Читать книгу Also schrieb Friedrich Nietzsche: "Zuletzt wäre ich sehr viel lieber Basler Professor als Gott; aber ..." - Christian Drollner Georg - Страница 13
1858: „Geistiges Erwachen“, Selbstbespiegelung u. Herrscheramt
ОглавлениеDer einflussreiche humoristischen deutsche Dichter und Zeichner, Wilhelm Busch, 1832-1908, veröffentlicht die humoristischen Bilder mit Versen „Max und Moritz“. In den Alpen beginnen die Erstbesteigungen besonderer Gipfel. Dem italienischen Chemiker und Politiker Stanislao Cannizzaro, 1826-1910, gelingt durch eine klare Herausarbeitung von Atomgewicht und Molekulargewicht die Festlegung der Atomgewichte relativ zum Wasserstoff und verhalf damit der Chemie zu richtigen Summenformeln. In Paris wurde Jacques Offenbachs Operette „Orpheus in der Unterwelt“ uraufgeführt. Das erste Transatlantikkabel wird verlegt und durch die Erfindung der Sohlennähmaschine beginnt die Mechanisierung der Schuhherstellung. Am 7. Oktober dankte Friedrich Wilhelm IV, König von Preußen seit 1840, Ns Namensgeber“, wegen Krankheit ab.
Im Laufe dieses Jahres beschäftigte N sich neben der Schule, bei der er sich nach eigenen Aussagen „nachhalten“, also ranhalten musste, um mitzukommen, mit Klavierkompositionen, schrieb Biographisches „Aus meinem Leben“, darin über Musik, seine Lehrer, über den angeblichen, acht Jahre zurückliegenden prophetischen Traum vom Tod des Bruders - davon gleich mehr - dass er schwimmen lernte und eine ganze Menge sonst, aber nichts davon, „Gott im Glanze gesehen“ zu haben; dieses Ereignis sollte tatsächlich erstmals 20 Jahre später in seiner Erinnerung auftauchen.
Aus der ersten Hälfte des Jahres sind von N keine an irgendjemanden gerichteten Briefe erhalten. Und geschrieben hat ihm wohl auch kaum jemand. Im Juli schreibt ihm die Mutter nach Pobles, wo N ferienweise wieder bei den Großeltern weilte:
Meine guten Eltern, lieben Geschwister und mein Fritz! Glücklich aber furchtbar erhitzt kamen wir am Montag um 10 Uhr hier [in Naumburg] an ….. Pinders sind heute alle gesund nach [dem gut 6 km entfernten] Kösen und wir sollen durchaus Sonnabend Alle kommen, also mache Dich auf mein Sohn, mache Dich aber hübsch fein, auch ein wenig besser gekämmt und wasche Dich am Abend zuvor tüchtig, dass Du es früh nicht nötig hast und gehe womöglich ½5 Uhr weg, denn die Glut wird später zu groß und hast dann keinen Genuss vom Tage, Du brauchst Dir ja bloß zum Frühstück etwas beizustecken und einmal nichts trinken, die seidene Mütze wirst Du in Kösen vorfinden. Nimm also ein Billet bis Naumburg springe dann [in Naumburg] in die Billetausgabe und löse Dir eins auf hin und zurück für Kösen aber schnell!! Bitte meinen Oscar [gemeint war der jüngste Bruder der Mutter] und bringe meinen Jungen entweder bis zur Bahn oder bis Naumburg, bringe dann für Schmaus Geld mit, denn Montag geht das Kirschfest an und dauert bis Freitag, Donnerstag ist der Haupttag.
N war inzwischen fast vierzehn Jahre alt, aber noch unverändert zu reglementieren, umsorgt und umhütet dass es an Übertreibung grenzte, - oder sollte diese dauerhafte Überversorgung des Jünglings - damit alles „glattging“! - tatsächlich notwendig gewesen sein? Fast scheint es so, - wie es sich zum Zeitpunkt des Übertrittes in das Internat Schulpforta wegen massenhafter „Unterlassungen“ ja schließlich erweisen sollte. In dieser Zeit begann N seine vielen Fassungen von sogenannten „Jugendschriften“. Sie bieten eigentlich wenig ergiebige Rückblicke auf seine Vergangenheit, betitelt „Aus meinem Leben. - von F. [Friedrich] W. [Wilhelm] N“. Den Nachnamen hatte N ausgeschrieben, bezeichnenderweise: Aus Sorge, in seinen Notizbüchern mit jemandem verwechselt zu werden? Oder aus Eigenliebe?! Dieses sich in den eigenen Notizheften immer wieder selbst mit vollem Namen verzeichnen kam lebenslang auch bei geringfügigsten und nicht ausgeführten Plänen bei dem übermäßig stark auf sich selbst Bezogenen immer wieder vor. Mit seinen Absichten zum ersten Lebensrückblick ging er nicht nur zurück bis auf seine ihm sehr wichtig erscheinende Geburt, sondern er wollte auch von dem „Vorher“ wissen und schrieb deshalb Mitte August 1858 an seine Tante Rosalie N, die zu Besuch war im etwa 110 km entfernten Plauen, wo mehrere Geschwister von Ns Vater lebten:
Meine liebe Tante! Verzeih, dass ich Dir so lange Zeit nicht geschrieben habe. Ich habe mich aber die ganzen Ferien in Pobles [bei den Großeltern] aufgehalten, außer einer Woche, wo ich mich teils in Naumburg, teils in Kösen [einem Solbadeort im Kreis Naumburg an der Saale] aufgehalten. Nämlich Pinders und Krugs hielten und halten sich dort auf. Bei meinem Besuch habe ich mich auch in Sole gebadet ….. Ich habe aber noch eine große Bitte: Da ich jetzt meine Biographie schreiben will, bemerke ich mit Schrecken, dass ich über das Leben des Papa und des Großonkels Krause, dann der Großmama in großer Ungewissheit bin und fast keine Data weiß. Ach willst Du nicht so gut sein und mir einen kurzen Lebensabriss von diesen lieben Personen und Charakterschilderung schreiben. Es ist zwar eine große Zumutung; aber Du hast doch vielleicht mehr Zeit als in Naumburg [wo sie sonst lebte] und wendest mir vielleicht ein Stündchen zu. Du tätest mir einen sehr großen Gefallen. Ich kann ja nicht eher anfangen ….. (18)
Der Wunsch nach einer ihm ja in allem bekannt sein müssenden „Biografie“, dürfte für einen noch nicht einmal Vierzehnjährigen auf eine extreme Neigung zu Selbstbetrachtung und Nabelschau weisen - das parallel zu einem ebenso extrem ausgeprägten Desinteresse an „den Anderen“. Er wollte - irgendwie eigentlich wie all seine spätere „Literatur“ - etwas „Literarisches“ produzieren, hatte aber dazu nur „sich“ - und nichts darüber hinaus! - als „Gegenstand“ und Thema zu bieten!
Die Antwort der Tante Rosalie ist nicht überliefert, aber es wird eine solche gegeben haben, denn N schrieb seine „Biographie“, in der er dem Vater, vor allem dessen Entschwinden viel Platz eingeräumt hat. Bis auf drei bis vier beiläufigste Erwähnungen kommt die Mutter allerdings darin nicht vor, was bei Ns überdurchschnittlicher Abhängigkeit von ihr befremdet, - vielleicht aber verbarg sich darin auch nur eine Verdrängung der Tatsache, dass er - sowohl seelisch als auch im Praktischen! - von ihr sehr abhängig war und er sie - im Rahmen seiner Beschäftigung mit sich selbst - einen natürlichen Bedarf an Freiheits- und Unabhängigkeitswillen auslebend! - über seinen Eigeninteressen so gut wie vergaß? Auch ansonsten allerdings ist Ns Nicht-Erwähnung anderer bei nachweislich gemeinschaftlich Erlebten auffallend.
Den ersten - erhalten gebliebenen! - Rückblick auf sein Leben begann N mit „Betrachtungen“ beziehungsweise Behauptungen allgemeinerer Art:
Wenn man erwachsen ist [was N noch lange nicht war], pflegt man sich gewöhnlich nur noch der hervorragenden Punkte aus der frühesten Kindheit zu erinnern. Zwar bin ich noch nicht erwachsen, habe kaum die Jahre der Kindheit und Knabenzeit hinter mir und doch ist mir schon so vieles aus meinem Gedächtnis entschwunden und das Wenige, was ich davon weiß, hat sich wahrscheinlich nur durch Tradition erhalten [oder just aus dem, was ihm Tante Rosalie geschrieben hatte?]. Die Reihen der Jahre fliegen an meinem Blicke gleich einem verworrenen Traume vorüber. Deshalb ist es mir unmöglich, mich in den ersten zehn Jahren meines Lebens an Daten zu binden. Dennoch steht Einiges hell und lebendig vor meiner Seele und dieses will ich, vereint mit Dunkel und Düster, zu einem Gemälde verbinden. Ist es doch immer lehrreich, die allmähliche Bildung des Verstandes und Herzens und hierbei die allmächtige Leitung Gottes zu betrachten. BAW1.1
Das sind viele Worte, etliche Sätze, Begriffe, Bilder, bis zum „Gemälde“ hin: Aber dem Ganzen fehlt ein überzeugender logischer Zusammenhang, denn die gelieferten Begründungen könnten ebenso gut auch ganz andere sein. N schien es so. Worum es hier ging, war, sich mit sich selbst zu beschäftigen und etwas zu sagen zu haben, wo es noch nichts über ihn hinaus Wichtiges zu sagen gab! Da es um ihn ging, begann er - was lag näher! - mit seiner Geburt. Außer dem Vater vor allem, kommen andere als er selber - und das wird für N bezeichnend bleiben! - in seiner „Biographie“ kaum vor:
Ich wurde in Röcken bei Lützen den 15. Oktober 1844 geboren [ganz schlicht noch, ohne sein „Auf-die-Welt-Kommen“ geographisch und „geistig“ mit den Völkerschlachtfeldern um Leipzig herum zu dramatisieren, aber der geschichtsträchtige Name „Lützen“ war immerhin schon einbezogen!] und empfing in der heiligen Taufe [recht gestelzt, denn zum Empfangen gehört eine aktive Teilnahme: Er aber wurde getauft und erhielt] den Namen: Friedrich Wilhelm. Mein Vater war für diesen Ort und zugleich für die Nachbarsdörfer Michlitz und Bothfeld Prediger [das waren eindeutig die von Tante Rosalia stammenden „Data“. Sie kommen später nicht wieder vor. Von Anfang an aber neigte N dazu - um der Einzigartigkeit wegen oder weil es in der Darstellung einfacher zu handhaben war? - zu emsigem Gebrauch undifferenzierter, differenzierende Aufwendungen erübrigende, superlativnahe Formulierungen über den Vater und überhaupt zu verwenden, wobei er mit einigen Worten sicher über das hinausging, was des Vaters Schwester Rosalie über ihren Bruder geschrieben hatte:] Das vollendete Bild eines Landgeistlichen! Mit Geist und Gemüt begabt, mit allen Tugenden eines Christen geschmückt, lebte er ein stilles, einfaches aber glückliches Leben und wurde von allen, die ihn kannten, geachtet und geliebt. Seine Mußestunden füllte er mit schönen Wissenschaft[en?] und mit Musik aus. Im Klavierspielen hatte er eine bedeutende Fertigkeit, besonders im freien Variieren erlangt BAW1.1f [wovon N seinen Erbteil abbekam!].
Wohl kann ich mich noch erinnern, wie ich einstmals mit dem lieben Vater von Lützen [dem nächstgrößeren Ort] nach Röcken [der Pfarrei des Vaters] ging und wie in der Mitte des [knapp 3 km langen] Weges die Glocken mit erhebenden Tönen das Osterfest einläuteten. Dieser Klang tönt so oft in mir wieder und Wehmut trägt mich sodann nach dem fernen, teuren Vaterhause hin ….. Das Wohnhaus war erst 1820 gebaut und deshalb in sehr nettem Zustand. Mehrere [steinerne] Stufen führten hinauf zum Parterre. Noch kann ich mich des Studierzimmers in der obersten Etage erinnern. Die Reihen Bücher, darunter manche Bildwerke, diese Schriftrollen machten diesen Ort zu einem meiner Lieblingsplätze. Hinter dem Haus breitete sich der Obst- und Gemüsegarten aus. BAW1.2
Noch muss ich etwas erwähnen, was mich immer mit geheimem Schauder erfüllte [aber erst durch Tante Rosalies Bericht ihm wieder in die Erinnerung geriet?]. Nämlich in der düstern Sakristei der Kirche stand an der einen Seite das übermenschliche Bild des heiligen Georg, von geschickter Hand in Stein gegraben [gehauen? - Hier benutzte N das bei den Weimarer Klassikern, besonders von Goethe im Faust benutzte Wort „Übermensch“ zum ersten Mal!]]. Die hehre Gestalt, die furchtbaren Waffen und das geheimnisvolle Halbdunkel ließen mich ihn immer nur mit Scheu betrachten ….. Rings um den Gottesacker herum liegen die Bauernhöfe und Gärten in trauter Stille. Eintracht und Friede waltete über jeder Hütte und wilde Erregungen blieben von ihnen fern [jedenfalls hatte er von solchen nichts erfahren!]. Überhaupt entfernten sich die Bewohner selten von dem Dorfe, höchstens an Jahrmärkten, wo muntere Scharen von Burschen und Frauen sich nach dem belebten Lützen begaben und das Gewühl der Menschen und die glänzenden Waren bewunderten. Sonst ist Lützen ein kleines und einfaches Städtchen, dem man nicht ansieht, welche welthistorische Bedeutung es hat [was N damals noch nicht zu sich selbst in Beziehung setzte!]. Zwei Mal wurden hier ungeheure Schlachten geschlagen [1632 eine der Hauptschlachten des Dreißigjährigen Krieges, in der der Schwedenkönig Gustav II. Adolf fiel und weil Napoleon am Denkmal für den gefallenen Schwedenkönig nächtliche Rast hielt - tatsächlich etwas weiter entfernt, bei Großgörschen, die erste Schlacht der Befreiungskriege gegen den französischen Eroberer am 2. Mai 1813, welcher bei großen Verlusten doch Sieger war] ….. mit dem Blute fast aller europäischen Nationen ist dort der Boden getränkt. BAW1.3
Während wir in Röcken ruhig und still lebten, bewegten heftige Erregungen fast alle Nationen Europas ….. die ungeheure Februarrevolution in Paris [mit dem Sturz des „Bürgerkönigs“ Louis-Philippe] wälzt sich [1848] mit verheerender Schnelle umher. „Freiheit, Gleichheit, Brudersinn“ ertönte es in allen Landen, der niedere wie angesehene Mann ergriff das Schwert teils für, teils gegen den König. Der Revolutionskampf in Paris findet in den meisten Städten Preußens Nachahmung. Und selbst bei schneller Unterdrückung blieb doch noch lange der Wunsch des Volkes „eine deutsche Republik“. Nach Röcken drangen diese Erhebungen nicht; wohl aber kann ich mich noch erinnern, wie Wagen mit jubelnden Scharen und wehenden Fahnen auf der Landstraße hinfuhren BAW1.3f [während der Vater sich unbeobachtet von dem kleinen N einschloss in seinem Zimmer und das Verbot erließ, davon je wieder mit ihm zu reden! - Über die 2 Jahre jüngere Schwester verlor N bisher kein Wort!]
