Читать книгу Also schrieb Friedrich Nietzsche: "Zuletzt wäre ich sehr viel lieber Basler Professor als Gott; aber ..." - Christian Drollner Georg - Страница 11

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1849

Aus dem Bereich der Weltgeschichte ist für dieses Jahr nichts zu vermelden, was irgendwie und wann einen bemerkbaren Einfluss auf N genommen haben könnte.


Am 8. Februar 1849 schrieb die Mutter an ihre Freundin:

Schwester Riekchen [eine Schwester des Vaters] aus Naumburg tröstete zwar, dass das Einschlafen der Glieder einmal ein Familienstück wäre und dass sie am Ende alle diesen organischen Fehler hätten und der gute selige Papa [also der Großvater Ns] auch daran gelitten und ein hohes Alter erreicht habe.


Am 8. März 1849 hieß es dann:

Ach, wir durchleben jetzt auch in Hinsicht unseres Häuslichen eine wahre Passionszeit ….. denn das Liebste auf der Welt menschlichen Ansichten nach hoffnungslos zu wissen, ist ein Gedanke, welcher Mark und Bein durchdringt und wo man das Bedürfnis einen lieben himmlischen Vater [jenseits aller Logik im guten Glauben an einen lieben, dies zulassenden Gott!] noch zu haben, dessen allein helfende Hand alles noch zum Besten wenden kann, erst recht schätzen und kennen lernt ….. Der Kranke hat zu wenig Kraft zum selbst essen, kann alle Sätze nur anfangen aber nicht vollenden ….. Der Hofrat Oppolzer diagnostiziert teilweise Gehirnerweichung …..


Am 4. April 1849 schrieb Ns Mutter:

Aber dieses Denken und nicht richtig ausdrücken [können] scheint ihm sehr peinlich und angreifend zu sein, er schüttelt auch allemal verdrießlich [den Kopf], wenn er nicht so gesprochen wie er gedacht. Nun bei Gott ist nichts unmöglich und deshalb empfehlen wir [in einer in jederlei Hinsicht offenbarten Hilflosigkeit] unsern guten Leidenden immer seinem Schutz und seiner gütigen Hilfe ….. Fritz und Lieschen sind jetzt viel auf dem Hof, wo sie auf dem daliegenden Holze herumklettern und sich wiegen …..


Am 30. April 1849 schrieb die Mutter über den Zustand ihres Mannes:

Leider kann ich immer noch nicht von sichtbarer Besserung schreiben, aber auch nicht von Verschlimmerung, sondern es geht jetzt egal fort, dass wir immer noch zu Gott hoffen, dass er ihm seine Körper- und Geisteskräfte wieder schenken soll …..


Am 20. Juli 1849 hieß es:

Ach Gott meine liebe Freundin mit so traurigem Herzen als diesmal habe ich noch nicht an Sie geschrieben, denn die Schwäche bei unserem armen Kranken, das viele Schlafen und dass er seit einigen Tagen fast kein Wort spricht, macht uns oft große Sorge und Jammer, doch wenn man ihn so in seinem Bett liegen sieht, wie in diesem Augenblick, wo ich schreibe, gibt man sich der besten Hoffnung hin.


In diesen Zeugnissen, die aktuell aus der Leidenszeit des Vaters stammen, weist nichts auf einen Treppensturz, aber viel auf Parallelen zu Ns, allerdings über weit längere Zeitspannen hin anhaltenden „Zustände“ zwischen Leben und Sterben hin, die ihrer wahren Ursache nach letztlich - außer der Tatsache, dass es so, wie er es ertragen musste, um ihn stand! - dem mangelhaften medizinischen Kenntnisstand gemäß! - ungeklärt geblieben sind und sich auch im nachherein nicht mehr auf eine bestimmte, rein äußerlich nur verursachte Art und Weise, werden erklären lassen. Es liegt ansonsten genug Fragwürdiges in Ns Lebensablauf vor. Die „Treppensturz“-Version war eine Erfindung der Schwester, die N in seine späteren Lebensbeschreibungen übernommen hat und von der Mutter erstmals in einem Brief aus dem Jahr 1890 Erwähnung fand: Nachdem ihr Sohn eindeutig dem verfallen war, was der „Normale“, der den „gedanklichen“ Vorgängen eines anderen nicht mehr folgen kann, mit „Wahnsinn“ bezeichnet; dabei aber gab es lange vor dem Ausbruch von Ns „Wahnsinns“ Vieles, was „normalerweise“ - als Folge logischer Abläufe in der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit! - vollkommen unverständlich erscheinen musste!


Am 30. Juli 1849 starb der Vater nach elf Monate langem, sehr schmerzhaften Leiden, Erblinden und Dahinsiechen an Gehirnerweichung, wobei er ab März auch noch die Fähigkeit zu sprechen verlor, im Alter von nur knapp 36 Jahren. Seitdem blieb die Erziehung des noch nicht fünfjährigen N mit seiner Schwester im Wesentlichen seiner Mutter, der Großmutter und zwei Tanten väterlicherseits überlassen. Neben seiner zwei Jahre jüngeren Schwester wuchs er in einem reinen Frauenhaushalt ohne eine eigentliche „Respektsperson“ auf und war somit ständig der einzige „Mann“, der als solcher viel Einfluss auf die Schwester ausübte, die ihm aber, was das Lebenspraktische anbetraf, von ihrem Wesen her sehr bald überlegen war. In den Lebenszeugnissen der Schwester weist nichts darauf hin, dass sie mit irgendwelcher besonderen Intelligenz ausgestattet gewesen wäre. Sie verstand sich in ihrer auch recht ausgeprägten Selbstmittelpunktlichkeit nur wesentlich besser auf die Raffinessen und Winkelzüge „des Lebens“.


Über ihre Situation zu dieser Zeit schrieb die ihrer Umwelt gegenüber normalerweise überdurchschnittlich aufgeschlossene, aber eben sehr gottgläubige Mutter fast 30 Jahre später, am 3. März 1877 ihrem inzwischen längst zum Herrn Professor gewordenen, schwer an einem ungeklärten Kopfleiden laborierenden Sohn, der während einer beruflichen „Auszeit“ von einem Jahr in Sorrent, nahe Neapel weilte, unter anderem:

Jetzt hatten wir auch mehrere Wochen nach einander wunderschöne Vorlesungen, so auch gestern über „Kreuz und Kruzifix im christlichen Altertum“ von einem Superintendenten aus Wernigerode und vorher von Predigern Oberlehrern und Jenaischen Professoren und mussten recht bedauern, eben nicht in einer Universitätsstadt zu leben, wo man derartige Genüsse öfter hat, so allein vorzüglich, verdummt man, auf Deutsch gesagt, und ich preise deshalb Lieschens [sonst häufiges] Zusammensein mit Dir, wovon sie mir dann allemal etwas geben muss. Ich fühle aber dass meine Schuldbildung zu mangelhaft gewesen ist und unser Sinn mehr auf praktische und nützliche Arbeit gerichtet wurde [was N in dieser Form nie vermisst hatte!], woran es bei elf Kindern [bei ihr zu Hause in Pobles], wenig Mitteln und einen dienstbaren Geist [ein Hausmädchen nur] nicht fehlte, dann verheiratete ich mich mit 17¾ Jahren, wo ich noch was ich überhaupt noch weiß, von meinen so begabten lieben Herzensmann hörte und nach Jahr und Tag kam mein Fritzchen, dann mein Lieschen dann mein Josephchen, denen dann alle meine Zeit und Kraft gehörte [was letztlich dann ab 1889 in einer gut siebenjährigen Pflege des geistesgestörten Sohnes bis in ihre letzten Tage hinein seinen Abschluss fand].

