischung aus Sorge und Bestürzung spiegelte: »Ich hatte nicht sonderlich viel mit den Vieren zu tun, aber natürlich fragt man sich auch als Lehrer, ob man da etwas falsch gemacht hat.« Er wandte sich von Constanze ab und wechselte blitzschnell das Thema. »Schon so spät!« rief er und sah auf die Uhr: »Ich muss dringend noch was für den Unterricht vorbereiten. Heute zeige ich in einem chemischen Experiment, was passieren kann, wenn man chlorhaltige mit säurehaltigen Reinigungsmitteln mischt.« Er lächelte kurz und verschwand, Constanze blieb nachdenklich zurück. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, das Georg ihr etwas verschwiegen hatte, aber dann rief sie sich zur Ordnung. »Unsinn! Du würdest auch nicht gern darüber reden, wenn du miterlebt hättest, dass sich einer deiner Schüler das Leben genommen hat.« sagte sie zu sich selbst, aber ein gewisses Gefühl blieb.

Als Georg die Schule erreicht hatte, atmete er auf. Die Frage nach Toni hatte ihn völlig unvorbereitet getroffen. Woher wusste Constanze von ihm, fragte er sich, aber dann fiel ihm ein, dass ja eine Todesanzeige in der Zeitung gestanden hatte. Da hatte sie den Namen gelesen und es war ganz natürlich, dass sie danach fragte. Aber warum in aller Welt musste sie von allen Lehrern an dieser Schule gerade ihn fragen? Sie konnte nicht wissen, dass er damals der Klassenlehrer gewesen war, oder wusste sie es doch? Hätte er es ihr sagen sollen? Er wusste es nicht, doch aus irgendeinem bestimmten Grund hatte er ihr das verschwiegen. Sie hätte ihn sonst womöglich mit Fragen gelöchert, warum er, als Klassenleiter, nicht mitbekommen hatte, was in seiner Klasse vor sich ging. Doch das war ja noch längst nicht alles, denn er hatte nicht nur weggesehen, sondern selbst mit in die Kerbe gehauen und den Jungen dadurch zusätzlich unter Druck gesetzt. Statt ihm als Klassenlehrer den Rücken zu stärken, hatte er sich auf die Seite seiner Peiniger gestellt. Warum? Diese Frage hatte er sich selbst schon zum ungefähr tausendsten Mal gestellt und er hätte sich mit den Antworten, es wäre seine erste Klasse und er wäre überfordert gewesen, zufrieden geben können. Doch er glaubte, Constanze hätte diese Antworten nicht einfach so akzeptiert. Es war besser, wenn sie nichts von seinen Verwicklungen in diese Angelegenheit erfuhr. Sie würde es nicht verstehen. Constanze war jetzt genauso alt, wie er damals, als er diese Klasse übernahm und doch schien sie ihm so viel reifer als er gewesen war. Sie hatte mit ihrer offenen, ruhigen aber gleichzeitig sonnigen und lebensfrohen Art, sofort einen Draht zu den Schülern gefunden und war sogar zur Vertrauenslehrerin gewählt worden. Die Kollegen schätzten sie sehr und sie hatte immer ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte ihrer Schüler. Georg bewunderte sie insgeheim für ihre Stärke und ihre Gabe, immer die richtigen Worte zur richtigen Zeit zu finden. Deshalb fiel es ihm auch so schwer, ihr die Wahrheit über Toni zu erzählen. Er schämte sich vor ihr, doch was geschehen war, war geschehen und nicht mehr rückgängig zu machen, er konnte nur sein Bestes geben und es bei seiner diesjährigen fünften Klasse besser machen.

Confiteor Deo

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