Während dieser verhängnisvollen Zeit bekam ich noch ein Brüderchen, in der heiligen Taufe Karl Ludwig Joseph genannt, ein allerliebstes Kind. Bis hierher hatte uns immer Glück und Freude geleuchtet, ungetrübt war unser Leben dahingeflossen, wie ein heller Sommertag; aber da türmten sich schwarze Wolken auf, Blitze zuckten und verderbend fallen die Schläge des Himmels [aus Gottes Höhe und Hand?] nieder. Im September 1848 wurde plötzlich mein geliebter Vater [sicherlich so - noch ohne begründenden Treppensturz! - der mit Sicherheit nicht von Tante Rosalie berichtet war] gemütskrank. Jedoch trösteten wir uns und er sich mit baldiger Genesung. Immer wenn wieder ein besserer Tag war, bat er doch ihn wieder predigen und Konfirmandenstunden geben zu lassen. Denn sein tätiger Geist konnte nicht müßig bleiben [was einen hohen Anspruch erwecken sollte, aber der Vater war kein Wissenschaftler, sondern ein Prediger!]. Mehrere Ärzte bemühten sich, das Wesen der Krankheit zu erkennen, aber vergebens. Da holten wir [auch das dürfte von Tante Rosalie so geschrieben worden sein; der knapp vierzehnjährige N unterließ es hier, den Text der Tante in die „Erlebnisebene“ seines Berichtes zu übertragen. Er identifizierte sich stattdessen mit dem zu Beschreibenden, denn es war - aus dem Blickwinkel seiner Erinnerung heraus! - ein Ding der Unmöglichkeit, dass der Vierjährige in dieses „wir“ eingeschlossen gewesen sein konnte! Also: Da holten „wir“] den berühmten Arzt Opolcer [Johann von Oppolzer, 1808-1871, ein österreichischer Mediziner und Hochschullehrer], der sich damals in Leipzig befand, nach Röcken [doch zu dem Zeitpunkt war der Vater längst seit Monaten zur Behandlung in Naumburg untergebracht]. Dieser vortreffliche Mann erkannte sogleich, wo der Sitz der Krankheit zu suchen wäre. Zu unser aller Erschrecken hielt er es für eine Gehirnerweichung, die zwar noch nicht hoffnungslos, aber dennoch sehr gefahrvoll sei [die syphilitische Ursache der progressiven Paralyse wurde lt. Wikipedia erst 1857 von dem Arzt Friedrich von Esmarch, 1823-1908, und dem Psychiater Peter Willers Jessen, 1793-1895 erkannt.]. Ungeheure Schmerzen musste mein geliebter Vater ertragen, aber die Krankheit wollte sich nicht vermindern, sondern sie wuchs von Tag zu Tag. BAW1.4f
Endlich erlosch sogar sein Augenlicht und in ewigem Dunkel musste er noch den Rest seiner Leiden erdulden. Bis zum Juli 1849 dauerte noch sein Krankenlager; da nahte der Tag der Erlösung. Den 26. Juli versank er in tiefen Schlummer und nur zuweilen erwachte er. Seine letzten Worte waren: Fränzchen, - Fränzchen [der Ruf nach seiner Frau Franziska] - komm - Mutter - höre - höre - Ach Gott! - Dann entschlief er sanft und selig ….. Die Tage darauf vergingen unter Tränen und Vorbereitung zum Begräbnis. Ach Gott! Ich war zum vaterlosen Waisenkind, meine liebe Mutter zur Witwe geworden! [auch diese Wendungen dürfte N ziemlich unmittelbar aus Tante Rosaliens Angaben übernommen haben] - - - - Den 2. August wurde die irdische Hülle meines teuren Vaters dem Schoß der Erde anvertraut. Die Gemeinde hatte das Grab ausmauern lassen. Um 1 Uhr Mittag begann die Feierlichkeit unter vollem Glockengeläute. Oh, nie wird sich der dumpfe Klang derselben aus meinem Ohr verlieren, nie werde ich die düster rauschende Melodie des Liedes „Jesu meine Zuversicht“ vergessen! Durch die Hallen der Kirchen brauste Orgelton ….. Dann wurde [draußen, an der Außenwand der Kirche] der Sarg hinabgelassen, die dumpfen Worte des Geistlichen erschallten und entrückt war er, der teure Vater allen uns Leidtragenden. Eine gläubige Seele verlor die Erde, eine schauende empfing der Himmel. - BAW1.5
Das klingt alles sehr fremdbestimmt und war weitgehend frei von eigenem Empfinden und Erleben.
Wenn man einen Baum seiner Krone beraubt, so wird er welk und kahl und die Vöglein verlassen die Zweige [was sehr nach dem „kleinen Pastor“ klang, der so hinreißend pathetische Sprüche aufsagen konnte!]. Unsere Familie war ihres Oberhauptes beraubt, alle Freude schwand aus unsern Herzen und tiefe Trauer herrschte in uns [denn so verhielt man sich!]. Aber kaum waren die Wunden ein wenig verheilt, so wurden sie von Neuem schmerzlich aufgerissen. - In der damaligen Zeit träumte mir einst [aber diese „Geschichte“ tauchte hier mit 8 Jahren Verspätung erst- und einmalig auf], ich hörte in der Kirche Orgelton wie beim Begräbnis. Da ich sah, was die Ursache wäre, erhob sich plötzlich ein [außerhalb der Kirche gelegenes] Grab und mein Vater im Sterbekleid entsteigt demselben. Er eilt in die Kirche und kommt in kurzem mit einem kleinen Kinde im Arm wieder. Der Grabhügel öffnet sich, er steigt hinein und die Decke sinkt wieder auf die Öffnung. Sogleich schweigt der rauschende Orgelschall und ich erwache. - Den Tag nach dieser Nacht wird plötzliche Josephchen unwohl, bekommt die Krämpfe und stirbt in wenigen Stunden. Unser Schmerz war ungeheuer. Mein Traum war vollständig in Erfüllung gegangen. Die kleine Leiche wurde auch noch in die Arme des [bereits vor viereinhalb Monaten beerdigten?] Vaters gelegt. - Bei diesem doppelten Unglück war Gott im Himmel [unverwandt!] unser einziger Trost und Schutz. Dies geschah Ende Januar 1850. - - - BAW1.6
Die Zeit, wo wir von unserm geliebten Röcken scheiden sollten, nahte heran ….. Das Logis, welches man [wer war das?] für uns bestimmt hatte, lag in der Neugasse ….. Es war für uns schrecklich, nachdem wir so lange auf dem Lande gewohnt hatten, in der Stadt zu leben ….. Die großen Kirchen und Gebäude, der Marktplatz mit Rathaus und Brunnen, die ungewohnte Menge des Volkes erregte meine große Bewunderung. Dann erstaunte ich, wie ich bemerkte, dass die Leute oft miteinander unbekannt waren ….. Was mir aber am unangenehmsten war, das waren die langen gepflasterten Straßen ….. Sonst aber fügte ich mich sehr schnell in das Stadtleben ein ….. Später wurde ich auch als Schüler dem Direktor der Bürgerschule gemeldet. BAW1.6f
Ich mag wohl zuerst etwas verwirrt unter so vielen Kindern gewesen sein, aber da ich schon vom Papa und Hr. Schulmeister in Röcken [vor allem aber von der nicht für erwähnenswert gehaltenen Mutter!] etwas unterrichtet war, machte ich schnelle Fortschritte. Aber schon damals fing mein Charakter an sich zu zeigen. Ich hatte in meinem jungen Leben schon sehr viel Trauer und Betrübnis gesehen und war deshalb nicht ganz so lustig und wild wie Kinder zu sein pflegen. Meine Mitschüler waren gewohnt mich wegen dieses Ernstes [aber - ihm unbewusst! - wohl auch wegen seiner Gefühlsblindheit für „die Anderen“] zu necken. Aber dieses geschah nicht allein in der Bürgerschule, nein, auch später im Institut und sogar im Gymnasium. Von Kindheit an suchte ich die Einsamkeit und fand mich da am wohlsten, wo ich mich ungestört mir selbst überlassen konnte [ein nach Maß und Bedarf durchaus autistisch zu nennender Zug seines Wesens]. Und dies war gewöhnlich im freien Tempel der Natur und die wahrsten Freuden fand ich hierbei [ungestört von der Realität „der Anderen“!]. So hat auf mich stets ein Gewitter den schönsten Eindruck gemacht; der weithin krachende Donner und die hell aufleuchtenden Blitze vermehrten nur meine Ehrfurcht gegen Gott. BAW1.7f
Sein Anderssein und die ausgeprägte Liebe zur Einsamkeit wurden von N verständlicherweise positiv begründet. Bei der Gewitterschilderung könnte es sonderbar scheinen, dass N vor dem Blitz, den Donner nannte, was zumindest zeigt, dass sich in seiner Darstellung nicht die gemeinhin zu machende, immer wieder beeindruckende Erfahrungen der realistischen Aufeinanderfolge dieser Ereignisse spiegelt, was eigentlich doch selbstverständlich wäre! Er aber drehte - instinktiv? - die Fakten Blitz und Donner um! Und das Ereignis des in einem Gewitterguss doch die Schulgesetze befolgenden „gesitteten Nachhause-gehens“ erwähnte N in seiner Selbstdarstellung nicht! Er fuhr stattdessen auf folgende Weise fort:
Herr Kandidat Weber [in dessen Institut die Freundschaft mit den Söhnen Krug und Pinder zu voller Entfaltung kam], ein christlicher tüchtiger Lehrer [zu dem N später irgendwann „später ein Säufer“ hinzufügte, was darauf verweist, dass er diesen Text nach Jahren noch einmal und zwar kritisch vor die Augen nahm], kannte unsere Freundschaft und suchte sie nie zu trennen. Hier wurde der Grundstein für unsere zukünftige Bildung gelegt. Denn neben ausgezeichneten Religionsstunden empfingen wir auch den ersten Unterricht im Griechischen und Lateinischen. Wir waren nicht mit Arbeiten überladen und hatten deshalb Zeit, für unseren Körper zu sorgen.
Im Sommer wurden oft kleine Partien in die Umgebung unternommen. So besuchten wir die lieblich gelegene Schönburg [auf deren Turmes Zinnen ihn im Herbst dieses Jahres erstmals seine lebenslang beibehaltenen „Herrschaftsamtsgefühle“, sie dichterisch benennend überkamen!], Schloss Gosek, Freiburg, dann auch Rudelsburg und Saaleck [lauter Burgruinen der Umgebung] ….. So ein gemeinsamer Spaziergang [eigentlich waren es ja Wanderungen] ist immer etwas sehr Erheiterndes; vaterländische Lieder erschollen, lustige Spiele wurden gespielt und wenn der Weg durch einen Wald führte, so schmückte man sich mit Laub und Zweigen. [Das klingt alles nach eifrigem Mittun und wenig nach kritischer, sich nicht dazugehörig fühlender „Distanz“!] Die Burgen erklangen von dem wilden Getöse der Zechenden - mir fielen die Zechgelage der alten Ritter ein. In den Höfen und auf den Wällen unternahm man Ritterkämpfe und die großartige Zeit des Mittelalters wurde im Kleinen nachgeahmt. Dann erstieg man die hohen Türme und Warten, überschaute das im Abendschimmer vergoldete Tal und zog, wenn die Nebel sich auf die Wiesen senkten, unter lautem Gejubel der Heimat zu. BAW1.8f
Da schilderte N sich zweifellos als einer unter Vielen, keine Ausgeschlossenheit, kein quälendes Anderssein, keine Kritik und kein Hader. Es gab also diese Seite in seinem Kindsein auch!
Alle Frühjahre [N besuchte das Institut von 1851 bis Herbst 1854] hatten wir ein Fest ….. Wir begaben uns nämlich nach Rossbach [knapp zweieinhalb Kilometer nördlich], einem kleinen Dorf in der Nähe von Naumburg, wo zwei Vögel [Schießscheiben in Vogelform!] unsrer Armbrüste warteten [was einer irgendwie “schiefen“, reichlich selbstmittelpunktlich orientierten Logik entsprach!]. Es wurde mit großem Eifer geschossen, Herr Kandidat Weber verteilte die Gewinne und alles war in Freude und Jubel. Im nächsten Walde spielten wir sodann Räuber und Gendarm wobei es sehr wild herging und Prügel nach Noten verteilt wurden bis uns endlich der Herr Kandidat zur Rückkehr ermahnte. - BAW1.9
Während dieser Zeit [was nicht ganz stimmte, denn die längste Zeit davon besuchte N mit seinen Freunden bereits das Domgymnasium] waren die Blicke aller mit banger Besorgnis auf die Verwicklungen gerichtet, welche sich zwischen der Türkei und Russland entspannen.
Man verfolgte spielend mit Bleisoldaten, Brand und Feuer und nachgestelltem Hafenwasserbecken von Sewastopol, in dem Papierschiffe schwammen und in Flammen aufgingen, die kriegerischen Ereignisse und war über Monate hinweg vollauf beschäftigt, bis:
„Eines Tages [das kann nicht vor September 1855 gewesen sein] kam Gustav [Krug] zu mir und teilte mit erregter Miene mir mit, dass Sewastopol genommen sei. Nachdem alle Zweifel beseitigt waren, löste sich unsre Wut in augenblicklichen Zorn gegen die Russen „dass sie den Malakoffturm nicht besser verteidigt hätten“ BAW1.23 [womit sich die Kriegsspiele des Weiteren als erledigt erwiesen].