Dazu kam dann diese Herz und Mark erschütternde elfmonatige Krankheit dieses meines heiß und innig geliebten Mannes, der überaus schmerzliche Verlust, ½ Jahr darauf der Verlust des köstlichen Kindchens [„Josephchen“] und meine Körperkraft war von all den Stürmen gebrochen, so dass ich nach dem Aufsteigen einer Treppe z.B. auf der obersten Stufe erst lange ruhen musste, um weiter gehen zu können und mein schönster Gedanke war damals, als 23-jährige, bald recht bald mit meinem Heißgeliebten [ihrem Mann - im Tod! - was schließlich nicht viel bringen würde!] vereinigt zu sein. Doch Gottes Wille war anders als der meine. Er schenkte mir wieder Kraft, mich dem Werke der Erziehung Eurer zu widmen und so war hauptsächlich mein Zweck darauf gerichtet, Euch alles das Lernen zu lassen, wo ich fühlte, was mir fehlte, indem ich den damaligen Ausspruch der Fr. Geheimrätin Lepsius so richtig fand, die eben auch dieses befolgte und darum die Privatstunden ihrer Kinder (zum Schrecken der Lehrer) selbst überwachte. Der liebe Gott legte seinen Segen darauf und so sind meine beiden jungen Seelen eigentlich meine kleinen Comentatoren [die etwas erklären, erläutern - „mit Sinn füllen“ dürfte hier gemeint sein!], die mir immer fehlen, wenn ich sie nicht bei mir habe und Herz und Geist verarmt und man möchte sich gern mit der ganzen Glut der Mutterliebe an sie ketten, denn was ist einer Mutter lieber, werter, in diesem armen Menschleben und unvollkommenen Erdenleben als ihre Kinder. 3.3.77

In diesem gläubig beschränkten, aber doch wachen und wahrhaft weitsichtigen Geist wuchsen die Geschwister N auf. Behütet und umsorgt von der Mutter, die sich nebenbei, belastet mit der Anwesenheit der mitbestimmenden Schwiegermutter und den beiden Tanten, doch immer wieder durchzusetzen verstand oder Kompromisse zu erreichen hatte; - in einer unvollkommenen „Großfamilie“, die, wie überall anders auch, sicher nicht ohne problematische Seiten für das einzige „männliche“ Familienmitglied war, das dabei sicherlich einige eigenartige Methoden erfand, um auf weiblichen Geschmack zugeschnittene Aufmerksamkeit, der er in besonderem Maße bedurfte, zu erlangen.


1850


Preußen erhielt eine von der Obrigkeit erlassene „Verfassung“ nach dem Dreiklassenwahlrecht. Von Richard Wagner erschien „Lohengrin“. Der deutsche Chemiker Robert Wilhelm Bunsen, 1811-1899, verfasste den 2. Hauptsatz der Wärmelehre, dass nur ein Teil der Wärme in mechanische Arbeit übersetzt werden kann. Der französische Physiker Jean Bernard Léon Foucault, 1819-1868, demonstrierte mit einem Pendel die Erdrotation. Die industrielle Massenproduktion hat sich in Deutschland in diesem Jahr seit 1800 etwa versechsfacht.


Im Februar 1850 starb der zuletzt geborene Bruder Joseph, - an Krämpfen beim Zahnen. 1858, acht Jahre später, wollte N sich dann daran erinnert haben dessen Tod vorausgeträumt zu haben. Genaueres dazu folgt in dem Jahr, in dem N diese angebliche „Tatsache“ niederschrieb, - übrigens als eine der ersten im ersten seiner vielen „Rückblicke auf sein Leben“, womit Ns sogenannten „Jugendschriften“ beginnen werden, - denn mit dem wachsenden, ihm zugeschobenen „Ruhm“ wurde, wie bei „Jesus im Tempel“, weit in die Kindheit zurückblickend, jeder Regung und jedem Geschreibsel von N überproportionale Bedeutung zugemessen.


Nachdem N Anfang 1889 unwiderlegbar als wahnsinnig geworden zu gelten hatte und dadurch mit wenig mehr als 44 Jahren unfähig war, selber noch irgendetwas entscheiden zu können, stellte die Schwester Elisabeth ab 1891 alles, was ihren Bruder betraf unter das Herrscheramt ihrer Darstellungshoheit und behauptete in ihrer Biografie, jeden Widerspruch dagegen auch juristisch bis in die höchsten Instanzen hinein unterdrückend:

„Es hilft alles nichts, ich muss es gestehen, wir waren ungeheuer artig, wahre Musterkinder! ….. Ich würde gern einen tollen Streich oder etwas recht Ungezogenes erzählen, aber es fällt mir nichts ein ….. Bei alledem konnte man uns nicht dressierte Kinder nennen - im Gegenteil! Von früh bis Abend erfüllten uns phantastische eigene Pläne und Einfälle, wir wählten uns aber zu ihrer Ausführung Bahnen, welche Mutter und Verwandte nicht missbilligen konnten.

So schrieb die wie N sehr selbstmittelpunktlich veranlagte, in spätere Jahren extrem auf den Bruder fixierte Schwester in ihrer Biografie des Bruders, die viel legendenhaft Verfälschendes über N und kaum etwas von der Mutter in behäbigen Umlauf brachte. Von ihr darf nicht alles für bare Münze genommen werden, denn bei ihr war alles, was auch nur entfernt eine Beziehung zu ihrem Bruder hätte haben können „ungeheuer Musterhaft“ und vorbildlich, auf dass ja kein Makel seine superlative Herrlichkeit trüben würde. Wie es hinter den Kulissen wirklich ausgesehen hat, ging außer ihr niemanden etwas an. Sie entwickelte sich dabei zu einer Meisterin der Verdrängung und stand darin, die „Dinge“ in ein ihr günstig erscheinendes Licht zu rücken, den „philosophischen“ Ansichten ihres Bruders in nichts nach. So berichtete sie, lt. Sander L. Gilmans Zusammenstellung von Zeitzeugenäußerungen:

Unsere lebhafte Phantasie vergoldete Alles, was uns in den Weg kam, selbst Zeiten der Krankheit; wir haben immer die Masern als die herrlichsten Kindheitserinnerungen gepriesen. Wir hatten sie nämlich zu dreien. Fritz fing an, dann kam unsere Mutter und ich zuletzt. Natürlich waren wir von der ganzen anderen Welt abgesperrt, wurden von Großmütterchen und den Tanten auf das Herrlichste gepflegt und hatten nun, als wir besser waren, den ganzen langen Tag zum Spielen. Fritz war äußerst erfinderisch das gewöhnlichste Ereignis zum ergötzlichsten Spiel umzugestalten [es herauszuheben aus der nüchternen „Realität“ und es „geadelt“ und entsprechend seinem Geschmack umgewertet „den Anderen“ als von ihm erschaffen hinzugeben, dass sie es annehmen, was sie auch taten]; z.B. wurde das Butterbrot zur Vesper in einzelne, kleine Teile geschnitten, das waren dann Schafe, eine Rinde bildete die Brücke zu der großen Milchstraße, die das Meer vorstellte. Nun musste ich der Zyklop Polyphem sein [eine Figur aus Homers Irrfahrten des Odysseus!], wozu allerdings eine starke Phantasie gehörte. Um wenigstens eine Ähnlichkeit hervorzurufen, band mein Bruder mir das eine Auge zu [denn Polyphem hatte nur eins, inmitten der Stirn; - Dass N der Schwester - wenn man die ganze Geschichte überhaupt glauben darf! - ein Auge zuband, verrät Ns queres Verhältnis zu einer ihm nötigen „Pseudorealität“, wie er es immer wieder beweisen sollte!]. Jetzt hatte ich meine Schafe glücklich hin und her zum Baden im Meer zu bringen, während Fritz als räuberischer Odysseus [eins davon] zu stehlen versuchte. Er baute mit Büchern Hinterhalte und wenn ich am wenigsten daran dachte, kam seine Hand hervor und raubte ein Schäfchen …..

Mein Bruder und ich hatten uns eine phantastische [Parallel-]Welt geschaffen, in der sich winzige Porzellanfiguren, Darstellungen von Menschen und Tieren, Bleisoldaten usw. bewegten, alles um einen einzigen Mittelpunkt, ein kleines Eichhörnchen von Porzellan, 3½ cm hoch, „König Eichhorn der Erste“ genannt [für den N auch königliche Siegel und Wappen entworfen hatte]. Wie dies Eichhörnchen zu seiner Königswürde gekommen war, ist mir nicht mehr erinnerlich, vielleicht wurden wir nur durch die rote Farbe des Fellchens, das wir als seinen Königsmantel betrachteten, dazu verführt. Wir haben nie den geringsten Anstoß daran genommen, dass ein Eichhörnchen eigentlich nichts Königliches an sich hatte. Wir fanden, dass es eine durchaus verehrungswürdige Persönlichkeit sei und ihm die kleine goldene Krone, die ich [als damals Vierjährige] aus Goldperlen gemacht hatte und mit Wachs anklebte, reizend stand.

