Читать книгу Also schrieb Friedrich Nietzsche: "Zuletzt wäre ich sehr viel lieber Basler Professor als Gott; aber ..." - Christian Drollner Georg - Страница 18

1861: Der erlebte Lebenssinn durch Ralph Waldo Emerson

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Viktor Emanuel II. wurde König des vereinigten Italien (außer Rom und Venedig). In Russland wurde die Leibeigenschaft für ca. 45 Millionen Bauern aufgehoben. In England gab es tägliche Sturmwarnungen und Wettervorhersagen aufgrund von Wetterkarten. In Paris wurde eine Aufführung von Richard Wagners „Tannhäuser“ ein Misserfolg. Der Urvogel „Archäopteryx“ kam als Zwischenglied zwischen Reptil und Vogel als Abdruck auf Solnhofer Platten zutage.


Am 14. Januar schrieb N seinen Naumburger Freunden Gustav Krug und Wilhelm Pinder:

Liebe Freunde. Nun sind die schönen Tage wieder vorüber, wo wir uns länger und häufiger sprechen konnten, vorüber die Zeiten, die in der Erwartung so hoffnungsvoll, in der Erinnerung so trostreich sind [das war gekonnt formuliert und barg ein geschicktes Überspringen der verhassten „Jetztzeit“ zwischen der erinnernd veredelten Vergangenheit und der mit illusionären Hoffnungen überladenen Zukunft! N versteckte hier - ohne es seine späteren Leser spüren zu lassen - das im Grunde Wichtigste: das Verschweigen der als „wertlos“ erachteten Gegenwart, was in den folgenden Zeilen seine Bestätigung findet:] ….. Denn was sollte ich von meinem jetzigen Leben berichten? Dass wir viel zu tun haben? Dass die Arbeit noch durch Feriengedanken gestört wird? Dass die Zeit für Lieblingsbeschäftigungen gering, ach leider! zu gering ist? Das habt ihr ja alles schon selbst erfahren und erfahrt es noch. Weshalb sollte ich da noch euren Missmut vergrößern? Fürwahr, es ist doch viel angenehmer aus dem tyrannischen Reich des Zwangs in die Gebiete des freien Willens [in eine so schön vorgestellte „Parallelwelt“ in der ohne selbstkritischen Bezug auf die Wirklichkeit alles Denkbare möglich schien!] zu flüchten.

Da klang N recht entschlossen, mehr als zuvor, volltönend gewissermaßen, überzeugt und überzeugend. Das Thema ist dagegen bekannt und schon dagewesen. N hatte es vor fast zwei Jahren schon einmal in der prometheusnahen Gegenüberstellung von göttlicher und menschlicher Freiheit anklingen lassen. Jetzt tauchte es in Form von „Zwang“ gegenüber der „Entfaltung des freien Willens“ wieder auf. Dahinter stand recht unverändert der Widerspruch zwischen dem, was man tun muss gegenüber dem, was man tun will, möchte und kann. Mit anderen Worten ging es um die zu berücksichtigenden, in vielfachen Ausprägungen und Erscheinungsformen aus der Umwelt erwachsenden Notwendigkeiten gegenüber der „freien“, von Widersprüchen grenzenlos befreiten Entfaltung des eigenen, empfindsamen Ichs und seiner leicht bedenklich sein könnenden „Gültigkeit“. Zu bedenken dabei ist, dass N dieses „Problem“ in Verbindung brachte mit dem ihm aus seinen Gefühlen zugekommenen Wort „flüchten“. Mit diesem verriet er unfreiwilliger weise die psychologisch bedingte Motivation seines auf „Ausweichen“ gerichteten Gedankenflusses. In seinem Brief fuhr er fort:

Ohne weitere Umschweife will ich deshalb mich zu dem Stoff wenden, der jetzt eure Aufmerksamkeit kurze Zeit fesseln möge [denn die Freunde sollten seine Probleme wälzen; - das verstand er unter „Gemeinsamkeit“]. Dieser Stoff betrifft die Umgestaltung des Oratoriums [N beschäftigte sich komponierend gerade mit einem solchen! - und über dieses, sprach er von sich!]. Wenn man bis jetzt [eine immer wiederkehrende Wendung, die instinktiv „bis zu ihm hin“ - dem ihm wichtigsten Punkt in der Weltgeschichte! - bedeutete, - also bis hin zu seiner Erkenntniskraft! - nicht gedacht, aber gefühlt und gemeint war! Hier begann er, in einem frühen Ansatz, sein „ab dann“ beibehaltenes „Umwertungsspiel“, seine „Masche“ und sein Trick, aus der „Machtfülle“ seines von den Zinnen der Schönburg, 1858, stammenden „Herrscheramtes“ heraus neue Werte und Bewertungen sowohl setzen zu können als auch zu müssen! Wenn man also bis jetzt] immer geglaubt hat, das Oratorium nehme in der geistlichen Musik dieselbe Stelle ein, wie die Oper in der weltlichen, so scheint mir dies unrichtig, ja eine Herabsetzung zu sein. An und für sich ist schon das Oratorium großartig einfacher, ja so muss es als erhebende und zwar streng religiös erhebende Musik sein.

Bereits nach wenigen Sätzen war es N da auf recht einleuchtende Weise gelungen, argumentierend innerhalb seines Themas - bei dem also, worum es ihm gegangen war! - so wie lebenslang gegenüber den aufgrund seiner Art und seinem Umgang von ihm eingenommenen Menschen! - auf das „Erhebende“ zu kommen, - also zügigst den ausschließenden, für ihn wichtigsten Punkt, nämlich den des beurteilend „Besseren“, Heraushebenden, Adelnden, den Zustand des Nicht-Gewöhnlichen, der Überhöhung als den ihn faszinierenden „Ausnahme-Zustand“ in seinem Leben, zu erreichen. Das Wort „erhebend“ kommt gleich zwei Mal in einem Satz vor: Erhebend! Als Argument! - Vollkommen gefühlsbedingt! Im Gegensatz zur schalen, langweiligen, unattraktiven, jetztzeitigen Gewöhnlichkeit: Es entsprach als ästhetizistisches Element seinem gefühlsmäßig erfolgenden Bedarf zu werten:

So verschmäht das Oratorium alle andern Mittel [tut es das in der behaupteten Ausschließlichkeit?], deren sich die Oper zur Wirkung bedient; es kann von niemand für etwas Begleitendes, wie die Opernmusik doch für die Menge noch ist, gehalten werden [aber wieso und warum? Die Musik des Oratoriums begleitet doch den liturgischen Text!]. Kein andrer Sinn wird hier erregt außer dem Gehör [und der religiösen, glaubensgebundenen Empfindung!]. Auch ist der Stoff unendlich einfacher und erhabener [nochmals dieses Wort, leicht abgewandelt zum 3. Mal], ja großenteils ist er [der Inhalt! - aber nicht unbedingt und in jedem Fall!] bekannt und allen, auch dem ungebildeten [selbst bei oft lateinischen Texten?] ohne Mühe verständlich. Deshalb glaube ich, steht das Oratorium in seiner Musikgattung höher, als die Oper.

Wozu brauchte N diese auf Ausschließlichkeit zielende, absolut unnötige Wertung? Warum konnte N das Eine nicht gleichwertig neben dem Anderen stehen sehen und ertragen? Ganz schlicht und einfach als ebenso gut aber anders!? Wer hatte etwas davon, dass das Eine „höher“ als das Andere gelten sollte? Warum polarisierte N hier, wertend und „Ordnung“ schaffend mit seiner Meinung? Um seine eigene Vorliebe zum Gesetz hoch-zu-argumentieren? Er begann hier, in und mit dieser unscheinbar kleinen und vielleicht auch belanglosen Gegenüberstellung, das, was er sein Leben lang „moralisierend“ argumentierend betreiben sollte: Mit allem Nachtdruck entschied er hier schon - kaum dass man es merkt! - ohne stichhaltige Gründe: Lediglich nach seinem Empfinden und seinem Führ-Richtig-Halten, - ungeachtet der Tatsache, dass sich das auch sehr anders betrachten ließ:

Deshalb, glaube ich, steht das Oratorium in seiner Musikgattung höher als die Oper, indem es also in den Mitteln einfacher, in den Wirkungen unmittelbarer ist und seiner Verbreitung nach wenigstens allgemeiner sein sollte [fraglos lag darauf die Betonung: „Sein sollte“! - es sollte so sein, wie er es für richtig hielt: Sein „Herrscheramt“ und das Bestimmen, wie es „sein sollte“ gingen hier Hand in Hand, - als ein und dasselbe!]. Wenn letzteres nicht so ist, so muss man die Ursachen nicht in der Musikgattung selbst, sondern teils in der Behandlung teils in dem geringen Ernst unsrer Zeit suchen [auf alle Fälle aber einen „Schuldigen“ dafür finden! - Nur nicht da, wo die „Schuld“ eigentlich lag: Nämlich in Ns, sehr persönlich gefärbter Auffassung, zu der man mit gleicher, rein ästhetisch grundierter Berechtigung, auch eine sehr anderer Meinung haben konnte: Abhängig nur davon, wie gut komponiert das Ganze jeweils ist - Oratorium, Oper, Lied oder was auch sonst auch! - Denn die Hauptsache bei dem Ganzen war, dass N - gegen den Rest der Welt! - etwas für ihn - im Moment gefühlsmäßig geltendes! - grundsätzlich fest- und richtiggestellt hatte!] …..

Nächstens werden wir ja uns auch gegenseitig unsre [lt. „Germania-Satzung“ verpflichteten] Januarsendungen schicken, von Wilhelm empfange ich vielleicht auch noch eine verspätete Dezemberlieferung. Schreibt mir doch recht bald einmal: ich sehne mich so nach einem Brief, da ich so abgeschlossen und getrennt von euch bin. Sonst wünsche ich, dass es euch immer recht wohl geht und ihr auch mitunter an euren Freund in Pforta denkt. Semper nostra manet amicitia [ewig dauere unsere Freundschaft].


Umgehend erfolgte darauf die Antwort; zuerst, am 15. Januar 1861, schrieb Wilhelm Pinder seinem Freund in Pforta:

Lieber Fritz! Welche unverhoffte Freude als wir heute aus der Schule nach Hause kamen und deinen lieben Brief fanden! Ich habe mich deshalb auch gleich hingesetzt, um Dir dafür zu danken und mich etwas näher über denselben auszusprechen, denn Du hast uns so viel Interessantes, so viel Neues und Wahres [die Freunde Überrumpelndes!] darin mitgeteilt, dass die Sache wohl eines tieferen Eingehens wert ist. Ich habe mich mit Gustav [dem musikalisch Erfahrendsten und Praxisbeschlagensten von den dreien] schon über den von Dir behandelten Gegenstand [der Umwertung Oratorium/Oper] gestritten. Er ist [als der eigentliche „Fachmann“ in Sachen Musik!] nicht ganz deiner Ansicht, während ich Dir völlig beistimme [was für das „Innenverhältnis“ unter den Dreien nicht nur typisch, sondern ebenso für die weltweite Anerkennung Ns bezeichnend ist!] und, so weit ich es verstehe [denn gerade darin lag der springende Punkt!] deine Meinung für die richtige halte …..

Das war ein Paradebeispiel. Für das, was kommen sollte, mag die Anführung dieses Beispiels genügen. Der von Musik so gut wie keine Ahnung habende Wilhelm Pinder pflichtet N bei, der fachlich weit mehr als N beschlagene Gustav Krug war anderer Meinung, - genau so wird die Publikumsverteilung sich im Verhalten zu N in der Zukunft gestalten. Je weniger jemand aus eigener Erfahrung wusste, umso leichter war er von Ns Argumentationsstrategie zu „überzeugen“, zu verführen und um den Finger zu wickeln.


Mitte Januar 1861 schrieb N an die Mutter in Naumburg:

Liebe Mamma! Ich habe Deinen lieben Brief erhalten und danke dir viele Mal dafür ….. Ich befinde mich diese Tage recht unwohl, weiß aber nicht, woher es kommt. Ich habe beständige Kopfschmerzen; der ganze Kopf ist mir davon eingenommen; dann tut mir [auch noch] der Hals weh bei jeder Bewegung ebenso die Kehle wenn ich atme. Die ganzen zwei Nächte habe ich gar nicht geschlafen, sondern fror und schwitzte abwechselnd. Ich komme gar nicht zur Besinnung, es ist um mich alles wie ein Traum. Ich denke aber, wenn ich gar nichts dagegen tue, wird es recht bald wieder besser werden [was zwar einer anerzogenen, dennoch aber finsteren, vielleicht auch nur der Zeit geschuldeten Einstellung gegenüber den verfügbaren medizinischen Kenntnissen und Fähigkeiten entsprach, jedoch nach dem heutzutage üblichen Stand, vor allem der Präventionsmedizin, als kaum mehr recht vorstellbar naiv erscheint]. Auf die Krankenstube gehe ich auf keinen Fall. Wenn es Sonntag noch schlimmer sein sollte, so gehen wir zusammen nach Naumburg und ich bleibe dann dort [unter der Behandlung der Mutter mit Kaltwasserumschlägen und anderen zufällig und probeweise angewandten Hausmittelchen, die oft halfen, - oder eben auch nicht und dann war man mit seiner Weisheit am Ende!]. Appetit habe ich gar nicht; doch esse ich wie gewöhnlich; denn wenn ich meine gewöhnliche Lebensweise fortsetze, wird es schon bald sich bessern [das war seine Hoffnung lebenslang! Immer kurierte er aus eigenen Erkenntnissen an etwas herum, über das er nicht das Geringste wirklich wusste, sondern nur „seine Meinungen“ hatte.] Macht euch nur ja keine Angst darum; Sonntag ist hoffentlich alles vorüber. Sende mir doch morgen ja die Kiste. Viele Grüße an Lisbeth! Dein FWN.