Auch fallen in diese Zeit meine ersten Gedichte. Das, was man in diesen ersten zu schildern pflegt, sind gewöhnlich Naturszenen. Wird doch ein jedes jugendliches Herz von großartigen Bildern angeregt, wünscht doch jedes diese Worte am liebsten in Verse zu bringen! Grauenhafte Seeabenteuer, Gewitter mit Feuer war der erste Stoff zu diesen. Ich hatte keine Vorbilder, konnte kaum mir denken, wie man einen Dichter nachahme und formte sie [wie er es mit allen „Dingen“ tat!], wie die Seele sie mir eingab. Freilich entstanden da auch sehr misslungene Verse und fast jedes Gedicht hatte sprachliche Härten ….. Überhaupt war es stets mein Vorhaben, ein kleines Buch zu schreiben und es dann selbst zu lesen [und sich gar davon noch überraschen zu lassen?]. Diese kleine Eitelkeit habe ich jetzt immer noch [als Vierzehnjähriger! Aber auch weit darüber hinaus behielt N „diese kleine Eitelkeit“ bei. Sein ganzes Leben lang las er seine eigenen Bücher und war nicht selten, ach was, fast jedes Mal von deren „Qualität“ derart überwältigt, dass er kaum glaubte, sie selber geschrieben zu haben! Auch davon später mehr] ….. Da ich Reim und Versmaß nicht sehr in meiner Gewalt hatte und es mir auch zu langsam von Statten ging, machte ich reimlose Verse und ich besitze noch mehrere solche Gedichte. BAW1.11
Soweit die geballte Selbstbetrachtung und die Beschäftigung mit sich selbst! Im Anschluss daran beschrieb N seine Freunde, die Apellationsratssöhne, von denen der eine Gustav Krug war: Von Musik geprägt strebte er seinem musikalischen Vater nach, erlernte das Violinspiel und war von Wagner begeistert, als N von diesem noch gar nichts kannte, so dass Gustav Krug zu Ns „Wagnerverführer“ wurde und sich von N nicht leicht beeinflussen ließ, sondern mit ausgewiesenen Gründen gerne bei seiner eigenen Meinung blieb. Das war N aufgefallen, wohl weil er oft an ihm abgeprallt war, wenn es, statt nach Gustavs, eigentlich nach seiner eigenen Meinung und seinem Dafürhalten hätte gehen sollen. Der andere Freund war Wilhelm Pinder, „bei weitem milder“, ebenfalls seinem Vater nachstrebend, der literarisch Bewanderte, aber recht kränklich, mit wachem Sinn für Schönheit und Kunst: Sein liebevolles Benehmen gegen mich und gegen alle, mit denen er in Berührung kam befreundete ihn jedermann und im Grunde hasste ihn keiner [dass N dieses hier eigentlich gar nicht notwendige Wort anklingen ließ, dürfte gut und gerne auf etwas psychologisch Verborgenes weisen]. Später, als unser Interesse für Poesie wuchs, da wurden wir uns ganz unentbehrlich ….. Wir tauschten wechselweise unsre Ideen über Dichter und Schriftsteller, gelesene Werke, über neue Erscheinungen im Gebiete der Literatur, fassten gemeiniglich Pläne, gaben uns gegenseitig Gedichte auf und wurden nicht ruhig, bevor wir ganz unser Herz geöffnet hatten. BAW1.14f
Nach der Darstellung der Freunde fällt eine angesichts seines Herkommens etwas sonderbare Formulierung auf:
Ja, es ist etwas hohes, edles, wahre Freunde zu haben [das betraf speziell diese beiden] und unser Leben ist von Gott bedeutend verschönert worden, dass er uns Mitgefährten gab, die mit uns dem Ziele zustreben [um welches es sich handelte, wurde nicht gesagt, aber offenbar gab es für ihn bereits eins!]. Und besonders ich muss Gott im Himmel dafür loben [besonders Er kann, darf, muss loben? Gleichsam auf schulterklopfender Augenhöhe, in der Art von: „fein gemacht“!? - Welchem gefühlsmäßig eigenartigen Verhältnis entsprang diese Formulierung Ns im Moment dieses Lobes? Unbewusst angebracht oder eher mal so „unterlaufen“, - als Spiegel dessen, wie Er „im Leben“ und zu „den Dingen“ - meistens besserwissend! - stand? Diese Haltung sollte sich im Laufe der Jahre verstärken. - Oder sollte es sich hier ganz schlicht nur - im Sinne von „gottlob“! - um einen unreflektierten Ersatz für das Wort „danken“ handeln? Welche der beiden Versionen dürfte für diesen Fall die zutreffendere sein? Die gewählte Form des „besonders ich muss Gott im Himmel dafür loben“ kontrastiert sehr zu dem, was er später „über das Loben“ auf prinzipiell „philosophisch“ gemeinte Weise als ein anmaßendes, im Wesentlichen zur Korrektur veranlasstes „Verhalten“ vom Stapel lassen sollte - und diese Haltung], da mir ohne diese [beiden, Gustav und Wilhelm] in Naumburg vielleicht nie heimisch geworden wäre. Aber so, indem ich hier lebende Freunde gewann [aber woanders wären es dann sicher doch andere gewesen?!], wurde mir der Aufenthalt auch hier teuer und sehr schmerzlich würde es mir sein, von hier scheiden zu müssen. Denn wir Drei waren [aber das sollte nur noch wenige Wochen, bis zu Ns Eintritt in das Internat Schulpforta dauern!] eigentlich nie getrennt, außer in den Ferien wo ich gewöhnlich mit Mama und Schwester [da fanden sie erstmals Erwähnung!] verreist war. Gewöhnlich waren wir dann in Pobles [bei den Großeltern]; einmal erfüllten wir den Wunsch der lieben Tanten [väterlicherseits] in Plauen [gut 110 km südlich gelegen] und blieben dort einige Wochen. Da die reichen Fabrikherren daselbst unsre Verwandten sind, so war das stets ein angenehmer Aufenthalt [denn N war mehrfach dort gewesen] ….. Ich werde nun noch die zweite Periode meiner Gedichte erwähnen, dann wollen wir uns etwas in Naumburg umsehen BAW1.15
Gut 2 Druckseiten lang spielte er dann den Naumburger Stadtführer und berichtete, am Ende davon, von seinem Erlebnis des Händelschen „Halleluja“ aus dessen Oratorium „Der Messias“ und seiner ihm im Rückblick erscheinenden Stellung zur Musik und zu seinen Kompositionen. Danach gab er mit absoluter Selbstverständlichkeit sein Qualitätsurteil über den damaligen Naumburger Musikdirektor ab: Übrigens lobend, wie zuvor gegenüber Gott. Dann folgten Ausführungen über das Domgymnasium, also über die Zeit nach dem Herbst 1854. Dort war, wie er fand, der Religionsunterricht „wahrhaft erbärmlich“ BAW1.19, was noch zwei Jahre lang dauern sollte. Dann berichtete er über familiäre Todesfälle: Eine der beiden Tanten starb und einige Monate darauf auch die Großmama N und dann folgte seine Versetzung nach Quarta, also ab Herbst 1855.
Weihnachtsfeste waren regelmäßig die Höhepunkte: „der seligste Abend des Jahres. Mit wahrhaft überseliger Freude harrte ich schon lange darauf, aber die letzten Tage konnte ich kaum mehr erwarten, Minute für Minute verging und so lang kamen mir die Tage wie im ganzen Jahre nicht vor. Eigentümlich war, dass, wenn ich einmal recht Sehnsucht hatte, mir alsbald [als Ersatzhandlung] einen Weihnachts-[Wunsch-]Zettel schrieb und mich dadurch förmlich in den Augenblick hineinversetzte, an dem sich die Tür öffnete und der leuchtende Christbaum uns entgegenstrahlte.
In einer kleinen Festschrift schrieb ich hierüber [und nun zitierte er sich in naiver Hingabe an das Gewohnte selbst]: „Wie herrlich steht der Tannenbaum, dessen Spitze ein Engel ziert, vor uns, hindeutend auf den Stammbaum Christi, dessen Krone der Herr selbst war. Wie hell strahlt der Lichter Menge, sinnbildlich das durch die Geburt Jesu erzeugte Hellwerden unter den Menschen vorstellend. Wie verlockend lachen uns die rotwangigen Äpfel an, an die Vertreibung aus dem Paradies erinnernd [wäre das vom Logischen her ein überzeugender Grund, zu feiern?]! Und siehe! An der Wurzel des Baumes das Christkindlein in der Krippe; umgeben von Josef und Maria und den anbetenden Hirten! Wie doch jene den Blick voll inniger Zuversicht auf das Kindlein werfen! Möchten doch auch wir uns so ganz dem Herrn hingeben!“ - - -
Damit war glaubensinhaltlich der Höhepunkt schon vorüber. Ns Weihnachtsverständnis war darüber hinaus außerordentlich profan!
Wenn nicht ganz so herrlich, aber doch ähnlich ist das Geburtstagsfest. Aber was ist die Ursache, dass wir nicht so wie am Christfest von Freude durchdrungen sind? [Auch bei solchen „Fragen“ plagte N ein Abgrenzungs- und eindeutiger „Wertungsbedarf“, eine etwas totalitär abgrenzende und polarisierend festlegende „Schulgesetzliche“ Ordnung der Rangfolge, auf die Verlass sein konnte!] Erstens fehlt ganz jene hohe Bedeutung, die dies erstgenannte über alle andern Feste erhebt. Dann aber betrifft es nicht nur uns allein, sondern überhaupt die gesamte Menschheit, Arme und Reiche, Kleine und Große, Niedrige und Hohe [was Superlative ergab, denen N nicht zu widersprechen vermochte!]. Und gerade diese allgemeine Freude vermehrt unsre eigne Stimmung. Kann man sich doch mit jedem darüber besprechen, sind ja doch alle Menschen gleichsam Mitharrende. Dann beachte man auch die Lage, so dass es, so zu sagen, den Kulminationspunkt des Jahres bildet, bedenke man jene nächtliche Stunde, wie überhaupt die Seele am Abend viel erregter ist und endlich jene ganz außergewöhnliche Feierlichkeit, mit der dieses Fest geehrt wird. Das Geburtstagsfest ist mehr Familienfest, Weihnachten ist aber das Fest der gesamten Christenheit. Aber dennoch habe ich meinen Ehrentag sehr lieb. Da er mit dem Geburtstag unsers lieben Königs zusammenfällt, so werde ich des Morgens schon mit Militärmusik geweckt. Nach beendigter Bescherungszeremonie wenden wir uns zur Kirche hin. Ist die Predigt auch nicht für mich geschrieben, so ziehe ich mir doch [wie es für jeden anderen ebenso gelten soll] das Beste heraus und wende es auf mich an. BAW1.25f
Da bestand durchaus - noch? - bei N ein anerzogenes und wohl auch erlebtes Verhältnis zum Dasein „der Anderen“. Vielleicht nur im Rahmen und als Beigabe der ihn umgebenden, aber nicht wirklich geteilten Gläubigkeit, die nur in einem auf „die Anderen“ bezogenen Umfeld möglich ist. Sehr fest, in innerlicher Überzeugung, kann diese Lebenseinstellung allerdings nicht in ihm verwurzelt gewesen sein, da sie ihm irgendwann in nächster Zeit sang- und klang- und beinahe spurlos abhandenkam. Das Nähere dazu wird sich zeigen. In der Beschreibung seines Lebens und Wesens fuhr er, der Musik zugewandt fort:
Gott hat uns die Musik gegeben, damit wir erstens, durch sie nach Oben geleitet werden [da wirkte - schon? - wieder einmal? - das für N so sinngebende Motiv der Erhöhung - als eine Variante der als moralisch anzusehenden Weltverbesserung? - oder nur der Flucht aus der summarisch ungeliebten Realität? - mit. Sollten das Reste des altüberkommenen, noch mittelalterlichen Strebens nach dem Göttlichen gewesen sein? Ein Antrieb, dem drohenden, ebenso nur gedachten höllischen Gegenpol zu entkommen? In seiner Umgebung gab es herzlich wenig, was auf eine moderne, in die Zukunft weisende Art zu denken gerichtet gewesen wäre. Da war alles noch höchst pfarrlich von und in Gott gegründet, noch immer ohne über das rein Reformatorische hinausgehende Spurenelemente der längst über die Bühne gegangenen Aufklärung mit ihrem Ruf nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und eigenem, selbstverantwortlichem Denken zu spüren]. Die Musik vereint alle Eigenschaften in sich, sie kann [und das nannte N als Erstes, weil es ihm besonders wichtig erschien:] erheben [die Probleme der Alltäglichkeit vergessen machen], sie kann tändeln, sie kann uns aufheitern, ja sie vermag mit ihren sanften wehmütigen Tönen das roheste Gemüt zu brechen [tatsächlich?]. Aber ihre Hauptbestimmung [und wieder wegen etwas, das ihm persönlich besonders wichtig war:] dass sie unsere Gedanken auf Höheres [auf Gott oder nur das ihm Wohlgefällige?] leitet, dass sie uns erhebt, sogar erschüttert. BAW1.26
Es steckt darin ein ziemliches Potential an schwer beschreibbarer, eher realitätsferner „Weltflucht“ „nicht von dieser gewöhnlichen, allgemein zugänglichen Welt“ zu sein, dem Ns Gefühlsleben einen besonderen, eigenen Stellenwert zuzubilligen schien!]
Vorzüglich ist dies der Zweck der Kirchenmusik. Indes muss man [denn da kam N mit seinem Ausschließlichkeitsstreben in Konflikt!] bedauern, wie sich die Gattung der Musik immer mehr von ihrer Hauptbestimmung entfernt. Hierzu gehören auch die Choräle. Aber es existiert jetzt so mancher Choral, der mit seiner schleppenden Melodie so ungemein von der Stärke und Kraft der Älteren abweicht. Dann aber erheitert sich auch das Gemüt und vertreibt die trüben Gedanken. Über wen kommt nicht ein stiller, klarer Friede, wenn er die einfachen Melodien Haydns hört! Die Tonkunst redet oft in Tönen eindringlicher als die Poesie in Worten zu uns und ergreift die geheimsten Falten des Herzens. Aber alles was uns Gott schenkt, kann uns nur dadurch zum Segen gereichen, wenn wir es richtig und weise anwenden. So erhebt der Gesang unser Wesen und führet es zum Guten und Wahren. BAW1.26f
Das war noch biedermeierlich gedacht, gleichsam in Unkenntnis der damals technisch noch nicht möglichen Erweiterung des alten Spruches „wo man singt, da lass dich ruhig nieder“, - mit der später dann „modernen“ Ergänzung: Böse Menschen haben ein Grammophon“! - Es war die Beschwörung einer heilen Welt und bot beliebig gewählte Begründungen, die überzeugen sollten! In seinen Satzgefügen wird sein aufkeimendes Bemühen erkennbar, aus dem, was ihn beeindruckte, erhob, erschauern ließ oder Vergnügen machte, - daraus Weltgesetzmäßigkeiten konstruieren zu wollen: Überall klingt durch, wie sehr N dazu neigte, was er selber empfand und „dachte“ für einzig richtig - ganz allgemein! - als das Richtige, das Wahre, das Gute und das Vorbildliche überhaupt zu halten. Gleich darauf folgte noch der Prediger, auf Ordnung, Sitte und Moral bedacht:
Wird aber die Musik nur zur Belustigung gebraucht oder um sich sehen zu lassen vor den Menschen, so ist sie sündlich und schädlich. Und doch findet man gerade dieses so häufig, ja fast die ganze moderne Musik trägt die Spuren davon. Eine andre recht traurige Erscheinung ist, dass viele neuere Komponisten sich bemühen, dunkel zu schreiben. Aber gerade solche künstliche Perioden, die vielleicht den Kenner entzücken, lassen das gesunde Menschenohr kalt. Vorzüglich diese sogenannte Zukunftsmusik eines Liszt, Berlioz, [sie] sucht etwas darin, so eigentümliche Stellen wie nur möglich zu zeigen BAW1.27 [und doch blieb bei dem, was Ns Unwillen hier erregte, aus unerfindlichen Gründen ausgerechnet der damals „Schlimmste von allen“, Richard Wagner, unerwähnt! - Dies dank der Vorarbeit seitens Gustav Krug, der damals Wagner gegenüber durchaus positiv eingestellt war, was N bereits ausreichend beeinflusst hatte? Und war es nicht N später selbst, der sich durch das Vorzeigen „möglichst eigentümlicher Stellen“, das heißt „von zuvor noch nicht Vernommenen“ auszuzeichnen versuchte?] -
Auch gewährt die Musik eine angenehme Unterhaltung und bewahrt jeden, der sich dafür interessiert, vor Langeweile. [Und plötzlich bricht, totalitär, bösartig, einseitig, bestimmend und die Kontrolle verlierend hervor:] Man muss alle Menschen, die sie [die Musik] verachten als geistlose, den Tieren ähnliche Geschöpfe betrachten [muss man?]. Immer sei diese herrliche Gabe Gottes meine Begleiterin auf meinem Lebensweg [gleichsam als Schutz vor der Tierheit in ihm selber? Damit Er nicht auf der Stufe „der Anderen“ zu finden sei?] und ich kann mich glücklich preisen, sie [die Musik] lieb gewonnen zu haben. Ewig Dank sei Gott von uns gesungen, der diesen schönen Genuss uns darbietet! - - BAW1.27 [Ohne auch nur einen Gedanken daran, dass Andere gegebenenfalls ganz anderen Genüssen frönen mögen!]