Alle Bauten meines Bruders waren König Eichhorn zu Ehren, alle musikalischen Produktionen verherrlichten ihn [den ersten Kristallisationspunkt von Ns Bedürfnis nach Superlativen!]; zu seinem [wohl 6.] Geburtstag gab es große Aufführungen: Gedichte wurden vorgetragen, Theaterstücke gespielt, alles von meinem Bruder verfasst [und in der Belobigung durch die weibliche Umgebung von diesem als Erfolge erlebt!] ….. Fremde wurden nur selten in unsere Märchenwelt eingeweiht, selbst die Freunde Wilhelm [Pinder] und Gustav [Krug, zwei Cousins die in Naumburg mit N aus Freundschaftszeiten der Großmütter von den dreien zusammenkamen] bekamen höchstens eine große Truppenparade zu sehen, wobei die Hauptsache natürlich war, dass man mit seinen Regimentern gut vor dem königlichen Herrn [„König Eichhorn“] vorbei kam. König Eichhorn thronte in einem offenen griechischen Tempel, Stufen mit rotem Tuch belegt führten zu ihm hinauf, zur Seite stand der Hofstaat und der Generalstab. Nun mussten die auf langen Bauhölzern [aus dem Spiel-Baukasten?] aufgestellten Truppen schnell und geschickt vorbeigeschoben werden. Fiel ein Bleisoldat herunter, so war man eben schlecht vorbeigekommen und es setzte scharfe Kritik BmN.6f [von wem gegen wen ist nicht überliefert. Ebenfalls nicht überliefert ist, was die ständige „Machtkonzentration“ auf und um „König Eichhorn I.“ in den Spielen, die mehr für N als mit ihm stattfanden, zu bedeuten hatte. Von dem, was die Schwester hier alles kundtat konnte die damals gerade erst 4-jährige kaum eine eigene Ahnung gehabt haben.].


Die umfängliche vaterlose „Restfamilie“ - bestehend aus der sehr bestimmenden aber kränklichen Schwiegermutter N, den beiden Schwägerinnen, der Mutter Franziska, N selbst und seiner Schwester - musste das Pfarrhaus in Röcken räumen. Im April übersiedelte man in eine bescheidene Mietwohnung in der Neugasse von Naumburg, wo die Großmutter N von früher her einen großen Kreis von Verwandten und Freunden besaß. Die junge Frau Pastor war nun fast völlig auf die Familie angewiesen. Ihr Witwengeld betrug ganze 30 Taler im Jahr, wozu für jedes Kind bis zum vollendeten fünfzehnten Jahr noch 8 Taler jährlich kamen. Dies und eine kleine Beihilfe des Altenburger Hofes [wo der Vater, bevor er die Pfarrstelle in Röcken antrat, von 1838 bis 1841 Erzieher der Prinzessinnen von Altenburg gewesen war] machten ihre ganzen Einkünfte aus. Die Familie Nietzsche jedoch besaß einiges Vermögen und so war es selbstverständlich, dass [die Mutter] Franziska mit der 72-jährigen [Schwiegermutter und] Großmutter [von N] Erdmute und den beiden Tanten der Kinder, den Kindern und Mine [dem Hausmädchen] nach Naumburg zog. J1.48


Das Ende der Zeit in Röcken beschrieb der vierzehnjährige N 1858, 8 Jahre zurückblickend, selber in einem großen Lebensrückblick - von welchen er in seiner Bezogenheit auf sich selbst liebend gern immer wieder welche anlegte:

Die Zeit, wo wir von unserm geliebten Röcken scheiden sollten, nahte heran. Noch kann ich mich des letzten Tages und der letzten Nacht erinnern, wo wir dort verweilten [aber diese Erinnerung war verklärt und in ihren Details absolut nicht verlässlich!]. Am Abend spielte ich noch mit mehreren Kindern, gedenkend dass es das letzte Mal sei. Die Abendglocke hallt mit wehmütigem Ton durch die Fluren, mattes Dunkel verbreitete sich über die Erde, am Himmel strahlten der Mond und die funkelnden Sterne [und von derlei beeindruckt hatte er sich selber auch den Traum von der Vorahnung des Todes vom Brüderchen erzählt!]. Ich konnte nicht lange schlafen; schon nachts halb eins ging ich wieder in den Hof. Hier standen mehrere Wagen, die beladen wurden, der matte Schein der Laterne beleuchtete düster die Hofräume. Ich hielt es geradezu für unmöglich, an einem anderen Ort heimisch zu werden. Von einem Dorfe zu scheiden, wo man Freude und Leid genossen hat, wo die teuren Gräber des Vaters und des kleinen Bruders sind, wo die Bewohner des Ortes immer nur mit Liebe und Freundlichkeit zuvorkamen, wie schmerzlich war es! Kaum erhellte der dämmernde Tag die Fluren, da rollte der Wagen hin auf der Landstraße und führte uns Naumburg zu [Luftlinienentfernung ca. 25 km in südwestlicher Richtung], wo uns eine neue Heimat erwartete. - Ade, ade, teures Vaterhaus!! - Die Großmama mit Tante Rosalie und dem Dienstmädchen waren vorangefahren und wir folgten traurig, ja, sehr traurig nach. BAW1.6f


Im ungewohnt „städtischen“ Naumburg besuchte der fünfeinhalbjährige N ab Ostern die Naumburger Knaben-Bürgerschule, nach heutiger Bezeichnung eine „Volksschule“. In den Pfingstferien hielt sich Franziska mit N und dessen Schwester bei ihren Eltern David Ernst und Wilhelmine Oehler im nicht weit entfernten Pobles - Luftlinie gut 20 km - auf und während dieser Zeit erhielt N Unterricht vom Großvater. Die Mutter hatte N schon vor dem Eintritt in die Bürgerschule Lesen und Schreiben beigebracht und kümmerte sich stets um das Wohl und das Fortkommen der Kinder. N war zu der Zeit ein ungewöhnlich ernster Knabe mit langem blonden, auf die Schultern fallenden Haar und großen, dunklen, etwas starren [stark kurzsichtigen] Augen. J1.50


In der gemeinsamen Wohnung bezog Franziska mit den beiden Kindern „einige Hinterstuben, von denen die eine, die besonders düster war, den Kindern zugeteilt wurde, was beiden, die nun bald zu lernen und lesen begannen, nicht gut tat; denn beide hatten vom Vater die Kurzsichtigkeit geerbt sowie eine Neigung zu migräneartigen Kopfschmerzen. Zunächst geschah dagegen wenig oder gar nichts. J1.48


Die Großmutter N [aber nicht nur sie allein] war ….. der vernünftigen Meinung, dass es gut sei, Kinder aus gebildeten Familien in den ersten Schuljahren mit Altersgenossen aus den »niederen Ständen« zusammenzubringen, um ihnen soziales Verständnis zu vermitteln; der Vormund des Jungen, sein Onkel Dächsel, Rechtsanwalt in Sangerhausen [Luftlinienentfernung zu Naumburg etwa 50 km] war der gleichen Meinung. Doch der Versuch missglückte ….. zu der erwarteten Kameradschaft mit anderen Jungen kam es nicht. N fiel ihnen auf und blieb unter ihnen ein fremder Gast [was ursprünglich als Hinweis auf die von “den Anderen“ nicht gewürdigte und verstandene Besonderheit Ns gedacht war, aber ebenso gut auch darauf bezogen werden kann, dass der autistisch veranlagte N gar nicht fähig war, mit den anderen seelische Gemeinschaft zu erleben!]. Nur unter Frauen bis dahin aufgewachsen, war er allzu gesittet und brav geworden. Seine »würdigen, höflichen Formen« und seine »pastorale Ausdrucksweise«, die ihm die ganze Kindheit hindurch verblieb ….. erschien ihnen komisch und verlockte sie zu Neckereien [und wohl auch zu Manchem mehr, was aber nicht in die Schönrednerei der Schwester passte] über den »kleinen Pastor«. Mochte mancher auch staunen, dass er »Bibelsprüche und geistliche Lieder mit einem solchen Ausdruck hersagen konnte, dass man fast weinen musste«, so war diese Bewunderung doch kaum frei von Befremdetheit. N war in diesem Kreis ein einsames Kind und so sollte es bleiben Schon jetzt umgab ihn die ebenso schützende wie gefährliche und schmerzliche Aura der [später so hemmungslos hervorgehobenen und anzubetenden!] Einzigartigkeit, die ihn sein ganzes Leben hindurch von jedem sozialen Verband trennte. Das schloss freilich nicht aus, dass er Freunde gewann. Aber sie waren ähnlich brave und ähnlich behütete Knaben wie er“ J1.50f [aber waren sie auch von ähnlich „elitärer“ Überzeugtheit und Gesinnung wie er von sich selber?]


Diese früh wahrgenommene, hier allerdings auf vorauseilende Weise vor allem positiv als „Besonderheit“ und „Einzigartigkeit“ gewertete und hervorgehobene „Einsamkeit“, über die N mit zunehmendem Alter mehr und mehr klagte und sie zugleich verbissen verteidigte, war keineswegs genialischen Umständen geschuldet sondern einfach nur in Ns Wesen begründet, - gleichsam sein Bedarf. Ein anders gearteter „innerer Kern“ mochte sich den Gegebenheiten der „Bürgerschule“ leichter angepasst haben. Die früh - letztlich auch zu Hause schon - erlebte „Einsamkeit“ wurde N später zu einem oft - und für „Vieles“! - benutzten Begriff für seine Existenz, für sein „Welt- und Wohlgefühl“, für seinen „Seelenzustand“ bei und mit sich selbst als etwas Elitärem im Reinen zu sein, - ein Gefühl in dem ihn und seine „Sonderstellung“ nichts Fremdes störte, - eine Art Kokon für das eigene Ich und eine „Kurzformel“ für so etwas wie ein auf ihn selbst bezogenes „reines Glück“. - Diese „Einsamkeit“ war für N, da er selten wirklich „einsam“ im Sinne von „ganz alleine“ war, sondern zumeist „unter und mit anderen“ - aber eben nichtunter seinesgleichen“! - lebte, - vor allem ein ausgeprägt selbstbewusstes „Anderssein“, das er auch schon recht früh in mancherlei Widersprüchen zu „den Anderen“ zum Ausdruck brachte. Als „Anderssein“ hat N seine „Einsamkeit“ erlebt, körperlich! Und darauf kam es ihm, der dies schließlich auch genoss und immer wieder suchte, an!

Dieses auf einer Wechselwirkung beruhendes Dauererlebnis wurde, zusammen mit dem Gefühl, „zu den Anderen keinen zufriedenstellenden Zugang“ zu finden und zu haben, besonders außerhalb - aber auch innerhalb! - des häuslichen Umsorgt-seins immer wieder „trainiert“ und dieses Training bedurfte, da es Verunsicherung hervorrief, eines ebenso ständigen „Trainings der Kompensation“, eines „erlebbaren“ Ausgleichs, der N durch Anpassungserfolge offensichtlich nicht möglich war, sonst hätte er diesen Lösungsweg dieses für ihn sicher schwerwiegenden Problems wählen können, - wie andere auch. Stattdessen hat er - sehr früh schon sich dazu „gezwungen“ gefühlt - und dafür von der Natur auch mit den nötigen Mitteln wie z.B. mit überdurchschnittlicher Argumentationsbegabung und Überzeugungsmacht versehen - ein Sicherheit versprechendes Gegenwicht und eine „Korrektur“, eine Klarstellung der für ihn „wahren Verhältnisse“ entwickelt: Sein gewähltes Verfahren bestand daraus, Begründungen dafür anzugeben und „erklären“ zu können, dass seine „Einsamkeit“ nichts Minderwertes war, sondern, besser noch, eher im Gegenteil, ein Mehrwert, ein Privileg, eine bevorrechtete Sonderstellung, die durchaus als verteidigenswert herausgestellt zu werden verdiente. Diese Zusammenhänge dürften - verbunden mit Ns überdurchschnittlich hohem Bedarf an Anerkennung, Beachtung, Einflussnahme - und Ehrgeiz! - den Kern und Antrieb für ein tief in ihm schlummerndes „Philosophiebedürfnis“ ausgemacht haben, - was als Gesamtpotential jedoch so sicher wie das Amen in der Kirche auf eine doppelte Moral - eine für „die Anderen“ und eine andere, bessere für ihn „und seinesgleichen“! - hinauslaufen musste und auch hinausgelaufen ist.


Die alte Großmutter N war in ihrer Jugendzeit lange in Naumburg, bei ihrem Bruder, dem dortigen Domprediger und späteren Generalsuperintendent Krause, Herders Nachfolger in Weimar, zu Besuch gewesen und hatte dabei engste Fühlung mit der Naumburger Gesellschaft bekommen, die jetzt eifrig wieder aufgenommen wurde. In Naumburg dominierten damals die Juristen des Oberlandesgerichts und ihre Damen. Sie waren streng kirchlich, konservativ und königstreu. Die revolutionären Ideen der Zeit und gar der aufkommende Sozialismus drangen nicht in die damals noch ummauerte Stadt deren fünf Tore von abends zehn bis früh fünf Uhr geschlossen blieben. Das Bildungsniveau der Männer dieser Kreise war nicht niedrig, wenn auch begrenzt durch die klassischen Gebilde der deutschen Dichtkunst und Musik [zumeist akademisch „gebildet“!], die Frauen dagegen gingen vorwiegend in Kaffeekränzchen, verwandtschaftlichem und gesellschaftlichem Tratsch, Hausfrauensorgen, der Kindererziehung und betonter Frömmigkeit auf. Eigentlich wirtschaftliche Sorgen drangen in diesen Kreis festbesoldeter Beamter mit gewohnter sparsamer, wenn auch behaglicher Lebensführung nicht ein; gegen alle anderen Stände schlossen sie sich gesellschaftlich fest ab, wenn auch noch nicht mit dem Dünkel, der nach der Reichsgründung [18. Januar 1871] und besonders im wilhelminischen Deutschland aufkam. J1.51


Aus der kurzen Zeit des Besuchs der Knabenbürgerschule - es waren nur einige Monate! - gibt es eine Anekdote, die tief in Ns damalige innere Struktur blicken lässt. In ihrer den Bruder mythologisierenden Biographie hat die in vielerlei Hinsicht unzuverlässige, weil immer schönfärbende Schwester - die zu dem Zeitpunkt überdies erst gerade mal vier Jahre alt war! - diese ihr nur aus Familienerzählungen her bekannt sein könnende Episode „literarisch“ ausgekostet. Was sie schilderte ist spürbar nicht erlebt, sondern auf Effekt bedacht und berechnet formuliert und deshalb mit Vorsicht zu genießen. Aus ihrer Biografie des Bruders mit dem Titel „Der junge N“ ist es in so gut wie alle Biografien Ns und auch in die mit so gut wie 2000 Seiten umfassendste von allen, in die N immer noch hochjubelnde Mammut-Biographie von Paul Janz, übernommen worden und lautet dort:

Die Knabenbürgerschule war damals am Topfmarkt [neben der Wenzelskirche], also nicht weit von uns. Eines Tages strömte gerade am Schluss der Schule ein tüchtiger Platzregen hernieder; wir sahen die Priestergasse entlang nach unserem Fritz aus. Alle Jungens stürmten wie das wilde Heer nach Hause, - endlich erscheint auch Fritzchen, welcher ruhig daherschreitet, die Kappe unter der Schiefertafel verborgen, sein kleines Taschentuch darübergebreitet. Mama machte ihm Zeichen und rief ihm schon von weitem zu: »So lauf doch nur!« Der strömende Regen verhinderte seine Antwort zu hören. Da unsere Mutter ihm, als er vollkommen durchnässt ankam, darüber Vorwürfe machte, sagte er ernsthaft: »Aber Mama, in den Schulgesetzen steht, die Knaben sollen beim Verlassen der Schule nicht springen und laufen, sondern ruhig und gesittet nach Hause gehen«.


Die Schwester fügte - was Paul Janz nicht übernahm! - hinzu: Fritzchen befolgte das Gesetz unter den erschwerendsten Umständen. JN.28f - Diese Bemerkung diente dazu, ihrem Bruder, der sich später von gar nichts außerhalb seines Selbst bestimmen ließ, schon von Kindesbeinen an einen interesse- und absatzfördernden „heroischen Anstrich“ zu geben. Altklug und wunderlich ist das Benehmen, fürwahr, - auch wohl befremdlich! Natürlich hat sich die Episode so nicht wirklich abgespielt, aber sie ist als Legende so überliefert. Es bleibt zu fragen, was für Absichten da im Hintergrund wirksam gewesen sein mögen.

Paul Janz, ein aufrichtiger aber auch irgendwie unbekümmerter und bis auf wenige Ausnahmen zutiefst unkritischer Bewunderer Ns, hat diese Episode, wie alles bis zu Ns Berufung zum Professor in Basel, von seinem Vorarbeiter, dem in Vergessenheit geratenen deutschen Schriftsteller, Richard Blunck, 1895-1962, übernommen. Mit jenem einig kommentierte Paul Janz diese „Geschichte“ auf folgende Weise: Die Schwester fügt hinzu, dass dieser Vorfall noch »zu manchem Scherz Veranlassung gab«. Uns will scheinen, dass die Geschichte, so komisch sie an sich ist, einem Erzieher wohl hätte zu denken geben können. Es zeigt sich hier ein Fanatismus der Ergebenheit gegen ein einmal übernommenes Gesetz, der die letzte Konsequenz sucht, auch gegen alle Natur, eine etwas unheimliche Selbstüberwindung - und das bei einem leidenschaftlichen und eigensinnigen Knaben -, die zu schärfsten Spannungen führen musste. J1.52


Das war eine hochgestochene, das Metaphysische anstrebende Stilisierung Ns! Es bleibt dagegen jedoch zu fragen, wie und mit welcher „Konsequenz“ bei einem sechsjährigen Knaben - wie hier unterstellt - ein „einmal übernommenes Gesetz“, dem in „etwas unheimlicher Selbstüberwindung“ Folge geleistet wurde, „rechtswirksam“ zustande gekommen sein könnte? Durch Unterschrift? Durch von Geburt an unbewusst erfolgte Anerkennung als eigenes „Grundgesetz“? Gelesen und akzeptiert bei Eintritt in diese Schule? Welchen Knaben mag ansonsten dergleichen bekümmert haben?