In der dritten Periode meiner Gedichte versuchte ich die erste und die zweite zu verbinden, d.h. Lieblichkeit mit Kraft vereinen. In wie weit mir dies gelungen ist, weiß ich selbst noch nicht zu bestimmen. Diese Periode begann mit dem 2ten Februar 1858 [war also noch nicht lange her!]. An diesem Tage nämlich ist meiner lieben Mutter Geburtstag. Gewöhnlich pflegte ich ihr eine kleine Sammlung Gedichte zu überreichen. Von da an nahm ich mir vor, mich etwas mehr in der Poesie zu üben und wenn es geht womöglich jeden Abend ein Gedicht zu machen. Dieses führte ich ein paar Wochen hindurch aus und jedes Mal gewährte es mir große Freude, wenn ich wieder ein neues Geistesprodukt vor mir liegen sah ….. Ein gedankenleeres Gedicht, das mit Phrasen und Bildern überdeckt ist, gleicht einem rotwangigen Apfel, der im Innern den Wurm hat ….. eine Nachlässigkeit im Stil verzeiht man eher, als eine verwirrte Idee ….. Gleicht hierin die Poesie nicht der Modernen Musik? ….. Man wird in den eigentümlichsten Bildern reden; man wird wirre Gedanken mit dunklen, aber erhaben klingenden Beweisen belegen, man wird kurzum Werke im Stil Faust (zweiten Teil) schreiben, nur dass eben die Gedanken dieses Stückes fehlen BAW1.27f [genau dies wäre auf Ns „Werk“ zu beziehen, denn in diesem hat N seine hier dargelegten Jugendgedanken nicht befolgt. Unverkennbar ist seine Sehnsucht nach Regeln, nach Verlässlichkeit, nach der eindeutigen Scheidung von „richtig“ und „falsch“, „gut“ und „böse“, weil seine „Gefühlsblindheit“ ihm keine Möglichkeit gab, dies frei zwischen den superlativistisch extremen Polen liegend zu erkennen und darzustellen. So machte er lieber sich selbst zum Maß aller Dinge, da er dieses Maß bei „den anderen“ nicht zu finden vermochte.
In Ns Aufzeichnungen folgt eine Liste von 46 Gedicht-Titeln und -Anfängen: Dies sind nicht die einzigen. Ich habe sie bloß in der Auswahl hingeschrieben, aber auch von den älteren mehrere, deren ich mich wohl noch erinnere, sie jedoch nicht mehr besitze. Auch habe ich zwei kleine Schauspiele im Verein mit Wilhelm [Pinder] geschrieben. Das eine heißt: Die Götter vom Olymp. Wir haben es einstmals aufgeführt, aber obgleich es nicht recht gelang hat es uns doch großen Spaß bereitet. Die silbernen und goldnen Panzer, Schilde und Helme, ebenso die prächtigen von überall her geholten Anzüge der Göttinnen spielten eine große Rolle. Das andere Stück hieß Orkadal, ein Trauerspiel oder vielmehr eine Ritter und Geistergeschichte, so ganz aus Banketten, Gefechten, Morden, Gespenstern und Wunderzeichen zusammengefügt ….. ich hatte [dazu] eine rasende, vierhändige Ouvertüre komponiert, da verfiel allmählich der ganze Plan ….. Manche solche Entschlüsse, so einen sogar zu einer Novelle: Tod und Verderben, fasste ich, als ich im letzten Semester vom Quarta wegen Kopfschmerzen nicht die Schule besuchen durfte. Ich ging da alle Vormittage über den Spechzart [spazieren über eine dichte belaubte Allee, in die Weinberge] und ersann dabei mancherlei, das aber selten zur Ausführung kam. BAW1.30
In jener Zeit, im Alter von 14 begann N schon - durch seine Kopfschmerzanfälle dazu „verdammt“! - herumspazierenderweise sich eine „Parallelwelt“ zu zimmern, mit der für ihn leichter zurechtzukommen war, als mit der derjenigen, die seinen Gefühlen für „die Anderen“ so schwer erreichbar war: - eine Verhaltensweise, die für sein späteres „Philosophen-Leben“ eine seltsam „beibehaltene“, lang antrainierte Einübung war: Sich mancherlei, was so ganz und gar anders war, als es im täglichen Leben Gültigkeit hatte, als sein „Eigenstes“ zu ersinnen! In der Schule wurde er „nach einem ziemlich günstigen Examen nach Tertia versetzt“ BAW1.31 und an die gut 30 Seiten der Erstbetrachtung seines Lebens hängte er dann noch einen eine Druckseite langen „Rückblick“ an. In diesem hört man deutlich den „kleinen Pastor“ reden; von sich natürlich, wie zuvor, obgleich es eigentlich nichts weiter zu berichten gab, - aber er vermochte nicht aufzuhören, wie es später von „Werk“ zu „Werk“ bei ihm üblich werden sollte: Er „füllte“ aber dieses Nichts über sich selbst mit Worten, Behauptungen und nicht wirklich eigenen Erfahrungen und Ansichten über die Welt:
Ich habe nun schon so manches erfahren, freudiges und trauriges, erheiterndes und Betrübendes [nur dieses großgeschrieben!], aber in allem hat mich Gott sicher geleitet wie ein Vater sein schwaches Kindlein [weil es nicht anders hingenommen werden konnte, als es eben kam?] Viel Schmerzliches hat er mir schon auferlegt, aber in allem erkenne ich mit Ehrfurcht seine hehre Macht, die alles herrlich hinausführt. Ich habe es fest in mir beschlossen, mich seinem Dienste auf immer zu widmen [die Tatsache, dass daraus nichts wurde, ist eigentlich Beweis genug, dass alles das Vorerzählte Leere Formeln waren!]. Gebe der liebe Herr mir Kraft und Stärke zu meinem Vorhaben und behüte mich auf meinem Lebenswege. Kindlich vertraue ich auf seine Gnade: Er wird uns insgesamt bewahren, auf dass kein Unfall uns betrübe. Aber sein heiliger Wille geschehe! Alles, was er gibt, will ich freudig hinnehmen, Glück oder Unglück, Armut oder Reichtum und kühn selbst dem Tod ins Auge schauen, der uns alle einstmals vereinen wird zu ewiger Freude und Seligkeit. Ja lieber Herr, lass dein Antlitz über uns leuchten ewiglich! Amen!!
Das war, weiß Gott, nicht sonderlich originell und ja auch nicht er selber! Es war die seit je ihm übergestülpte Kutte seiner Herkunft, seines Zu-Hause, - aber seinem Wesen zuwider und deshalb nicht zu erfüllen. Um die Aufzeichnungen zu „rechtfertigen“, dramatisierte er, wo es nichts zu dramatisieren gab: Es ging um das Leben eines Jungen, der sich in eine Umgebung ehrgeiziger Anforderungen gestellt sah und sich in den Betrachtungen seiner selbst die nötige Rechtfertigung gab, „die Sache im Griff zu haben“. Diese Selbstbetrachtung stand um ihrer selbst willen im Vordergrund und setzte sich fort mit den Sätzen:
So habe ich denn mein erstes Heft beschlossen und ich blicke mit Freude auf es zurück [mit Gefühlen, die so ungefähr denen des oft und immer wieder angerufenen, biblisch angelernten Gottes an dessen siebten Tag entsprachen?] Ich habe es mit großer Freudigkeit geschrieben und bin dabei nicht müde geworden. Es ist [wenn man zu derartiger Selbstbespiegelung neigt] etwas gar zu Schönes [ein Genuss seiner selbst!] sich späterhin seine ersten Lebensjahre vor die Seele zu führen und die Ausbildung der Seele daran zu erkennen.
In der Praxis des tätigen Lebens sind das Elemente einer selbstverliebten Bezogenheit auf das eigene Ich, die hier ihre ersten „Tribute“ und Investitionen forderte. Normalerweise, auf das Diesseits orientiert, lebt man in der Auseinandersetzung mit der Realität des Lebens über derlei hinweg in ungefragter und unbetrachteter Selbstverständlichkeit, die sich um ihre eigene Wirkung nicht kümmert!
Ich habe hier ganz der Wahrheit getreu erzählt [aber was wäre diese, außer dass sie seiner Überzeugung von sich selbst entsprach?] ohne Dichtung und poetische Ausschmückung [aber auch ohne „die Anderen“ in Betracht zu ziehen!]. Dass ich mitunter etwas nachgetragen habe, ja noch nachtragen werde, wird man mir [und nun wieder aufgepasst!] bei der Größe des Werks verzeihen [- nur wer kann, könnte, würde dieser Verzeihende sein? Doch weitgehend auch wieder nur er selber! Oder war das Ganze etwa bereits auf eine bewundernde „Öffentlichkeit“ hin angelegt? N sprach doch nur davon, dass er selber dies zur eignen Belehrung über sich selbst später lesen wollte! Und er sprach - hier schon! - von einem „großen Werk“, wie später bei allem was er der Öffentlichkeit übergab, was den Wert seiner Selbstbewertungen relativiert!]. Könnte ich doch noch recht viel solche Bändchen [der eitel dahingetändelten Selbstvergewisserungen] schreiben! [was sich zeigen wird, denn für sich selbst vor allem wird er letzten Endes noch viele Bücher schreiben: um sich seines Daseins „im großen, größten Stile!“ 15.7.82 zu versichern, - so wie ihm dieses soeben gelungen war und immer so, wie er sich selber sah! Dem fügte er einen Vierzeiler an, mit den Worten:]
Ein Spiegel ist das Leben. In ihm sich zu erkennen, Möchte ich das erste nennen, Wonach wir nur auch streben.!! geschrieben vom 18. August bis 1. September 1858. BAW1.31f
Weil es ihm so ging, vornehmlich mit sich selbst beschäftigt zu sein und das seinem „seelischen Horizont“ entsprach. Das alles war nicht ohne etliche Blicke auf so etwas wie „bewunderungsbereite Nachwelt“ angelegt. Auffällig darin ist, wie sehr das alles nur auf ihn selber gerichtet war. Er hat „mit großer Freudigkeit“ geschrieben, um selbst Freude daran zu haben, es späterhin lesen zu können und zu sehen, wie „seine Seele sich ausgebildet hat“. „Normalerweise“ lässt einen in die Zukunft drängenden Erdenbürger diese „Selbstbespiegelung im Nachhinein“ kalt. Es interessiert gemeinhin nicht, weil man - in Richtung auf die Welt hin! - sich nicht in der Begrenztheit seiner eigenen Vergangenheit aufhalten möchte. Ns Hinwendung auf das eigene Ich fand in den letzten Versen gar eine besondere Betonung und Bestätigung. Es werden bei N in gesteigerter Form noch etliche Gelegenheiten zu solchen eigentlich leeren Selbstbespiegelungen zu beachten sein.
Hier ist alles enthalten, was N ausmachen wird. Die „ganze Wahrheit getreu“ nach dem, was er - seinem jeweils momentanen Glauben nach! - dafür halten wollte, ohne einen selbstkritischen Blick auf die Schwerpunkte, die Er - nicht frei von dem Bestreben nach Dramatisierung! - setzte, - auch wenn er behauptete, derlei nicht getan zu haben. Dann ist da auch schon die hohe Einschätzung von der „Größe des Werkes“ und auch dass er gerne noch „viele solche Bändchen“ mit der beispielgebenden Klarlegung seiner Ansichten schreiben würde. Und zu dem allem verfasste er in der Form des vierzeiligen Verses eine winzig kurzgefasste Grundsatzerklärung dessen, was er als sein Welterleben und seinen Lebenssinn begriff: Sich „im Spiegel des Lebens“ - das heißt sich als Gegenpart des Lebens begreifend - „zu erkennen“, zu rechtfertigen und - „korrigierend“ eingreifen zu dürfen und sogar zu müssen. All das war hier in seinen Keimen angelegt! Und gleich darauf folgte - wie später nach jedem seiner die Welt über die Wahrheit dessen, was sich in Bezug auf seine Wirklichkeit in ihm abspielte, in Form von die Welt belehren wollenden Büchern - als neue und weitere Betrachtung über „Mein Leben“, nur gut eine Druckseite lang:
Meine früheste Jugendzeit floss still und ungetrübt dahin und umsäuselte [ein auffallend in sich selbst verliebtes Wort!] mich sanft gleich einem süßen Traum. Der Friede und die Ruhe, die über einem Pfarrhause schwebt, drückte ihre tiefen, unauslöschlichen [und somit ewigkeitsnahen!] Spuren in mein Gemüt ein, wie man denn überhaupt findet, dass die ersten Eindrücke, welche die Seele empfängt, unvergänglich sind. Da aber verdüsterte sich plötzlich der Himmel; mein geliebter Vater erkrankte schwer und anhaltend. So trat auf einmal Angst und Spannung an die Stelle des heitern, goldenen Friedens, des ruhigen Familienglücks [das, laut seinem späteren Urteil, „viel zu häufig ist, um viel wert sein zu können“ 10.1.69 denn so äußerte er sich etwa zehn Jahre später ungerührt über das Gleiche]. Endlich [als hätte er sich danach gesehnt?] nach langer Zeit [nach 4 Jahren schon!] geschah das Schreckliche: Mein Vater starb! Noch jetzt berührt mich der Gedanke daran innig-tief und schmerzlich; damals erkannte ich die ungeheure Wichtigkeit dieses Ereignisses noch nicht so, wie jetzt [nachdem Rosaliens Bericht all das in ihm aufgefrischt hatte!] ….. Nach einem halben Jahr verließen wir das friedliche Dorf; ich war nun ohne Vater, ohne Heimat. Naumburg bot uns zwar eine neue Wohnstätte dar; viel Liebe und Segen bescherte uns Gott auch hier; aber immer wird mein Sinnen nach dem teuren Vaterhaus hingezogen und auf Flügeln der Wehmut eile ich oft dahin, wo mein erstes Glück einst still erblühte. - BAW1.33
Tatsächlich dürfte er kaum in das von Naumburg aus gut 23 km nordöstlich entfernte Röcken zurückgekehrt sein. Die Schwerpunkte hatten sich verlagert. Die Gefühle, die Stimmungen traten romantisierend in den Vordergrund - und kein Wort mehr über den Wahrsagetraum vom Tod des Brüderchens, was sich doch nicht so kurzfristig vergessen ließ, wenn es denn ein Stück Lebenswahrheit gewesen sein sollte! Es war ein Effekt, da, in der Stimmung, in der er angebracht worden war. Darüber hinaus gab es nichts Neues über ihn selbst zu berichten! Die neuen Ansätze zum bereits Gehabten stellten einen Leerlauf dar. - Warum tat N das? - Sollte es nur das blanke Vergnügen an der Selbstdarstellung gewesen sein? Über insgesamt 32 Druckseiten hinweg hat N ausführlich und auch lebendig, vorwiegend aber von sich berichtet und endete mit deutlich autistischem Anstrich in dem Endeffekt einer Selbstbespiegelung in der das - sein gesamtes „Werk“ bezeichnende! - Fehlen „der Anderen“ seinen ersten Ausdruck fand: So, wie auch das Außerachtlassen der Tatsache, dass „man“ nicht nur der ist, als der man sich selbst im Spiegel begegnet, sondern immer auch als jener, der man in den Augen eben der von N völlig beiseitegelassenen „Anderen“ ist!