Diese bedingungslose Unterwerfung unter ein Gesetzt wird sich in viel stärkerer Weise bei dem 17-jährigen wiederholen, als er zufällig den Essays des amerikanischen „Philosophen“, Predigers und Schwätzers Ralph Waldo Emerson, 1803-1882, begegnete und dann noch einmal sehr schlimm aber nicht für lebenslang bei der Begegnung mit Schopenhauer. Dazu kam Ns Neigung, sich bei ungewöhnlicher Rechtfertigungskunst gerne die Befriedigung einer tief in ihm sitzenden Oppositionslust zu gönnen, indem er sich betont anders verhielt als andere, was auch die Mutter einmal leicht genervt bei dem Jüngling beanstanden musste.

Der heroische Anstrich, den diese Episode bietet und unterstützen sollte, wurde von Blunck und Janz nicht verletzt und dabei ließen sie es bewenden. Zu bedenken aber bleibt, ob der Sechsjährige auf dem regenübergossenen Nachhauseweg eine Vorstellung von einem „einmal übernommenen Gesetz“ überhaupt willentlich haben und erfüllen konnte und wollte und ob diese rückwärtige Unterstellung für ihn tatsächlich eine „unheimliche Selbstüberwindung“ war! Dass N neben dem auch bezeugten, völlig normalen Kindertrotz des Sich-Hinwerfens und Mit-den-Beinen-Strampeln, wenn etwas nicht dem eigenen Willen entsprach, ein leidenschaftlicher und eigensinniger Knabe gewesen wäre, hat sich zuvor an seinem Verhalten nur selten gezeigt, denn er wäre nach den geradezu monopolistisch behandelten Behauptungen der Schwester zumeist überaus brav und folgsam gewesen. Der „Fanatismus der Ergebenheit“ bestand bis dahin aus brav sein wollen und wahrscheinlich auch brav sein müssen, um sich der Anerkennung und Zuwendung aus dem Kreis der ihn umgebenden Frauen zu vergewissern. In diesem Fall nun war er nun auch „brav“, wie eigentlich immer! - Nur gegen wen? - Er hatte herausgefunden, wie und was dazugehörte, sich in gewissen lustvollen Alleingängen zu rechtfertigen. Und diese Bestrebung, sich in dem zu rechtfertigen, was er - gegen „die Anderen“, in Opposition! - seinem Eigenwillen entsprechend, durchsetzen oder ausprobieren wollte, hat sein Leben und das, was er seine Philosophie nannte, im Wesentlichen bestimmt, ausgefüllt und notwendig gemacht.


Paul Janz verhielt sich als umfänglichster und, soweit es alle nur möglichen Lebensumstände betrifft, auch genauester N-Biograph, von seinem Grundtenor her als unbedingter Bewunderer Ns gelegentlich erstaunlich weitgehend - aber dies mit ebenso erstaunlich geringer Konsequenz - auch kritisch! - insgesamt aber doch als ein der in der Wolle gefärbter Verherrlicher Ns und blieb dessen Ruhmsucht treu ergeben. Dass er hier keine ernsthaft kritischen Klarstellungen in Hinsicht auf Ns geistige Verfassung vorgebracht hat, ist insofern verständlich, weil er durch Derartiges, es wiederholend, sicherlich allzu bald sein Idol - das zu feiern er sich doch mit dem respektheischenden Riesenaufwand seiner Recherchen und Datensammlungen als eigene Lebensleistung vorgenommen und auch erfüllt hatte! - dass er also im anderen Falle sein Idol - und sich selbst! - in größte Gefahr gebracht und wahrscheinlich sogar die ihn antreibende Bewunderung für N verloren hätte.

Stattdessen stellte Janz, in Übernahme des Wortlautes seines „Vorarbeiters“ gleichsam als auch seine eigene Meinung in seinem Vorwort fest, dass für N „das Leben selbst“ die „Wahrheit“ gewesen wäre „und so kann er [N] nicht von ihm [von seinem Leben als seiner Wahrheit] abstrahieren, um zur Erkenntnis eines »Wahren an sich« zu kommen. [hier hätte eigentlich die Feststellung erfolgen müssen, dass sich der beschriebene Umstand für N aufgrund seiner fehlenden Distanz zu sich selbst ergab, - denn damit hätte sich das Herumreden um die für jeden geltende Wahrheit der eigenen Subjektivität erübrigt!] Die höchste Form des Lebens aber ist N die schöpferische Persönlichkeit [zu der zu fragen bleibt, woran gerade bei dem 6-jährigen N das „Schöpferische“ festzumachen sein konnte! - Am späteren Übermaß seines kritisierenden Ausschließlichkeit-Bedürfnisses gewiss nicht!]. Er steht damit noch in der Tradition der Forderung Platons, das der Philosoph als relativ vollkommenster Typus auch die Staatsführung haben sollte, [also die höchste Macht, das „Herrscheramt“ über alle Menschen - für N typisch ins Maßlose und Totalitäre gedacht und geweitet - als Weltregiment, auf welches das Leben Ns nämlich hinauslaufen sollte. - Aber: was konnte der 6-jährige von Platon für eine Ahnung gehabt haben, dass sein Tun zu kommentieren war mit den Worten:] aber die N’sche Sicht greift doch wesentlich über diese enge Grenzziehung hinaus [eng? - war die vorgelegte totalitäre Sicht nicht maßlos genug?]; ganz deutlich wäre der schaffende Künstler miteinbezogen J1.17f

Und welche „Schaffenden“ wurden - wie sich im Laufe der Darstellung zeigen wird - an einer wie auch immer von N beabsichtigten - wie auch einige immer wieder zu Faszination reizenden „kulturtragenden Menschheitserneuerungen“ - gar im Sinne von „Arbeit macht frei“, wie es in allem nur denkbaren Zynismus über so viele Eingangstore in den sicheren Tod dann geschmiedet stand? - wie viele „Erfindungen“ dieser Art waren darüber hinaus noch „miteinzubeziehen“?


Wie dem auch sei. Die Zustimmung zu Ns Wirken geht in Paul Janz’ Vorwort von 4½ Seiten voll hellster Begeisterung für die Lebensleistung von N auf der 4. Seite über in die unbelehrten - nämlich nach dem Zusammenbruch Deutschlands in Schutt und Asche herausgegebenen Sätze! - die preisen, was Blunck/Janz noch immer und unbeirrbar für richtig hielten:

Unser Ziel war: alles bisher zerstreut aufgetauchte »Material« über dies Leben zum Bilde zusammenzufassen, um den Menschen, wie wir glauben, dass er gewesen ist, sichtbar und erlebbar zu machen und dabei das von dem [als Philosophie hinzunehmende?!] Werk freizulegen, was - mit einem Modewort zu sprechen - existentiellen Charakter hat. Dies allein kann für uns und die Zukunft noch wichtig und in mehr als einer Beziehung richtungs-, wenn auch, [nach dem Desaster der Jahre 1933 bis 1945!?] nicht gesetzgebend sein. Das Werk im Einzelnen in seinem ganzen unausschöpflichen Reichtum [auf den hier nachfolgend sehr kritisch eingegangen werden soll!], in seiner ganzen schillernden Vielfältigkeit und Vielschichtigkeit [dessen gefährliche Widersprüchlichkeiten und Missverständlichkeiten aber unerwähnt bleiben sollten!] darzustellen, liegt weder in unserer Absicht noch in unserer Macht, wir hätten uns denn entschließen müssen, es Band für Band [dabei Hosianna jubelnd?] abzuschreiben. Was wir geben zu können glauben, ist ein Schlüssel zu diesem Werk und [nun kommt die kritiklose Ungeheuerlichkeit:] die Verführung, es zu lesen, mehr und tiefer zu lesen, als es bisher gelesen wird. Die Wirkung Ns ist erst am Anfang, so anders es manchen erscheinen mag. J1.20


Das dürfte ein klassisches Beispiel ewig gestriger - auch intelligenter? - Uneinsichtigkeit sein und wurde eingeschoben, um klarzustellen, um wen es geht, wenn im weiteren Verlauf - unter Berufung auf diese so angelegte „Groß-Biografie“ von Paul Janz, stellvertretend für eine ganze Reihe anderer älterer und modernerer Biografien - interessante und wichtige „Tatsachen“, Umstände, Anekdoten zu eben der geforderten tieferen Deutung aus Ns Leben heranzuziehen sind:

Was den Kommentar der zuletzt vorgetragenen Anekdote betrifft, so sind einige Stichworte gefallen, zu denen dringend Ergänzungen nötig sind: Da wurden erwähnt der „Fanatismus der Ergebenheit“ - eng verwandt übrigens mit dem, was sich gefährlicher weise auch gern als „vorauseilender Gehorsam“ äußert; dazu kommt die überbordende Wichtigkeit von einem „einmal übernommenes Gesetz“, wie ein einmal leichtfertig getaner, aufgrund veränderter Umstände aber angeblich nicht zu korrigierender „Schwur“, - ausgerechnet bei einem und auf einen, der sich selbst über so gut wie alle „Gesetze“ - letztlich nur auf eigenes Dafürhalten hin - hinweggesetzt hat! - und die „Suche nach dessen letzter Konsequenz auch gegen alle Natur“ sowie eine nur „etwas unheimliche Selbstüberwindung“. In ihren unheiligen Superlativen, die sich bestens zur Mythenbildung eignen und dazu auch noch als unverzichtbar dargestellt waren, stellen diese ästhetizistisch gefärbte Selbstrechtfertigungen dar! In Ns Antwort an die Mama, mit der man ihn an dieser Anekdote immerhin „persönlich beteiligt“ sah, stecken noch das „Schulgesetzt“ und der Kadaver-Gehorsam in der Form vom „ruhigen und gesitteten Nachhausegehen“! - Alles andere war in N hineininterpretierte Gehirnakrobatik anderer, die aber auch keine bessere Begründung als deren „Geschmack“, so wie N derzeit seine „Lust daran“ ins Feld zu führen hatten!


Dieses Puzzle aus hochtrabenden Worten lässt sich - so gut wie gehabt - auch zu völlig anderen logisch stimmigen Aussagen zusammensetzen: Es könnte sich darin auch eine Form der „Auflehnung“ äußern: Wenn man das Gefühl und die Lust des 6-jährigen, es - und vielleicht auch alles, sofern es nur geht! - anders zu machen; - als Rebellion gegen das ewige Brav-sein-müssen bewertet: N nutzte die „günstig-ungünstigen“ Umstände als unterschwelliges „Argument“, das vorzubringen war in dem aufzuwiegenden Ungehorsam auf der einen mit Gehorsam auf der anderen, „höher zu erachtenden“ Seite! - Ein „Ausprobieren des Ungehorsams“, gegen alles ihm Aufgezwungene - mit der Rückversicherung, doch eine „höhere“ Gehorsamkeit bedient zu haben und damit bliebe da dann nichts von Selbstüberwindung, sondern von einem Protest, um die Möglichkeit eines relativ friedlich zu erreichenden „Recht-Behaltens“ zugunsten von Eigeninteressen? Ein erster Ansatz zu so etwas wie einem „Willen zur Macht“ und zur „Umwertung aller Werte“, zu der N als etwa 40-jähriger schließlich kam, um die Grundeigenschaft seiner „Seele“ auszudrücken? Sich, d.h. das ihm mehr Zusagende durchzusetzen? Dazu kam Ns anderweitig bezeugte lustvolle Bewunderung für Gewitter und Wolkenbrüche als „Demonstrationen höherer Mächte“, die sich vielleicht für eigne Interessen und für wohl vorerst recht unbewusst unternommene „Versuche“ und zu entsprechenden Manifestationen nutzen ließen, - zumal daraus, im Sommer wohl, kein großer Schaden und folglich auch nicht viel „zu überwindende“ Pein zu erwarten war. Erregten Regen und Gewitterwolken doch immer wieder Ns ansonsten der Umwelt nicht sonderlich zugewandte Aufmerksamkeit.


Der brav durchnässte Bub erklärt der Mutter altklug und, wie später so oft noch dem Publikum, seinen Lesern, die doch lächerlich vordergründige Argumentation nicht empfindend, dass er einem „höheren“ Gesetz verpflichtet wäre. Wohl wissend - und hier auch erfahrend! - dass dieser Form der Lust, sich durchzusetzen, so leicht nichts entgegenzusetzen war! Ein „Schulgesetzt“ wurde vorgeschoben und es dürfte insofern bezeichnend sein, als in Ns Leben immer wieder solche „Schulgesetze“ auftauchen werden, denen er - koste es, was es wolle! - „in letzter Konsequenz“ und auch „gegen alle Natur“ - aber mit unbändiger Lust versehen! - „zu folgen hatte“, d.h. folgen wollte, oder, ohne großes Bewusstsein um derlei Hintergründe: „von „höheren Mächten“, die sein Wahn ihm diktierte, gezwungen wurde“ zu handeln, wie er es tat! Hier trat „es“, überdeutlich bemerkbar, zum ersten Mal zutage! Es wird noch viele solcher „Male“ geben. Als „Schulgesetz“ bezeichnet ruhte diese Veranlagung in ihm - wenn er sie zu persönlichem Nutzen durchbrechen wollte. Dann sollte er diesen ihm Vieles erlaubenden Joker regelmäßig ziehen!


Der Großvater Oehler war der Erste, der die ungewöhnliche Begabung seines ältesten Enkels Friedrich erkannte. Unvergesslich ist mir eine Szene geblieben [so berichtete die Schwester], die gewiss nicht für meine Ohren bestimmt war [aber für die damals vierjährige Elisabeth mit Sicherheit für ihre späteren Erzählungen zur Befriedigung ihrer nur gar zu legendensüchtigen Fantasie dienstbar zu machen war]: Unsere Mutter beklagte sich bei ihrem Vater, dass ihr Fritz so [spürbar offensichtlich auf seine das Autistische streifende Art anspielend] anders sei, als andere Jungen und sich so schwer anschlösse. Sonst wäre er so gut und gehorsam, aber er habe über alle Dinge seine eignen [aus seinem selbstmittelpunktlich geprägten Ich heraus geprägten!] Gedanken, die mit denen andrer Leute gar nicht übereinstimmten [also schon auffallend etwas von der „Gefühlsblindheit“ des autistisch Veranlagten in seiner Umwelt erkennen ließen!]. Beide hatten vergessen, dass ich [und das war einfach nur später so zurechtgedichtet!] in einer entfernten Zimmerecke mit den Puppen spielte, so dass der Großvater merkwürdig heftig auf diese Auseinandersetzung [die doch seitens der Mutter allenfalls nur eine Feststellung gewesen war!] entgegnete: „Aber meine Tochter, du weißt gar nicht, was du an diesem Jungen hast! Das ist das ungewöhnlichste und begabteste Kind, das mir in meinem ganzen Leben vorgekommen ist; meine sechs Söhne zusammengenommenen haben nicht die Begabung deines Fritz. Lass ihn doch in seiner Eigenart“. BmN.8


Abgesehen davon, dass sich in diesem Textstück der Großvater nach Inhalt und Form in Elisabeths Sinn und Wortwahl äußerte und damit ganz offensichtlich zu einer Legendenbildung instrumentalisiert worden war, wurde hier schon, sehr früh, Elisabeths Meinung über den Bruder wiedergegeben und legitimiert. Deshalb kann diese Darstellung in sich nicht stimmen. Der Umstand nämlich, vergessen zu haben, dass die mit Puppen spielende Elisabeth anwesend war, verträgt sich logisch keinesfalls mit dem „so dass“ eingeleiteten Anlass für eine „merkwürdig heftige“ Entgegnung des Großvaters! Das Ganze ist, wie so oft bei Elisabeths Geschichtsklitterungen ersonnen zur Befriedigung von Ns angehimmelter Besonderheit, zu der sie aber nie etwas wirklich Überzeugendes vorzutragen hatte, außer sich auf seine von ihr behauptete Autorität zu berufen. Zudem dürfte das Gespräch den ca. 6-jährigen N betroffen haben, - da war sie selber mit ihren 4 Jahren nicht alt genug solches zu erfassen und entsprechen zu erinnern.


1851


Die Nähmaschine hat die Einsatzreife erlangt. In London findet zum 1. mal eine Weltausstellung statt.