Dass dieser Bruch oder Knacks, dieser grundlegende Fehler bereits in seinem ersten umfangreicheren Text - wenn man denn bereit ist, ihn daraufhin genau zu lesen! - dermaßen deutlich zum Tragen kommt, ist bezeichnend: Die Hauptsache in Ns Texten, ihr Zweck, ihre Aufgabe, ihr eigentlicher Sinn ist Selbstdarstellung und diese immer wieder hervortretende Absicht wird stetig gesteigert, von Jahr zu Jahr, von „Werk“ zu „Werk“: im gleichen Maß, wie es ihm im stärker werdenden Bezug auf sich selbst immer weniger gelingt, „die Anderen“ überhaupt noch als „Wesen wie er selber eins ist“ wahrnehmen zu können. Sein ohnehin so gut wie nicht vorhandener Blick auf „die Anderen“ wird sich verengen und - gereizter gegen sie! - sich auch brutalisieren.
Im Übrigen wimmelt es in Ns Texten von mehr oder weniger groben, vor allem aber orthographischen Schnitzern, was eine Beschönigung der Fehler bedeutet: von fehlenden Wortendungen und der noch Jahre lang anhaltenden, prinzipiellen Unfähigkeit, die unterschiedlichen Formen von Dativ oder Akkusativ sauber anzuwenden. In den hier gebrachten Zitaten wurde derlei begradigt und begnadigt, weil es der flüssigen Lesbarkeit wegen nicht um derlei - allerdings störende - Kleinigkeiten geht, da es so viel bedenklicher ist, dass und wieso jemand, der, wie hier deutlich wurde, gewohnt war, tief im Fahrwasser und Sprachgebrauch christlichen Glaubens zu segeln, eines Tages - noch jedoch war er nicht so weit! - sich ohne nennenswerte Erschütterungen, Zweifel und Schmerzen zu zeigen - in der Lage sein konnte, sich vollständig daraus zu lösen.
Normalerweise wäre dies in hohem Maße verwunderlich, - nicht jedoch, wenn man in Betracht zieht, dass N von dem, was ihn erstmals prägte, kaum etwas wirklich abgelegt hat. - Er wird das ihm zutiefst Gewohnte im Grunde unangetastet beibehalten, - allerdings verdeckt, maskiert unter lauter umgewerteten Namen und Begriffen. Er vollführte und zelebrierte nach seinem „Schlüpfen“ aus der Hülle der ihm „angeborenen“ Christlichkeit unter anderen Vorzeichen, nämlich unter denen der „Freigeisterei“, etwas, das dem Bisherigen weitgehend gleich kam und im Grunde dasselbe war: Eine neue, aber auf ganz persönlich seine eigenen Maße und seine „Richtigkeit“ zurechtgeschnittene „Religion, Gläubigkeit und Erlösungslehre“. Wie sehr das den Tatsachen entspricht, wird sich erweisen. Noch zeigt sich hier der erst Vierzehnjährige, der seine sich hauptsächlich und in nicht zu übersehender Weise nur um ihn selbst drehende Gefühls- und Wahrnehmungswelt notierte. Der Erwachsene, der Allem maximal widersprechende Rebell N ist - unweigerlich hier schon - aus dem anklingenden „Larvenzustand“ nicht wegzudenken.
Zu seinen nebenschulischen Beschäftigungen gehörten einige, auch ihm selbst wenig versprechende literarischen, wohl auch aus Schulaufsätzen stammenden, betont moralisierenden Versuche, sich lehrhaft mitzuteilen. Dann kamen eine Lobeshymne auf das Eisen als wichtigeres Material denn Silber und Gold und noch einige, zumeist recht unausgegorene Schriften, wie eine über Caesars Eroberung Britanniens und einige in bloßen Stichworten gemachte Notizen bis hin zu ein paar Gedichten. Zwischendurch aber taucht der Name „Schulpforta“ auf und damit beginnt in Ns Leben ein neues Kapitel, das die nächsten 6 Jahre, bis zum Abitur im Spätsommer des Jahres 1864 umfassen wird.
In den bis hierher ausgeführten Lebensberichten sind die noch ohne den geringsten Zweifel ausgebreiteten gottgefälligen Unterwürfigkeiten mitsamt der darunter hervorlugenden Neigung zur Selbstbetrachtung noch „Spiel“, Beschäftigung, Selbstentfaltung, - und eng gekoppelt mit einem pubertär bedingt immer stärker hervorgekehrten Selbstbewusstsein, sich selbst zum Maß aller Dinge zu nehmen. In dem, was N hier spielerisch anfing, übte und „trainierte“, sollte er es weit bringen, denn genau genommen ist er, vom Prinzip her betrachtet, dabei geblieben: Er hielt sich, kaum fertig damit, etwas zugute in Betreff „der Größe des Werks“, welches diese gut 31 Druckseiten für ihn darstellten. Er sollte dabei bleiben, ein „großes Werk“ der eigenen Selbstdarstellung zu schaffen. Darauf wird zurückzukommen sein, wenn sein Schaffen dazu den Anlass gibt. Sein Wesen ist von Anbeginn an eingespannt in den Widerspruch zwischen bereitwilliger, ja bedürftiger Anbetung und der Darstellung seiner selbst, - nicht als Schauspieler, sondern in exemplarischer Funktion, als Beispiel und Vorbild im Sinne eines missionarischen „Mach-es-wie-ich“ damit „die Anderen“, alle, für sich sein Glück finden mögen, was natürlich vollkommen illusorisch war und ist.
Neben N dürfte kaum ein Philosoph zu finden sein, der auf derartige Weise extrem und bedenkenlos den immer für „ewig“ gehaltenen Momenten seiner Stimmungen und Befindlichkeiten ausgeliefert war und der diese ununterbrochen mit philosophisch scheinenden Rechtfertigungen und „logischen“ Überbauten ins Allgemeingültigste zu heben „verstanden“ hat oder dies doch immer wieder versuchte.
Am 20. September 1858 richtete Ns Mutter ein Gesuch an die Stadt Naumburg und bewarb sich darin für ihren Sohn um die Vakanz der städtischen Freistelle im etwa 5 km entfernten Internat der Gelehrtenschule Schulpforta. Dem Gesuch wurde vier Tage darauf stattgegeben. Damit war „seine Mutter für die nächsten sechs Jahre aller Ausbildungskosten für ihn [ihren Sohn] enthoben“. J1.71 Zum Schulbeginn am 5. Oktober fand die Aufnahmeprüfung statt. Sie fiel mäßig aus. Deshalb erfolgte die Einschulung gegenüber dem Domgymnasium um ein halbes Jahr „zurückversetzt“ in das untere Semester der Untertertia, mit der die volle sechsjährige Ausbildung in Pforta prinzipiell begann. N blieb dort bis zum Abitur am 29. September 1864.
Seine „Übersiedlung“ in das Internat Schulpforta beschrieb N in erhalten gebliebener Weise zwei Mal. Das erste Mal nach knapp einem halben Jahr, Mitte Februar 1859 in einem Brief mit „Bericht“ über dieses Ereignis an seinen Freund Wilhelm Pinder und das zweite Mal nach gut zweieinhalb Jahren erst, am Ende einer wieder einmal fälligen und als „nötig“ erachteten Verfassung eines „Lebenslaufes“. Der Brief mit dem Bericht an Wilhelm Pinder lautet:
Lieber Wilhelm! Ich habe mich sehr gefreut, dass wir uns vorigen Sonntag so lange genießen konnten und danke Dir, dass du mich so weit begleitet hast [auf Ns Fuß-Weg von Naumburg zurück nach Schulpforta]. Es ist dir doch hoffentlich gut bekommen? - Ich schicke Dir heute das Mailied [vier neunzeilige Strophen romantischen Frühlingsjauchzens, beginnend mit: „Die Vöglein singen wonnig Weit in den Wald hinein Die Fluren liegen sonnig In holdem Maienschein“; usw.], wie ich Dir versprochen habe. Ich habe es wirklich [vor Mitte Februar 1859!?] ganz im Gefühl des nahen Frühlings geschrieben ….. Bitte schick mir doch auch nächstens eins deiner neuen Gedichte. Wir wollen sie uns brieflich gegenseitig recht genau rezensieren und Tadel und Lob nach Verdienst erheben. Es würde mir dies sehr viel Spaß machen. Auch habe ich jetzt eine neue Idee. Ich schreibe mir nämlich, wenn ich gerade nichts andres zu tun habe, in lateinischer Sprache das auf, was ich vielleicht irgendwann gehört oder gelesen habe, indem ich mich dabei nach der [wieder einmal als ein „Schulgesetz“ genommenen!] Anweisung des Kater Murr bemühe lateinisch zu denken [Kater Murr ist eine sich sehr menschlich verhaltende Fantasie-Figur des deutschen Schriftstellers E.T.A. Hoffmann, 1776-1822, in dessen zweibändigem satirischen Roman „Lebensansichten des [sehr selbstgefälligen] Katers Murr“ aus den Jahren 1819 und 1821]. Es geht leichter als man glaubt. Nun lebe wohl, lieber Wilhelm. Semper nostra manet amicitia [ewig währe unsere Freundschaft]! Dein Fritz. Ein andermal will ich mehr schreiben. Grüße vielmals. Schreib mir recht bald.
Darauf folgt das Mailied in voller Länge und dahinter steht:
Ich schicke dir anbei eine Art Fortsetzung meiner Biographie. Es werden noch mehrere Blätter folgen [er war also mit seiner Biographie intensivst beschäftigt!]. Bitte, hebe sie recht sorgfältig auf!
Diese Blätter enthalten die 1. Beschreibung seines Auszuges von zu Hause, von Naumburg nach Schulpforta, am 5. Oktober des Jahres 1858. N war zum Zeitpunkt des Auszuges bis auf 10 Tage genau 14 Jahre alt. Alles war neu und voll von großer Bedeutung, besonders in einer Zeit, in der das hehre Pathos einer Schillerschen „Glocke“ noch ästhetische Geltung besaß und folglich einen völlig anderen Zeitgeschmack zu bedienen hatte als heute zu erwarten wäre. N hatte aufgeschrieben:
Es war an einem Dienstagmorgen, als ich [typisch für seine Bezogenheit nur auf sich selber verschwieg er, dass er in Begleitung seiner Mutter!] aus den Toren der Stadt Naumburg herausfuhr. Die Morgendämmerung lag noch rings auf den Fluren und am Horizont zeigten nur einige matt beleuchtete Wolken das Herannahen des Tages. Auch in mir herrschte noch eine solche Dämmerung: noch nicht war in meinem Herzen eine rechte Sonnenfreudigkeit aufgegangen. Die Schrecken der bangen Nacht umlagerten mich und ahnungsvoll lag vor mir die Zukunft in grauen Schleier gehüllt. Zum ersten Male sollte ich mich von dem elterlichen Hause auf eine lange, lange Dauer entfernen.
Er blieb aber doch in der Katzensprung-Entfernung von 5 Kilometern sehr in der Nähe. Andere Internatsschüler waren von zu Hause so weit weg, dass sie noch nicht einmal in den Ferien dorthin fahren konnten.
Unbekannten Gefahren ging ich entgegen; der Abschied hatte mich bang gemacht und ich zitterte im Gedanken an meine Zukunft. Dazu bedrängte mich das bevorstehende Examen [die „Aufnahmeprüfung“ für Schulpforta, wo festgestellt werden sollte, mit welcher Klasse er zu beginnen hätte!], das ich mir mit schrecklichen Bildern ausgemalt hatte, der Gedanke, von nun an niemals mich meinen eigenen Gedanken [in „parallelweltlichen Angelegenheiten“] übergeben zu können, sondern immer von Schulgenossen fortgezogen zu werden von meinen [auf ihn selbst bezogenen!] Lieblingsbeschäftigungen, ungemein. Auch vorzüglich, dass ich meine lieben Freunden [insbesondere eben Wilhelm Pinder und etwas weniger den allerdings musikalisch umso feinfühligeren Gustav Krug] lassen sollte, dass ich aus den gemütlichen Verhältnissen in eine neue unbekannte, starre Welt treten sollte, beengte meine Brust und jede Minute wurde mir schrecklicher, ja als ich Pforta hervorschimmern sah, glaubte ich in ihr mehr ein Gefängnis, als eine Alma mater [nährende Mutter, Hochschule] zu erkennen. Ich fuhr durch das Tor [auch hier gab es in Einbeziehung der Mutter kein „wir“!]. Mein Herz wallte [dem Zeitgeist entsprechend oder einfach nur geschwollene Bedeutung spielend?] über von heiligen Empfindungen; ich wurde empor gehoben zu Gott in stillem Gebet und tiefe Ruhe kam über mein Gemüt. Ja Herr, segne meinen Eingang und behüte mich auch in dieser Pflanzstätte des heiligen Geistes leiblich und geistig. Sende deinen Engel, dass er mich siegreich durch die Anfechtungen, denen ich entgegengehe, führe und lass mich diesen Ort zu wahrem Segen für ewige Zeiten gereichen. Das hilf, Herr! Amen. - (55)
Ein gut Teil von diesem aufgeblasenen Wortschwall dürfte - wenn auch recht aufgesetzt und um „literarische“ Effekte statt auf nüchterne Tatsachen bedacht - durchaus echte, in diesem Stil ernst gemeinte, tatsächlich so erlebte Empfindung gewesen sein. Eine sachliche, auch im Geringsten nur zur Distanz zu sich selber bereite Beschreibung erlebter Umstände war das nicht, sondern entsprach eher den Gepflogenheiten der Zeit, mit ihren Schauerromanen und gefühlvollen Anwandlungen, die zur Dramatisierung des Lebensalltags als notwendig und unterhaltsam erachtet wurden. Es sollte mehr scheinen, als es war und das war ein entscheidender Effekt in Ns Leben! Die Wortwahl und die Gesamtgestaltung zeigen jemanden, der sich sehr wichtig nahm. Bemerkenswert ist, dass die ihn auf diesem Weg begleitende Mutter inexistent zu bleiben hatte!