Mit seinen beiden ziemlich gleichaltrigen Freunden, Wilhelm Pinder und dem von Haus aus musikalisch interessierten Gustav Krug wurde N, da sie sich alle drei auf der Bürgerschule höchst unwohl fühlten, umgeschult in das Privatinstitut des Kandidaten Weber als „Vorschule“ zum Domgymnasium, das sie ab Herbst 1854 besuchen sollten. In dem privaten Institut, das sie also ungefähr drei Jahre lang besuchten „wurde von ihnen nicht allzu viel verlangt. Es überwog der religiöse Unterricht; daneben gab es allerdings auch schon die Anfangsgründe des Lateinischen und Griechischen, so dass die Knaben im Herbst 1854 in die Quinta des Domgymnasiums eintreten konnten. Im Übrigen unternahm Weber mit seinen Schülern viele Wanderungen, spielte mit ihnen Räuber und Gendarm und veranstaltete Armbrustschießen nach der Vogelscheibe.“ J1.52f


Der Verkehr in den Häusern der Freunde öffnete N manchen Einblick der weit hinausging über das, was er bei sich zu Hause erfahren konnte. Er war frühreif und altklug, lernte gut und leicht, heißt es, - allerdings deutlich weniger im Bereich jener Wissensgebiete, für die ein emotionsfreies Denken nach den strengen, durch die Gegebenheiten bestimmten logischen „Regeln“ gefordert war, wie bei den naturwissenschaftlichen Fächern sowie der Mathematik, deren Wahrheiten nicht mit Hilfe einer mittels sprachlich geschickt geführten Argumentation auf-, nach- oder auch „um-“zu-helfen war. An Ns Mathematik-Zensur sollte letztlich beinahe sogar der erfolgreiche Abschluss seiner musterschülerhaften Internatsausbildung scheitern!


Am 3. März 1851 schrieb der sechseinhalbjährige N aus Naumburg an seine Mutter, die mit der Schwester im gut 20 km entfernten Pobles bei ihren Eltern weilte:

Ich möchte dich gern sprechen aber weil ich nicht bei dir bin muss ich dir ein Briefchen schreiben. Ich freute mich sehr über den Äpfelkuchen, ich danke schön dafür. Ich denke immer an Dich und an Elisabeth, aber schreiben kann ich nicht mehr, denn ich bin müde. Dein treuer Sohn Fritz N. (4)

Eigentlich eine kaum erwähnenswerte Bagatelle, bei der man sich nichts weiter denken muss: Aber mit diesem frühen Zeugnis beginnt eine lebenslange „Sitte“ - früh und gleichsam exemplarisch: Das durch alle Lebensstadien durchgehaltene, früh antrainierte Verhalten einer mit aller nur denkbaren Selbstverständlichkeit in Anspruch genommenen Abhängigkeit von den Zusendungen - von Esswaren besonders! - aber auch von anderen Utensilien des täglichen Bedarfs bis hin zu Garderobenstücken für den Erwachsenen durch die Mutter.


Zu Ns 7. Geburtstag am 15. Oktober 1851 schrieb ein Freund seines Vaters, der auch Taufpate der Schwester Elisabeth war, Pfarrer, Pfarrerssohn und Lehrer aus Groß-Görschen, nur etwa 10 km von Pobles entfernt:

Heute an Deinem Geburtstag, mein lieber junger Freund, muss ich Dir schreiben und recht herzlich Glück wünschen. Was soll ich Dir aber wünschen Du lieber Junge mit des Königs Namen und des Königs Geburtstag? Nun, dass Du auch ein so frommer und guter Christ wirst wie unser teurer König ist. Ein König kannst Du freilich nicht werden, war’s ja doch auch Dein guter seliger Vater nicht; aber ein treuer frommer Seelenhirt in einer Christengemeinde wie er es war, magst Du werden, dann kannst Du auch beglücken wie ein König und geachtet, geliebt und hochbeglückt werden, wie es Dein guter Vater war. Doch jetzt denkst Du nicht an die ferne Zukunft; Du lebst nur für Deine Schule und suchst in Deiner Klasse immer der erste und beste zu sein, um Deinen lieben Lehrern alle Liebe und Mühe, die sie mit Dir haben zu vergelten und Deiner guten Mutter, Deiner verehrten Großmutter und den lieben Tanten recht viel Freude zu machen. Gott gebe Dir nur immer Kraft und Gesundheit dazu, damit Du alle Deine Arbeiten recht gut machen kannst. Wenn ich Dich einmal besuche, so musst Du mir alle Deine gelehrten und ungelehrten Sachen zeigen.

Gewiss hast Du wieder rechte Fortschritte gemacht. Über Deinen letzten [nicht erhalten gebliebenen] Brief, der so hübsch gesetzt war und so nett und schön geschrieben - viel schöner als mein Geschreibsel - habe ich mich sehr gefreut und freue mich schon im Voraus darauf, wenn Du mir wieder schreibst. Du wirst ja wohl einmal ein Stündchen für mich finden, um mir wieder zu schreiben. Die Schularbeiten darfst Du freilich darüber nicht versäumen, auch nicht das Spazierengehen, denn das ist solchen gelehrten jungen Herren so nützlich als das tägliche Brot. Aber nun noch eins. Wenn Du wieder mit meiner herzlieben Patin Fräulein Plapperlieschen [der Schwester Elisabeth] nach Pobles kommst, musst Du mich besuchen.

Ich habe jetzt auch einen Spielkameraden für Dich, einen Knaben aus Berlin, den ich für Pforta [die Gelehrtenschule in der Nähe von Naumburg, in der auch N vom Herbst 1858 bis Herbst 1864 seine Ausbildung erhalten sollte] vorbereiten soll. Mit dem kannst Du wenn Du willst, griechisch oder lateinisch sprechen, schadet aber auch nichts, wenn ihr eure Sachen gut deutsch abmachet. So verlebe denn Deinen heutigen Geburtstag recht froh und schreite gesund und kräftig auf der angetretenen Lebensbahn unter Gottes segnender und behütender Hand fort. Grüße mir Dein lieb Mütterchen, Großmama und Tanten und Lieschen von Deinem und ihrem treuen Freund Oßwald.


Irgendwo wirkt das alles wenig auffällig und scheinbar „ganz normal“. Dennoch dürfte der Brief einen kleinen Einblick in den so etwa gepflegten „Umgangs-Stil“ geben und ist damals sicherlich Ausdruck der „üblichen Erwartungshaltung“ dem gerade mal sieben Jahre alt gewordenen Jungen gegenüber gewesen. Im Bewusstsein von Ns Lebensweg scheint diese Art von immer wiederkehrendem, mehr oder weniger „sanft“ gepflegtem Druck - mit Unterstellungen und Forderungen! - welche ihm vorgaben, etwas Besonderes sein zu müssen, um Anerkennung - auf die er seelisch so sehr angewiesen war! - finden zu können, üblich gewesen zu sein, so dass N viel von dieser „Treibhausatmosphäre“ viel verinnerlicht haben wird, weil er sich in dieser - auf Gedeih und Verderb gewissermaßen! - zu profilieren hatte, um als sittsam, gehorsam, tüchtig, nützlich, angenommen und „pflegeleicht“ zu gelten! - Hier kam das für ihn, der sonst nur unter Frauen lebte, zusätzlich von einer männlichen Respektsperson, die zu ihm auf gleiche Weise sprach. Das war sicher nichts Ungewöhnliches, aber es war auf etwa diese Weise seine Form der „Alltäglichkeit“, der er ausgesetzt war.


Zum Geburtstag erhielt N in diesem Jahr ein Klavier und musikpädagogischen Unterricht von einem alten Kantor.


1852


Die amerikanische Schriftstellerin Harriet Beecher-Stowe, 1811-1896, veröffentlichte den Roman „Onkel Toms Hütte“ gegen die Sklaverei und erreichte ein Millionenpublikum. Von dem französischen Philosophen und Mitbegründer der Soziologie, Mathematiker und Religionskritiker Auguste François Xavier Comte, 1798-1857, erschien ein „Positivistischer Katechismus“, als Versuch einer positivistischen Religion mit der „Menschheit als großes Wesen“. Inzwischen erschienen umfangreiche Konversationslexika als geordnete, übersichtliche Wissenssammlungen. In Nürnberg wurde ein Germanisches Museum gegründet.