Der Inhalt vom Ende des Berichtes über die Aufnahme in Schul-Pforta aus dem Mai 1861, in dem N mal wieder einen „Lebenslauf“ - und wieder einmal mit „Todeswahrsagetraum“ für das Brüderchen! - schrieb, gab, weil er vordinglich mit dem Umkreisen seiner selbst beschäftigt war, an Tatsächlichem kaum mehr her:
Ich war [auf der Domschule - zusammen mit den von N nicht erwähnten Gustav Krug und Wilhelm Pinder!] regelmäßig bis Tertia vorgerückt und hatte hier schon ein Semester zugebracht, da traf mich eine Veränderung, die körperlich und geistig bedeutungsvoll auf mich eingewirkt hat. Es wurde uns eine Pförtner Alumnatsstelle [ein voll versorgter Ausbildungsplatz] angetragen [was danach klingt, als ob dieser vom Himmel gefallen wäre. Die Mutter hatte sich nachdrücklich darum bemüht!]; mir wurde ganz anheimgestellt, ob ich sie annehmen oder ausschlagen wollte [was mit Sicherheit aber gewissen finanziellen Erwägungen unterlag!]. Schon früher hatte ich immer eine Zuneigung für Pforte gehegt, teils weil mich der gute Ruf der Anstalt und die berühmten Namen dort gewesener und dort seiender Männer angezogen [hat], teils weil ich ihre schöne Lage und Umgebung bewunderte [die von Naumburg aus aber ebenso leicht zu erreichen gewesen wäre]. Wenn auch die Trennung von Mutter, Schwester und lieben Freunden mir zuerst schwer fiel, so schwand dieses Gefühl doch sehr bald und ich fühlte mich bald hier wieder zufrieden und wohl. Ich verkenne nicht, wie wohltätig Pforte auf mich einwirkt und ich kann nur wünschen, dass ich mich schon hier und noch mehr in späteren Zeiten immer als ein würdiger Sohn der Pforte erweise. - BAW1.284
Damit könnte angedeutet sein, dass die bloße Tatsache „Pfortaer Schüler“ zu sein, für N ein Ventil des Leistungsdruckes gewesen ist, „vor allen Andern“ etwas darzustellen! - Und diesmal kein Wort von der „heldenhaft und märtyrerhaft ertragenen, überdimensionierten Seelenpein gesteigerter Heimwehqualen“ - die so schlimm, wie vielfach früh geübte Selbstüberwindung und Standhaftigkeit beweisen sollend behauptet wurde! - für N nicht gewesen sein konnten. Sein angebliches Heimweh bei häufigem Kontakt mit Mutter und Schwester ist, wie vieles andere eher Effekt und weitgehend dramatisierende Legende. Aus seinen Briefen ist solches ebenfalls nicht zu belegen, im Gegenteil: Da versicherte er immer wieder, dass Pforta recht gut „auszuhalten“ wäre. Er war viel für sich, weil er sich nicht leicht an Freunde anschließen mochte und wusste sich einzurichten. Das Wort „gemütlich“ gewann für ihn in den unpersönlichen Verhältnissen der Lehranstalt, in der es ein Privatleben kaum gab, eine besondere Bedeutung.
Über die gut 40 Fußwegminuten betragende Entfernung von Pforta nach Naumburg oder zurück setzte nun auf Jahre hinaus ein reger Briefwechsel und ein nicht versiegender Warenaustausch ein: Zwischen N zur Mutter und Schwester und zu den Freunden Wilhelm Pinder und Gustav Krug und umgekehrt. Gleich am Tag nach der Einschulung, am 6. Oktober 1858, neun Tage vor seinem 14. Geburtstag und dem 1. „in der Fremde“ ging es damit los:
Liebe Mutter! Gleich heute, am ersten Tage meines Pförtnerlebens, schreibe ich an Dich und ich hätte Dir auch mancherlei mitzuteilen, was ich aber, da mir die Zeit fehlt, auf den Sonntag in Almrich versparen will [das Dorf Altenburg, gemeinhin Almrich genannt, lag auf halbem Wege zwischen Pforta und Naumburg, wo man sich „gemütlich“ treffen konnte]. Bis jetzt befinde ich mich recht wohl, aber was ist an einem fremden Orte recht wohl?! Ich habe auch manche schon kennengelernt ….. Überhaupt werde ich mit der Zeit schon heimischer werden, aber lange wird’s sicher dauern. -
Ich habe nun meinen Schrank eingeräumt, aber fand vieles nicht in dem Koffer, wie Tintenfass, Stahlfedern, Seife und manche Kleinigkeiten. Schicke mir diese Sachen und eine Tüte Schokoladenpulver mit. Dann auch ein Buch: Voigt, Geographie. Wenn es nicht unter meinen Büchern ist, so besorge es so schnell als möglich von Domrich [dem Naumburger Buchhändler] zu mir. Einige Bücher habe ich mir hier schon kaufen müssen, ebenso ein Glas und Tasse. Hast Du mit Hr. Professor Budensieg [dem für N zuständigen Tutor, Ratgeber, Betreuer und Elternstellvertreter während der Zeit des Aufenthaltes eines Alumnus in allen Angelegenheiten, vor allem finanzieller Art, denn die Schüler durften „kein Geld privatim führen, nichts auf Rechnung nehmen, noch etwas durch Kauf, Tausch usw. an sich bringen oder veräußern] schon die Geldangelegenheiten abgemacht, da er doch alles Gekaufte bezahlen muss? Was sagt Lisbeth dazu?! Will sie nicht einmal schreiben, da sie mehr Zeit hat als ich? Ihr seid gewiss alle sehr beschäftigt mit dem Auszug [denn zu gleicher Zeit wurde das Haus an der Naumburger Stadtmauer, Am Weingarten 18, von der Mutter bezogen; erst mietweise, später konnte die Mutter es aus dem Erbteil ihrer Mutter erwerben und durch teilweise Untervermietung ihre bescheidene Witwenrente aufbessern] und werdet deshalb wohl nicht viel an mich denken können. Nun dann, wenn ihr und ich eingewöhnt sind, dann wollen wir uns öfter besuchen. Meine Hosen habe ich von Schneider Steinkopf erhalten, Weste und Rock erwarte ich sehnlich. Ebenso hat Steinkopf mir Maß zu einer Turnjacke genommen, die sehr bald besorgt sein muss, - Viele Grüße an Lisbeth, Tante Rosalien, Riekchen und Lina, an Wilhelm und Gustav und an alle, die sich meiner erinnern. Ein andermal mehr, Dein Fr[iedrich]. W[ilhelm]. N. Alumnus portensis [Zögling in Schulpforta] etc. [gewissermaßen die Liste seiner derzeitigen „Titel“. Es folgt noch:] 1. N.B. Meinen Stiefelknecht brauche ich sehr notwendig. [Und] 2. N.B. Schicke mir doch ein Schächtelchen mit Oblaten. (21)
Mit diesem Brief beginnt das ewig per Boten und Kiste hin und herwandernde „Sich-auf-die-Ferne-versorgen-lassen“ als eine lebenslang beibehaltene Gewohnheit und „Nabelschnur“. Hätte der mittlerweile so gut wie Vierzehnjährige nicht selber an die Selbstverständlichkeit zumindest seiner Schreibsachen und persönlichen Utensilien, die er im Internat brauchen würde, vorsorgend denken und ihren Transport bzw. ihre Mitnahme organisieren können? So elementare Unselbständigkeiten, die selbst die Brille des stark kurzsichtigen betrafen, werden an etlichen Stellen immer wieder erkennbar werden! Es wird Wochen dauern, bis er in Schulpforta das Wichtigste so leidlich beisammen hatte.
Schlimmer für den neuen Schüler dürfte wohl gewesen sein, dass er in den vielfachen Hierarchien, die solche Institute stets (und Schulpforta insbesondere) kennzeichnen, angefangen vom Platz im Schlafsaal bis zur Sitzordnung bei Tisch, die jeweils untersten und schlechtesten Plätze zugewiesen bekam. Diese ließen sich nur mit überdurchschnittlichen Leistungen verbessern. HSS.39
So, wie das halt für den Letztgekommenen üblich ist, wollen die Älteren doch die Gelegenheit wahrnehmen, aufzurücken, wie N dann ja wohl auch! Warum sollte N hier in beklagenswerter Weise ein Vorzug vorenthalten worden sein? Der letzte zitierte Satz enthält, typisch für die „instinktiv“ verherrlichende N-Darstellung, die Hervorhebung besonderer Leistung, die von ihm - nicht anders als von den Anderen! - gefordert und auch zu erfüllen war. Dabei haben die Einordnung in eine Zwangsgemeinschaft und die in ihr verteilten „Rechte“ nicht unbedingt und automatisch etwas mit „überdurchschnittlichen Leistungen“ zu tun.
Für N begann mit Schulpforta sicherlich seine Eingewöhnung ins eigentlich Unbehauste, in die Zufälligkeit des nirgends wirklichen Hingehörens, das sein Leben begleitet hat und als angewendetes „Schulgesetz“ von fragwürdigen klimatischen, jedenfalls nicht von menschlichen Faktoren im Sinn von menschlicher Nähe und Wärme oder einem Suchen nach dieser, bestimmt wurde.
Drei Tage später, am 9. Oktober 1858, schrieb N seiner Mutter:
Liebe Mamma! Ich wollte Dir nur leider melden, dass wir uns Sonntag nicht sehen können, da an diesem Tage Kommunion [Abendmahlsfeier] ist [an dem er teilzunehmen hatte!]. Das tut mir recht leid, ebenso dass Königsgeburtstag wegen unsers Landesvaters Krankheit nicht gefeiert wird ….. Es ist wahr, hinsichtlich Arbeit und Strenge lässt Naumburg mit Pforta keinen Vergleich zu und ich werde mich sehr daran gewöhnen müssen. Aber vieles habe ich wieder bemerkt, was mir fehlt. Vor allen Dingen eine scharfe Brille [bei seiner hochgradigen Kurzsichtigkeit nach 4 Tagen Anwesenheit in Schulpforta immerhin doch bemerkt!!]; schicke sie mir so schnell als möglich, ebenso Stiefelknecht und den kleinen braunen Kandel [sicherlich ein Buch] den Lisbeth wohl kennt. Ebenso notwendig ist Heftzeug und Schere, dann Tinte und Oktavschreibbücher, ungefähr ein Dutzend. Auch die andern neuen Morgenschuh sind mir von Nöten und dann noch das Damenbrett [zumeist die Rückseite von Schachspielbrettern]; in der freien Abendstunde pflegt jeder so etwas zu spielen. Bitte besorge mir doch dies alles so bald als möglich und lass auch ein Briefchen mitfolgen; sag dies auch [den zurückgebliebenen Freunden] Wilhelm [Pinder] und Gustav [Krug]; ich werde auch bald an sie schreiben ….. (22)
Da ist jemand recht mangelhaft ausgerüstet ausgezogen, ahnungslos und unbedacht über das, was er wohl brauchen würde! Noch nicht einmal Brille und Schreibzeug hatte N rechtzeitig geplant und eingepackt, es als dringend benötigt und deshalb unbedingt dabeizuhaben und mitzunehmen! Derlei Simpeleien stellten für N gleichbleibende, sich immer wiederholende Schwierigkeiten seines Lebens dar.
Am gleichen Tag schrieb er nachfolgend auch dies:
Liebe Mutter! Du wirst Dich sicher wundern, dass ich schon wieder schreibe. Als ich heute meinen Brief abgab, empfing ich den lieben Deinigen ….. Du wünschst ein Verzeichnis von allem was ich brauche [eine Systematik, auf die er von sich aus noch nicht gekommen war und zu der er sich auch sofort wieder ein Schlupfloch einrichtete]: Hier folgt es; was noch fehlt [er also in der folgenden Aufstellung vergessen haben sollte], findest Du in den Briefen. Brille Schere. Tinte. Damenbrett, Heftzeug. Stiefelknecht. Morgenschuh Stecknadeln. Schokoladenpulver. Kandel. Oktavbücher ….. Bis jetzt geht alles recht wohl, ich hatte mir Pforta weit ungemütlicher gedacht als es ist; dennoch aber lässt sich kein Vergleich machen zwischen Pförtner und Naumburger Gemütlichkeit [ein Wort, hinter dem ein großes seelisches Bedürfnis für N steckte!]. Auch in der Klasse ist es bei weitem strenger. Ich kann aber aufstehen wenn ich will und da ich alle Morgen um 5 Uhr aufstehe so schreibe ich Dir allemal einen Brief. Sonst hätte ich nicht die Zeit dazu. Schicke mir nur ja alles, was in den drei Briefen stand ….. Vergiss meinen Geburtstag nicht! Du kannst mir recht gut einen Kuchen schicken, da bloß 8 in meiner Stube sind. Sehr lieb wäre mir auch ein Kasten, ähnlich wie mein Grüner, wo ich alles wie Bleistift, Schere, Nähzeug hineinstecken könnte. (23)
Nur 2 Tage später, am 11. Oktober 1858, schrieb N wieder an seine Mutter:
Habe Dir recht lange nicht geschrieben [Einen Tag lang nicht!], wirst denken, ich hätt’ Dich vergessen. Aber keineswegs! Ich hoffte vielmehr von Tag zu Tag auf einen Brief und Kasten und glaubte, Dir lästig mit meinen vielen Briefschreiben zu werden. Aber ich kann nicht so lange warten; verzeih deshalb! Zuerst wieder Bücher und Sachen, die ich brauche. Schickt mir von meinen Büchern Anabasis und Anabasislexikon [Anabasis bedeutet „Hinaufmarsch“ - von der Küste ins Landesinnere - und ist der Titel mehrerer aus der griechischen Antike überlieferter Schriften, hier mit der griechischen Beschreibung des Feldzuges des jüngeren Kyros gegen Artaxerxes II., etwa 453-359 v. C., einem persischen Großkönig aus der Dynastie der Achämeniden. Er war der am längsten regierende Achämenidenkönig und konnte nach anfänglichen inneren Problemen Persiens Großmachtstellung wiederherstellen, nachdem diese in Jahrzehnten zuvor unter den Erfolgen der Griechen und besonders des von Athen geführten Seebundes gelitten hatte.], dann Süpfle (deutschlateinisches Übersetzungsbuch) und einen Spiegel und Haarbürste. Ich habe dies so notwendig, dass ein Tag mir großen Verzug bringt. Denk Dir, ich habe Singstunde und soll späterhin ins Chor! Zu meinem Geburtstag schickt mir was Tüchtiges, das heißt ungefähr 40 Briefe und 20 Kisten und Kasten voll Geschenke. Dann schreib mir doch wie ich’s mit der Wäsche halten soll, wohin sie packen usw. (Wenn ihr übrigens die Bücher nicht kennt, so sagt’s nur Wilhelm [Pinder], der wird sie schon finden.) Vielleicht komme ich nächsten Freitag [an seinem Geburtstag] nach Almrich [zu dem auf halbem Wege zwischen Naumburg und Pforta liegenden Ort], vielleicht auch nach Naumburg, wie ihr wünscht. Kommt doch um 2 Uhr nach Almrich, gesetzt auch ich käme nicht, so wär’s doch für euch ein hübscher Spaziergang ….. Sonst schickt mir aber ja alles, was ich geschrieben [angemahnt!] habe und [ich] bedarf dies alles zu nötig. Warte nicht erst meinen Geburtstag ab, zwei Kisten werden auch wohl voll werden. Dann schicke mir doch Halstücher, Vorhemdchen und andere Kleinigkeiten [die er noch nicht einmal einzeln aufführte, weil er gewohnt war, dass man schon wüsste, wie er das sonst ja auch haben wollte!]. Bis jetzt gefällt es mir in Pforta ganz leidlich, wenn sich auch mitunter der Gedanke „Wäre ich doch in Naumburg geblieben“ hineinmischt. Warte nur, das Heimweh wird schon noch kommen!! - - Wie befindet sich Wilhelm [Pinder]? Will er nicht einmal schreiben? Viele Grüße an ihn und an Gustav [Krug] und „mit dem Freundschaft-schließen“ (d.h. neuen) ging es nicht so schnell. Was sagt Lisbeth dazu? Nun, ich hoffe, sie wird ihre Ideen mir selbst schreiben. Die Tante ist gewiss sehr von dem Ereignis [der Regentschaftsübernahme in Preußen durch Kronprinz Wilhelm anstelle seines geisteskranken Bruders Friedrich Wilhelm IV. am 7. Oktober 1858] ergriffen. In Pforta lief’s auch von Mund zu Mund. Kann mich die Tante nicht näher benachrichtigen? Wir lesen keine Zeitungen [galt die Zeitungslektüre innerhalb der Mauern der Gelehrtenschule gar als „verpönt“?] ….. (24)
Das alles klingt - vor allem in dem Durcheinander in dem es steht - recht verzweifelt, desorientiert und verloren. Es ging weniger um verdecktes Heimweh als um entbehrtes Versorgt-sein und das Nichtwissen, wie es mit ihm weitergehen soll, - war er doch ständig häusliche Hilfe, Rat, Anleitung und Beistand gewohnt: Auch in den simpelsten Angelegenheiten, wie hier deutlich wird! Am Tag nach seinem ersten Geburtstag, dem 11 Tag „in der Fremde“ bedankte N sich bei der Mutter „für alles, was Du mir ….. geschickt hast“ und lieferte nach der vollen, sich allerdings schon mit Abkürzungen behelfenden Signatur, noch den Aufschrei „Schickt Brillen!!!“. (25) Da er offensichtlich noch nicht ordentlich sehen konnte!
In einem Brief vom Sonntag, den 17. bis Freitag, den 22. Oktober 1858 schrieb er an die Mutter:
Ich danke Dir noch viele Mal für die Schönen Weintrauben; sie schmecken mir ausgezeichnet. Überhaupt habe ich mich ungemein gefreut, Dich wieder einmal zu sehen. Nun, vielleicht nächsten Sonntag wieder. - Mir ist noch manches eingefallen, was ich noch nicht habe, so Brillen [immer noch!], Schokoladenpulver, preußische Geschichte von Hahn, Schere, Nähzeug, Löffel, Messer und noch manches. Ach schickt mir dies doch so bald als möglich. Seid doch so gut! ….. Schreib mir doch recht bald. Schicke mir doch auch den Kasten für die Schere usw. mit! (26)
Gleich darauf folgte am Samstag den 23. Oktober 1858 ein weiterer Brief an die Mutter:
Liebe Mamma! ….. Auch noch vielen Dank für das Stückchen Kuchen, den Brief und die zukünftigen Weintrauben. - Sonntag kann ich also nicht kommen [da lag wohl eine Absage der Mutter vor]; nun da werde ich einmal in den Wald gehen. Aber schickt mir doch recht bald meine Sachen; ich brauch sie zu notwendig, oder noch besser, bringt sie mir selbst. Könnt ihr einmal in der Zeit von 12-2 kommen? Ich würde mich sehr freuen. Hier in Pforta ist Freitag ein Alumnus gestorben nach langen schweren Leiden. Sonntag wird er begraben. - Schickt mir doch auch einen silbernen Kaffeelöffel; er soll schon nicht wegkommen und ich brauche ihn bei meiner Milch sehr nötig. - (27)
Unter dem Datum Mittwoch 27. bis Samstag, 30. Oktober 1858 schrieb N wieder an die Mutter:
Liebe Mamma! Leider kann ich Dir heute noch nichts Bestimmtes melden ….. Aber richte Dich nur auf unsern Besuch ein ….. Ich schicke Dir auch noch das Register von allem noch Nötigen, damit du es bis Sonntag noch beschaffen kannst. Es wird so ziemlich vollständig sein; vergleiche aber lieber die Briefe noch einmal [womit er zugab, selber die Übersicht verloren zu haben – oder nur keine Lust hatte, das selbst zusammenzustellen?]. - Wilhelm und Gustav und Tante Rosalchen würde ich doch wohl Sonntag sehen! Lass es ihnen doch sagen. - Ich werde Sonntag recht viel zu erzählen haben; ich freue mich schon darauf. Nun in 7 Wochen werden wir uns länger sehen [in den acht Weihnachtsferientagen]. Was ich diesmal auf das liebe Weihnachtsfest mich freue, das ist ungeheuer und noch nicht dagewesen; nur etwas trauert mich; dass ich mich nicht über Wünsche und Geschenke mit meinen Freunden bereden kann, wie ich doch sonst tat ….. [beigefügt war die oben angekündigte Liste:] 1. Brillen, 2. Stahlfedern (Rosen), 3. Stahlfederhalter, 4. Hahn, preußische Geschichte, 5. Tinte (von Präger), 6. Teelöffel, 7. Schreibzeug, 8. Heftzeug, 9. Nähzeug, 10. Messer, 11. Schere, 12. Kasten (zum Hineinlegen), 13. Schokoladenpulver. Nun, das brauch ich noch alles!! (28)
Und das schon seit über drei Wochen!
Am Sonntag den 31. Oktober 1858, und wohl nach einem Besuch in Naumburg? - schrieb er der Mutter:
Liebe Mama! Gleich noch heute Abend will ich an dich schreiben. Es war ungemein hübsch, dass wir so lange zusammen waren. Wenn es nur bald wieder geschehen könnte! - Übrigens habe ich witziger Weise die Uhr mitgenommen, aber ohne Schlüssel und Gehäuse [irgendwelche Umsicht war offenbar in jeder Hinsicht nicht Ns Sache gewesen! Er zeigte sich jedenfalls immer wieder als ausnehmend unselbständig und fragmentarisch in seinem Tun und Lassen!]. Nun schickt mir das mit den Anderen so bald als möglich [wieso aber hatte N das Meiste von dem Kleinkram bei seinem letzten Besuch nicht mitgenommen?]. Ich glaube nun auch, ihr kommt öfters einmal. Nun mir gereicht’s immer zur größten Freude. - Schreibe mir doch einmal alle Wäsche auf, die du mitgegeben hast damit mir nichts wegkommt ….. Dein Fritz respt. Fr. W. N. Alumnus portensis (29) [wieder der Stolze „Zögling in Schulpforta“. Die Mutter sollte die Wäscheteile aufschreiben, damit ihm nichts wegkam. Er ließ sich bedienen, hinten und vorn, vergaß alles, dachte von selbst an nichts und war nicht in der Lage, sich selbst zu organisieren und zu verwalten. Anfang November fehlten ihm immer noch Tinte, Nähzeug, Heftzeug, Pomade für die Haare, Schere, Schreibzeug und Briefcouverts.] „Nun schickt mir dies recht bald“ fordert er; „was noch leer ist in der Kiste [die ständig zwischen Schulpforta und Naumburg durch einen Transportdienst hin und her wanderte] werdet ihr schon auszufüllen wissen. (Nüsse) Deine Birnen haben mir ausgezeichnet geschmeckt: ich danke Dir viele Mal. Ich schicke Dir wieder etwas Wäsche (ich glaube zwei Hemden und 1 Schnupftuch) und Jung-Stilling [Johann Heinrich, 1740-1817, ein Buch des deutschen Augenarztes, Wirtschaftswissenschaftlers und Schriftstellers der Erweckungsbewegung zu praktisch christlicher Lebensweise] nebst den modernen Klassikern. Heb’ alles recht gut auf ….. (31)
So ging es ewig weiter, ihm doch dies und das und immer noch etwas zu schicken, zu erledigen, zu besorgen oder aufzubewahren und was sonst immer nötig war.
Anfang November 1858 schrieb N aus Pforta an seinen Freund Wilhelm Pinder in Naumburg:
Lieber Wilhelm! Endlich ist mein längst gefasster Entschluss zur Ausführung gekommen. Verzeih, dass ich Dich mit meinem Brief so lange habe warten lassen. Nun, ich denke von nun an wollen wir uns wechselweise uns ununterbrochen schreiben. Sage dies auch Gustav [Krug. - Er, N, ordnete an, bestimmend und die Führung übernehmend - nur nicht in eigenen Angelegenheiten!] - Schon rückt die goldene Weihnachtszeit näher heran ….. Leider können wir uns gegenseitig unsre Wünsche nur schriftlich mitteilen ….. Wenn ich nicht irre, so hast du dir schon ein Buch gewählt ….. ich halte deine Wahl für vortrefflich ….. Habe doch die Güte und schreibe mir nächstens eine Anzahl von Werken nach meinem Geschmack. Du wirst schon wissen. - Bis jetzt befinde ich mich in Pforta ganz wohl; schreibe mir doch einmal, was ihr dies Semester in der Klasse lest. Besonders leid tut mir, dass wir keinen Homer lesen. Im Jakobs [einer griechischen oder lateinischen Grammatik?] haben wir schon alle Deklinationen privatim übersetzt ….. Viel ungezwungener war man auf dem Gymnasium in Naumburg; das ist sicher. Aber etwas zu frei war es auch, das wirst du nicht leugnen. Sogar in mancher Beziehung bin ich froh, dass ich davon fort bin. Du glaubst aber wiederum nicht, wie oft ich wünsche, in Naumburg bei dir zu sein; es war doch gar zu gemütlich. Die schöne Zeit ist nun vorüber und ich darf nicht daran denken, um nicht traurig zu werden ….. Vergiss ja nicht, was ich mir jetzt als stehende Unterschrift gewählt habe: Semper nostra manet amicitia! [Ewig währe unsere Freundschaft, - eine Formel, die er einige Jahre beibehalten sollte] Dein Freund F[riedrich].W[ilhelm].N. (30)
Am 7. November 1858, die ersten vier Wochen in Schulpforta waren gerade vorüber, schrieb N an seinen Großvater David Ernst Oehler in Pobles:
Lieber Großpapa! Verzeih, dass ich erst heute Dir für Deine Glückwünsche und den Taler zu meinem Geburtstag [am 15. Oktober] danke. Schon längst hatte ich vor, dies zu tun. Aber du glaubst nicht, wie genau unsre Zeit ausgefüllt ist und ist einmal ein Augenblick leer, so muss ich nach Naumburg an die Mamma schreiben, da mir noch manches Notwendige fehlt. - Wie ich gehört habe, ist die Großmama in Naumburg gewesen und es hat mir sehr leidgetan, sie nicht sehen zu können. Nun ich vertröste mich auf die liebe Weihnachtszeit; ein paar Tage bin ich doch vielleicht, wenn ihr es erlaubt, in Pobles. - Bis jetzt befinde ich mich in Pforta ganz wohl; an die Ordnung und Einrichtung muss man sich freilich sehr gewöhnen. Sehr angenehm ist mir, dass ich alle Sonntag wenn auch nur auf kurze Zeit in Naumburg sein kann; es gibt ordentlich Mut, wenn man in der Woche an den lieben Sonntag denkt [an denen er aber nichts von den vielen Kleinigkeiten, die ihm fehlten, einfach mal auf die Reihe kriegte, einpackte und mitnahm.] ….. (32)
Zwei Tage darauf schrieb N der Mutter am 9. November:
Den Brief an den Großpapa habe ich sogleich Sonntagabend geschrieben, hatte aber nicht Zeit, den Deinigen zu beenden. Deshalb konnte ich den Brief und die Schachtel Montag nicht absenden und Du bekommst ihn erst Dienstag ….. Schickt mir die Schachtel nur gleich gefüllt wieder, damit ich sie dann schnell wieder absenden kann; denn es soll nächstens [Anfang Dezember] Generalvisitation sein und da muss alle schmutzige Wäsche fort sein. Ich brauche noch folgendes: Briefpapier, Briefcouverts, Schere, Heftzeug, Pomade, blaues Umschlagpapier. Denkt einmal nach, ob etwas fehlt! - Lang kann ich nicht schreiben, da ich auch noch Wilhelm schreiben will. Nur noch dies: Kommt doch Mittwoch heraus, dass ihr um 1 Uhr da seid; ich hoffe euch da sicher zu sprechen ….. Meine Schlittschuh sendet doch auch bald. Wisst Ihr noch was anderes so vergesst es ja nicht; ich könnte beim Verzeichnis des mir noch Fehlenden Manches übergangen haben. Nun lebt wohl ….. (33)
Und zwei Tage später, nach dem angesprochenen Mittwoch, der aber nicht wahrgenommen werden konnte, hieß es schon wieder:
Vergesst nur ja nichts von den zu schickenden Sachen ….. schickt mir übrigens auch solche Zinksalbe und Lippenpomade mit ….. ebenso ein Stückchen gute Seife. Dann ein paar Bogen blaues Umschlagpapier und 2 Bogen rotes Löschpapier ….. (34)
Der Brief weitere drei Tage später, inzwischen von Mitte November 1858, enthält unter anderem:
Ich warte jetzt täglich auf einen Brief von euch, Aber es kommt gar keiner ….. Sonntag komme ich nicht nach Naumburg; es ist unsre Wohnung [das gerade bezogene Haus am Weingarten Nr. 18, 500 m weiter östlich gelegen] für zwei Stunden [die er zwischen den Unterrichtsstunden frei hatte] zu weit; kommt lieber nach Almrich ….. Ich brauche ja noch mehreres ….. Süpfle [Karl Friedrich, 1799–1871, ein deutscher Pädagoge, wohl ein Buch von diesem], Hahns preußische Geschichte, Schokoladenpulver, Spiegel, Halstücher und vor allem Brillen. Lasst mich ja nicht lange darauf warten; ich brauch alles sehr notwendig. - - Ich glaube übrigens fast, das Heimweh kommt noch bei mir nach; mitunter zeigen sich Spuren ….. (35)
Das Heimweh, wenn es denn welches gab, beruhte vor allem auf den gigantischen Versorgungsproblemen, deren Lösung er von den Seinen erwartete; - selber aber nur Forderungen hatte, entsprechend dem, was ihm gerade einfiel; - ohne bei sich bietenden Gelegenheiten vorauszudenken!
Am 21. November 1858, einem Sonntag, schrieb Ns bester Naumburger Freund Wilhelm Pinder einen längeren Brief:
Endlich lieber Fritz kann ich an Dich einmal wieder schreiben. Schon lange hatte ich die Absicht dies zu tun, hatte aber nie Zeit meinen Plan auszuführen. - Es geht mir, Gott sei Dank, ganz gut. Die Arbeiten haben etwas nachgelassen, überhaupt führe ich jetzt ein ganz angenehmes Leben, nur Du fehlst mir bei jeder Gelegenheit. Aber desto mehr freue ich mich auf das liebe Weihnachten, was nun immer näher heranrückt, denn nächsten Sonntag ist ja der erste Advent! ….. Am 16. November war der Geburtstag von Gustav [Krug]. Derselbe hat zum Geschenk ein Buch erhalten, in welchem sehr interessante musikalische Briefe von Berlios [Hector Berlioz, 1803-1869, ein französischer Komponist der Romantik] stehen ….. Ich hoffe doch, dass Du bei Deiner bisherigen Absicht bleiben wirst, Dir Hauffs Werke zu wünschen [Wilhelm Hauff, 1802-1827, war ein deutscher Schriftsteller der Romantik; erfolgreich vor allem durch Märchen und Erzählungen] ….. Endlich werde ich nun wieder daran denken, meine Biographie zu vollenden, denn die Zeit, das schöne herrliche Weihnachten rückt immer mehr heran, wo ich dir meine Arbeit abgeben muss. Adieu geliebter Fritz! „Semper nostra manet amicitia!
„Wo ich Dir meine Arbeit abgeben muss“? Das sollte wohl der vollendete biographische Abriss aus seinem Leben sein, - um eine „Pflicht“ zu erfüllen? Zu der Zeit also muss zwischen den beiden schon eine - sicherlich mündlich getroffene! - Übereinkunft bestanden haben, wie sie dann im Juli 1860, als verpflichtende „Leistungsgemeinschaft“ unter dem Namen „Germania“ und unter Einschluss von Gustav Krug feierlich gegründet zustande kommen sollte. Ein „Verein“ zu zweien! Zu dessen Mitgliederpflichten es gehörte, „produktiv“ zu sein, etwas vorzulegen um sich kritisieren zu lassen, aber auch, um sich leistungs- und wettbewerbsmäßig hervorzutun und „darzustellen“. N vor allem liebte dieses „Spiel“, bei dem für seine Lust am Argumentieren viel zu gewinnen war. Seinen Freund Wilhelm hatte er bereits mit seinem eigenen Lieblingsthema in die Pflicht genommen. Dafür waren die gerade Vierzehnjährigen mit ihren sich wohl als vorbildlich empfindenden „Biographien“ beschäftigt.