Am 13. Januar 1852 schrieb die Mutter an ihren Vater:

Überhaupt habe ich den lieben Gott bei allem Schweren doch recht herzlich zu danken für die körperliche und geistige Entwicklung meiner lieben Kinder, welche uns eine wahre Freude sind. Fritz ist fleißig kommt in der Schule immer weiter herauf und erwirbt sich durch seinen buchstäblichen Gehorsam die Liebe seiner Lehrer und ist dabei mein zärtlich liebender Sohn, natürlich nicht frei von Mängeln aber Gott sei Dank, samt Lieschen - vergnügt und munter KGBI/4.269


Am 1. November 1852 schrieb die Mutter:

Fritz ist gottlob auch fleißig und beide sehr zärtlich gegen ihre alte Mutter [sie war da erst knapp 27 Jahre alt!]. Fritz ist noch vom Keuchhusten verschont und sitzt mir, denkt Euch, aller Augenblicke einmal auf dem Schoß oder steht hinter mir auf dem Stuhl um mich abzudrücken und abzuküssen, wo Lieschen nicht nachstehen will und deshalb oft ein edler Streit entsteht. KGBI/4.271


Ende des Jahres erkrankte N an der Streptokokken-Infektion Scharlach, was früher, unbehandelt durch die noch nicht bekannten Antibiotika, mit gefürchteten Spätkomplikationen verbunden sein konnte. Die Mutter schrieb darüber:

Im ganzen müssen wir mit dem Verlauf der Krankheit recht zufrieden sein, er wird jetzt alle Abende mit überschlagenem Wasser abgewaschen und sieht ganz munter aus, wenigstens äußerlich, innerlich übrigens unverändert das gute, tiefe Gemüt, wodurch er uns durch seine Folgsamkeit die Krankenpflege sehr erleichtert hat; welche Sorge ich aber ausgestanden habe, als es hieß es wäre Scharlach ….. denn diese Krankheit fordert hier [bei einem gegenüber heute unvergleichlichen Stand der Medizin] so viele Opfer, in den verschiedensten Kindesaltern.


Das waren Einblicke, zu denen es nicht viel zu sagen gibt. Die Jahre der Kindheit sind für jeden auf mehr oder weniger gleiche Weise angefüllt mit derlei und auch anderen Sorgen und Freuden. Die Pflegeleichtigkeit wurde immer wieder hervorgekehrt, erwähnt und bestätigt. Sein Leben lang übrigens galt N im praktischen Leben allen Menschen gegenüber als ungewöhnlich freundlich, zurückhaltend, liebens-, ja bewundernswert, dabei bescheiden und verständnisvoll: So völlig anders, als er sich in der stets Superlative anstrebenden Parallelwelt seiner „Theorien“, Aphorismen und Sprüche gebärdete - in dem also, was als seine so originelle „Philosophie“ gelten sollte! - Diese Andersartigkeit des einen zum andern wird seine ergründbaren Ursachen haben: Sie gehören zu Ns - in diese beiden Seiten gespaltenen! - Wesen, wie im Lauf seiner Entwicklung nach und nach klarer hervortretend zu erkennen ist.

1853


Es begann der fast 4 Jahre währende russische Krimkrieg. Richard Wagner war mit dem Text zu den Ring-Opern vom Rheingold bis zur Götterdämmerung beschäftigt. Der weit außerhalb von Ns Wahrnehmung gelegen habende niederländische expressionistische Maler Vincent van Gogh wurde geboren. Das bis dahin als Laufrad aufgekommene Fahrrad erhielt einen Tretkurbelantrieb. Krupp stellte nahtlose Eisenbahnräder her und es mehrten sich internationale Abkommen.


In dieses Jahr gehört eine aus den Familiengeschichten stammende Aussage der Schwester Elisabeth:

Dass mein Bruder sich selbst als meinen Erzieher betrachtete, hat er so oft hervorgehoben, dass ich es wohl erwähnen muss. Er gab mir die Bücher, die ich lesen durfte, überwachte meine Schularbeiten und war für die Bildung meines Geistes und Charakters sehr bedacht. Niemals habe ich es gewagt, mich gegen seine Autorität aufzulehnen, im Gegenteil - Alles was er sagte war mir Evangelium und über jeden Zweifel erhaben. BmN.9

Diese „Autorität“ war N insofern angetragen, als niemand - vor allem Elisabeth selber! – diesem Anspruch widersprach. Insofern wurde er N, seinem Willen entsprechend, unterstellt. Es gab nichts, wogegen N sich hätte durchsetzen müssen. Diese „Autorität“ war ihm in den Schoß gefallen. Ohne eine eigentliche Leistung dafür erbracht zu haben, genoss er dabei den Umstand, der Bestimmende, der geistig Überlegene, der Führende zu sein, doch war er durch nichts weiter legitimiert als dass er knapp 2 Jahre älter war als die sich ihm unterwerfende Schwester. Er übte unbewusst und einfach der Gegebenheiten wegen seine Vormachtstellung aus und definierte sich auch selbst über diese erlebte Bestimmen-Können - und über die Tatsache, dass ihm ohne bemerkenswerten Widerstand Folge geleistet wurde! Auf diese Weise trainierte er „Herrscheramtsgefühle“, nicht widerwillig, sondern weil es ihm ins Blut gelegt war, zu dominieren. Genaueres dazu wird sich in wiederkehrenden Erscheinungen dieses Verhaltens erweisen. Er hat diese „Autorität“ als selbstverständlich gelebt , genossen und - weil es sich so ergeben hatte! - es auch gebraucht, über jemanden nach seinem Dafürhalten verfügen zu können! Das Verhalten des „Verfügens“ sollte zu einem wesentlichen Faktor seines „Philosophierens“ werden, wohingegen aber er sich im täglichen Leben, „den Anderen“ gegenüber, entfernt nicht mit gleicher Selbstverständlichkeit durchzusetzen vermochte und das Gefühl der Überlegenheit nur in seltenen Fällen erlebt, insgesamt alles andere als zur Gewohnheit wurde und ihn in scheinbare Harmonie ausweichen ließ!


Wie weit diese „Herrschaft“ Ns über die Schwester ging beschrieb sie auf unbeabsichtigt eindrückliche Weise selber:

Leider durfte ich auch zu Hause fast nie mitspielen, wenn seine Freunde zugegen waren. Mein Bruder empfand, wie alle Jungens, die Gegenwart des weiblichen Elements [so drückte man geschlechtsspezifisch unterschiedliches Verhalten „tugendhaft“ aus - zu einer Zeit, in der noch das offen ausgesprochene Wort „Schenkel“ Ohnmachtsanfälle hervorrufen konnte. Sie galt also] bei richtigen Knabenspielen als hinderlich und überflüssig. So erinnere ich mich noch eines Sonntag Nachmittags, an dem Fritzens Freunde, dazu noch einige seiner Bekannten, zu uns eingeladen waren, darunter ein kleiner Knabe Ernst, Sohn eines russischen Staatsrates, der mit Großmütterchen von ihrer ersten Heirat her verwandt war. Dieser kleine Deutsch-Russe fand nun einiges Wohlgefallen an mir und als ich aus der Ferne mit den sehnsüchtigsten Blicken nach den Festungs- und Soldatenspielen schaute [im nachgestellten, parallel aber auch echt ausgetragenen Krimkrieg zwischen Russland und dem Osmanische Reich, Frankreich, Großbritannien von 1853 und ab 1855 bis 1856 auch noch dem Königreich Sardinien als „wirklichkeitsnahem Anlass zu diesem Spiel], machte er den überraschenden Vorschlag: „Lasst doch das kleine [7-jährige] Mädchen mitspielen ….. Alle Jungens starrten mich an, als ob sie mich noch nie gesehen hätten; den Grund, welchen der kleine Russe ….. angab, fanden sie einfach unverständlich oder kläglich. Schließlich ermannte sich der älteste der Freunde, den mein Bruder beunruhigt fragend ansah, zu einem mürrischen: „Meinetwegen“.

Auf diese graziöse Aufforderung stürzte ich mit Wonne herbei. Natürlich wurde ich der Partei des kleinen russischen Freundes zugeteilt und da ergab es sich, dass ich mit Festungsbauten, allerhand Kriegswissenschaft, Kriegslisten usw. ungewöhnlich gut Bescheid wusste [ohne Begründung warum? - was vermuten lässt, dass es des Effektes wegen frei erfunden war, aber zu Ns Charakterisierung weiter kolportiert wurde, so dass die Anekdote quasi zur N-Literatur gehört] ….. der kleine Freund konnte nun wirklich Russisch mit der richtigen Aussprache und flüsterte mir immer die russischen militärischen Ausdrücke ins Ohr. Wir waren alle leidenschaftliche Russenfreunde - als wir Beide nun gar russisch zu kommandieren anfingen, erregten wir einen unaussprechlichen Neid. Ich merkte ….. als ein bescheidenes kleines Mädchen hatte ich mich viel zu „mausig“ gemacht. Fritz warf mir einen ernsten Blick zu, ich fühlte, es war an der Zeit mich zurückzuziehen, ehe von außen die Aufforderung an mich herankam. Ich sagte also: „ich wollte wieder zu meinen Puppen gehen“. Der kleine Freund folgte mir auch nach meiner Spielecke, um sich die Puppen zeigen zu lassen, dadurch entstand eine Unterbrechung im Spiel; Fritz warf mir einen noch ernsteren Blick zu, ich verschwand [in vorauseilendem Gehorsam gewissermaßen] lieber ganz und gar und flüchtete in Großmütterchens Stube. BmN.10f

Also schrieb Friedrich Nietzsche:

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