Im Dezember 1858 schrieb N ein 40 Zeilen langes Gedicht über einen, wohl schon einige Wochen zurückliegenden Klassen- oder gar Schulausflug nach der von Schulpforta aus östlich, durch Naumburg hindurch auf der anderen Seite hoch über der Saale liegenden, knapp 10 km entfernten, in Resten erhaltenen Burgruine „Schönburg“ mit hohem rundem Turm und einem Restaurationsbetrieb unten im Keller. Der alles immer sehr genau nehmende N-Biograph Paul Janz beschreibt die Szene so:
Mit seinen Mitschülern wurde N lange Zeit nicht recht warm. Es ging hier ähnlich wie auf dem Gymnasium in Naumburg. Ihre derben und lärmenden Vergnügungen [durchaus nicht unabsichtlich abwertend formuliert, um N zu stilisieren!] sagten ihm nicht zu. So stieg er zum Beispiel bei einem Ausflug auf die Schönburg allein auf den Turm, während alle andern im Keller die Becher schwangen und fühlte sich glücklich. „ Mir ganz allein überlassen. Sie mögen dort in den Hallen nur zechen bis sie umfallen. Ich übe mein Herrscheramt.“ J1.81f
Hier darf nicht unbeachtet bleiben, dass Paul Janz bei der Beschreibung dieser Anekdote wie in einem automatischen Reflex vornehmlich negativ besetzte Bezeichnungen für „die Anderen“ benutzte, um den edelgesinnt Bewunderten, höher strebenden Turmbesteiger auch bei dieser Gelegenheit unterschwellig hervor und empor zu heben; - dies übrigens trotz der Tatsache einer nachweisbaren Unmasse zerrissener Hosen während Ns Pförtner Schülerzeit, was doch eher in die entgegengesetzte Richtung, jedenfalls nicht in ein so sehr abgesetzt erhöhtes und überhöhtes Verhältnis zu „den Anderen“ weist. Paul Janz hat diese „Szene“ hergeleitet aus einem nur mit dessen letzten vier Zeilen zitierten Gedicht des damals Vierzehnjährigen. Das gesamte Gedicht allerdings setzt in Bezug auf die „Geselligkeit“ und die seelische Dringlichkeit des Ganzen einen deutlich anderen Akzent und war - rückblickend auf das N sehr wohl beeindruckt habende Erlebnis an sich! - erst einige Wochen später entstanden - und zudem eindeutig auf das darin vorgetragene „Herrscheramt“ wohlüberlegt ausgerichtet. Es lautet in rundweg begeisterten Tönen in seinem vollen Umfang, unfreiwillig zwischen „wir“ und „ich“ pendelnd, folgendermaßen:
Zur Schönburg, zur Schönburg Marschierten wir lustig: Denn dahin da musst ich [aus sehr persönlichen Gründen!] Es mochte nun kommen Wie’s wollte und wäre Der ganze Himmel Herniedergeschwommen [fiel der Ausflug auf einen recht regnerischen Tag?]. Das gleichviel! Auf Ehre! Das Wetter war prächtig Die Seele frisch munter Die Stimme des Herzens War ja zu mächtig. An dem Ufer der Saale Gings hin im Tale Und endlich - da sahn wir Auf leuchtenden Höhen [so wild aber dürfte es de facto gar nicht gewesen sein!] Die herrliche Feste, Die [Ruine der!] Schönburg stehen. Bald war sie erklommen Im Sturme genommen Und Keller und Becher Bezwangen die Zecher [„die Anderen“] Mit tapferen [das hieß trinkfesten!] Schlünden. Doch nicht aus den Gründen War ich ja gekommen; [was durchaus nicht ganz so kollektivwidrig und unangeschlossen an die „Kameraden“ klingt, wie Janz glauben zu machen versuchte. Allerdings hatte N - zusätzlich übrigens! – Anderes, ihn Erhöhendes, vor und beschrieb dies ab der 26. Zeile:]
Und als die Gefährten Recht lustig werden Steig ich in schnellem Lauf Eilig zum Turm hinauf Schaue mich staunend um [mit Sichtweite bis zur Domstadt Naumburg hinüber], Denke: wie sind sie dumm [aber so dachte er oft - oder sogar fast immer! - von all denen, die nicht das Gleiche wollten wie er!] Dass sie die Burg ersteigen Dem Keller ’nen Dienst erzeigen Die vollen Fässer leeren Und den Gott Bacchus ehren Und was [nach Ns Geschmack!] am schönsten von allen Mir ganz allein überlassen Sie mögen dort in den Hallen Nur zechen bis sie umfallen. Ich übe mein Herrscheramt BAW1.54f
Bei diesem, von Lehrern begleiteten Ausflug ist „Bacchus“ mit Sicherheit nicht zu „seinem“ wie hier dargestellten „Recht“ gekommen! Und hinzuweisen wäre auch darauf, wie selbstverständlich, ja geradezu reflexartig Paul Janz das „Oben“ für sein Idol und das „Unten“, im Keller, für „die Anderen“, wie von N vorgegeben, gelten ließ und auch kein kritisches Bedenken fand für die Verwendung des Wortes „Herrscheramt“ durch den, dem er die höchste Bewunderung zu entbieten trachtete: Weil er es für angemessen hielt fragte er auch nicht danach, um was für eine Art „Herrscheramt“ es sich denn da gehandelt haben könnte.
Der erst ein Jahr später N nähertretende Mitschüler und ebenfalls Pfarrersohn, der Zeitzeuge Paul Deussen vermerkte früh das ihm bei persönlicherer Bekanntschaft als erstes an N aufgefallene „aristokratische“ Gehabe „aus Naumburger Geheimratskreisen“ und auf Ns „Überschätzung derartiger Formen“, - und auch, dass N diese Formen „den Anderen“ gegenüber „hofmeisternd zur Geltung“ PDE.3 zu bringen suchte, - was Paul Deussen als eine Marotte Ns gelten ließ. Sollte man es dabei bewenden lassen? „Ich übe mein Herrscheramt!“ - Ist ein solcher Spruch dazu angetan, einfach übergangen zu werden? Da steht ein fraglos in etlichen Dingen recht „außenseiterisch“ Veranlagter, von seinen Schulkameraden eher frei- und eigenwillig abgesondert - und mit Genuss allein! - auf einem Turm und „übt [genießerisch sich allen überlegen fühlend! - nicht im Sinne von einüben, sondern von ausüben!] sein Herrscheramt“! - Wie tief lässt dieser Ausspruch in diesem Zusammenhang blicken? In Ns „staunendem Sich-umschauen“ da oben allein dürfte sich schwerlich eine ausreichende Motivation für ein wie immer auch gestaltetes „Herrscheramt“ finden lassen, - handelt es sich doch um ein schwergewichtiges Wort, - in besonderer Weise vor dem Hintergrund von Ns letztlich bis in die Vergöttlichung hinein spezifisch ausgeuferter Lebensbahn! „Herrscheramt“! Dieses Wort umschrieb das Hintergrundrauschen eines ewig sich vollkommen und fertig fühlenden, sich allen in allem überlegen fühlenden Wesens!
Die Worte, die wir benutzen, geben neben dem, was wir ausdrücken wollen, unfreiwilligerweise im wie wir das tun, immer auch etwas von unserem Inneren, unserer Seele, unserer eigenen Einstellung den Dingen, Umständen, Personen gegenüber preis, denn alles kann auch anders ausgedrückt werden, als der Einzelne es schließlich in der ihm gemäßen Wortwahl vollzieht und bestens findet! Für N war das Wort „Herrscheramt“ - denn „aus diesem Grunde war er ja gekommen“! - der angemessene, mit seiner Lebensstimmung „da oben“ auf dem Turm der maximale, superlativ bestens übereinstimmende und deshalb als passendst gewählte Begriff für das, was er in seinem Gedicht als „sein dort hinaufgestürmtes Gefühl“ beschreiben wollte: Ein - auch ansonsten vielfach an den Tag gelegtes - „Gefühl des „allen Anderen“ haushohen Überlegen-seins“.
All sein weiteres Tun und Verhalten, seine Anschauungen und Einschätzungen, seine „Rangordnungen“ 2.20 und seine gesetzten „Ziele“ entsprachen bis zum erstmals im Frühjahr bis Sommer 1883 von ihm in diesem Sinn benutzen Begriff der „Herrenmoral“ 10.245, genau dieser ausgeprägt „herrscheramtlichen“ Grundeinstellung und es wird sich zeigen, wie dieses ihn bis ins Mark hinein erfüllende Lebensgefühl, welches von dem hier gerade vierzehnjährigen N selber so treffend mit dem Begriff „Herrscheramt“ bezeichnet wurde und dass er ein solches - aufgrund von was aber eigentlich? - innehätte! - Nichts davon ahnende, dass und wie sehr sich dies im Laufe der kommenden Jahre entwickeln sollte? - Bis hin zu dem ihn am Ende dann erfüllenden Gefühl, dass er selber ein alles beherrschender, die Zukunft der Menschheit dank seiner Erkenntniskraft neu erfunden hätte und folglich deshalb ein dieses Schicksal „in der Hand“-habender 11.160 „Schöpfer“ oder „Gott“ sein würde! Auf der eingangs zwiefach bejubelten „Schönburg“ ist dieses Gefühl schon - längst und mit diesem Gedicht nachgewiesenermaßen! - in ihm vorhanden: Zu früh und zu tief in ihm verwurzelt, als dass er davon wieder hätte lassen können und deutlicher sein eigen, als dass es sich später als etwas ihm Fremdes - und schon gar nicht als ein von außen gekommenes, ihn vielleicht durch eine verhängnisvolle Infektion ins Mark getroffen habendes „Ereignis“ verursacht, zu „erklären“ sein könnte! Hier lag es schon fest und war recht unmissverständlich vorgeprägt.
Die Verflechtungen und seelischen Zusammenhänge, die das Wort „Herrscheramt“ für N beinhaltete, galten, wenn dort oben, auf den Schönburg-Zinnen, nicht nur wie „im Sturme genommen“ auf dem Turm gedacht, sondern Wochen später unverändert noch als Schlusswort am Ende seines Gedichtes, dass nach etlichen Verseschmiedereien erst im Dezember - innerhalb von Pfortas Mauern oder auch über Weihnachten zu Hause in Naumburg? - entstanden war: Es galt viel allgemeiner! - so dass davon auszugehen ist, dass das gesamte Gedicht um dieser Pointe wegen überhaupt nur gedichtet worden war! Was alles steckte für N in diesem „Zauberwort“. Und zudem: Welchen Sinn ergäbe ein „Herrscheramt“ ohne Beherrschte? Man bedenke bei derlei diese psychologischen Zusammenhänge! An was alles mag N gedacht haben, als er dieses Wort zur Chiffre seines damaligen Lebensgefühls hoch über den Anderen „Und was am schönsten von allem Mir ganz allein überlassen“ als einzig passend auswählte und niederschrieb?
Inwieweit war N an dem zum „Herrscheramt“ gehörenden „Bestimmen-können“ und dies auch zu wollen, gelegen? Nicht sich anpassen müssen, sondern im Besitz der Wahrheit zu sein und Entscheidungsbefugnisse zu haben! Über wen? Nur über sich selber? Sicherlich nicht! Die hatte er doch, war frei, „in schnellem Lauf, eilig zum Turm hinauf“ zu steigen. Wozu bedurfte es da eines besonders zu erwähnenden und hervorzuhebenden „Herrscheramtes“? Nicht die Herrschaft über sich selber verbirgt sich in der Benutzung ausgerechnet dieses Wortes an dieser Stelle und in diesem Zusammenhang! Für eine Selbstbeherrschung hätte er nicht nach ausgerechnet diesem Wort zu greifen brauchen! Der Griff ging deutlich mehr in die Richtung, die Paul Deussen nach gut vierzig Jahren noch in seinen Erinnerungsworten an seinen ehemaligen Freund N anklingen ließ: Die „gewisse aristokratische Haltung und Form“ aus Naumburger Geheimratskreisen „hofmeisternd zur Geltung zu bringen“. PDE.3 Beides - Ns Worte und Deussens Eindruck! - stammen ja - erinnert! - aus so gut wie der gleichen Zeit! In diesem Sinn fügt sich als ein früh „gezeigter“, früh „verratener“, geheimer, und zutiefst in N ruhender, hier aber schon nicht mehr völlig zu „bändigender“ und zurückzuhaltender Anspruch - den wenige Zeilen zuvor für „dumm“ erklärten „Anderen“ gegenüber! - in die Entwicklung seiner Persönlichkeit ein und passt nahtlos zur gleichzeitig angezeigten Verteilung von „Oben“ und „Unten“, zu dem immer wieder aristokratischen Gefälle vom „Herrscheramt“, - vom Herrschenden zu den Beherrschten und zu einer tiefsitzenden Neigung zu einem Zweierleimaß, eins für sich da oben und ein andres für „die Andern“ da unten!
Dazu gesellt sich noch eine andere wichtige Frage: Wer oder was sollte N dieses „Herrscheramt“ verliehen haben? - zumal mit dem im Gedicht deutlich zum Ausdruck gekommenen Gefühl, dass Er allein „es richtig“ machte - dichtete er doch auch - den Gegensatz zu „den Anderen“ betonend! - „Doch nicht aus den Gründen War ich ja gekommen“. Wer oder was könnte N über „die dummen Anderen“ da unten im Keller „erheben“ oder erhoben haben?
Es ging hier um eine Momentaufnahme, mehr nicht, sicher. Allerdings um eine der vielen, die, wenn man sie genauer unter die Lupe nimmt, mehr auszusagen vermögen als Größe und Erhabenheit und weitsichtig überlegenes Walten: N zeigt sich hier in elementar selbstmittelpunktlich eingewurzeltem Unverständnis für „die Anderen“, für alle ihm fremd bleibenden Vorlieben, Geschmäcker, Neigungen, Lustigkeiten, die seine autistisch gefühlsblinde Natur nicht „richtig“ wahrzunehmen verstand und mit subjektivistischer „Wertung“ bedachte und abwertete, - um sich sein Gefühl der Überlegenheit seines aristokratisch interpretierten „Besserseins“ zu bewahren. Diese Neigung bildet in Ns „Philosophie“ das Hintergrundrauschen zu fast jedem Satz, den er schrieb. Sie ist hier schon vorhanden und wird sich verfestigen und zu einer unverrückbaren Selbstverständlichkeit werden, je mehr „Gründe“ und Berechtigungen er dafür zu sammeln mühte und sich - und seinen davon angetanen Lesern! - im Gewand von „Philosophie“ zurechtzulegen verstand.
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Der Pastorensohn Paul Deussen, 1845-1919, aus Oberdreis, einer abgelegenen Ortsgemeinde im Landkreis Neuwied im Norden von Rheinland-Pfalz. Er war während der Schulpfortaer Jahre bei nicht unerheblichen Spanungen der wichtigste Freund, der sich Ns ewiger Bevormundung aber zum Ende des ersten Bonner gemeinsamen Studienjahres entzog, indem er ihn an einem Spätsommerabend zur Abreise an den Dampferanleger begleitete, aber N dann zum anstehenden Wintersemester, wie verabredet, doch nicht nach Leipzig folgte.