Im Pfortaer Krankenbuch ist N für den 19. - 27. Januar 1861 wegen „Erkältung“, begonnen am 18.1. eingetragen. Es stand also so ernst um Ihn, dass die „Krankelei“ in Verbindung mit den Vorschriften der Anstalt allein zu der ihm ermöglichten Behandlungsmethode wurde. J1.128 Kurz vor seiner erhofften Wiederherstellung schrieb er, am 26. Januar, der Mutter:

Liebe Mamma! Ich bin heute doch noch auf die Krankenstube gegangen, da ich drüben nichts anfangen und nichts arbeiten kann [so sehr war er, offensichtlich durch die Kopfschmerzen, außer Gefecht gesetzt]. So können wir uns also morgen [am Sonntag] nicht sehen; das tut mir sehr leid, da wir uns so lange nicht gesehen haben. Es ist hier auf der Krankenstube ziemlich voll, 8 noch außer mir; langweilig wird’s wohl auch werden.


Damit war der Fall jedoch diesmal nicht ausgestanden. Drei Tage nach dem entgangenen, jedes Mal doch so heiß ersehnten Sonntagstreffen, am 30. Januar, schrieb er der Mutter - und diese Passagen bedürfen hier ausführlicher Erwähnung, weil es zu Elisabeths N-Legende gehören sollte, dass ihr Bruder immer kerngesund, ja ein Ausbund und Vorbild an Gesundheit, gewesen sei:

Liebe Mamma! Ich dachte doch nun, dass mein Unwohlsein vorüber sein würde; aber seit gestern ist es im verstärkten Grade wiedergekommen. Die Kopfschmerzen sind wieder so heftig, dass ich gar nichts arbeiten kann. Ebenso tut mir der Hals wieder weh; auch der Schmerz im Kehlkopf ist wieder da. Ich habe die Nächte vor Schmerz nicht schlafen können. Mir ist höchst traurig zu Mute ….. Am meisten tut mir leid, dass ich zu Deinem Geburtstag nun gewiss nicht kommen kann. - Wenn ich nur wüsste, woher das ganze herrühre. Was mir lieb ist, dass ein Schnupfen eingetreten ist. Ich denke, da kann es nicht lange anhalten.

Der diesem Brief Ns an die Mutter beigelegte Krankenbericht von Ns Tutor Buddensieg lautet:

Gott grüße Sie! Zwei Krankenberichte sind eben geschrieben; Sie, liebe Frau Pastor, bekommen nur ein Krankenberichtchen. Fritz klagte gestern Abend wieder über seinen Kopfschmerz. Ich ließ ihn sogleich zu Bette gehen; doch hielten die Schmerzen auch heute früh noch an, so dass der Dr. Zimmermann ihn wieder auf die Krankenstube genommen hat. Wie dieser sagt, ist die Veranlassung zu Fritzens Unwohlsein eine Erkältung, durch die er sich einen Schnupfen zugezogen hat; doch will dieser nicht recht in Gang kommen. Deshalb hat Dr. Zimmermann ohne Erbarmen dem vollblütigen Fritz 4 Schröpfköpfe auf dem Nacken verordnet, welche ihre gesegnete Pflicht und Schuldigkeit nun treulich tun mögen. „Sorget nicht!“ Nun muss ich noch an den lieben Bruder Schenk nach Zeitz [knapp 30 km südöstlich gelegen] einen 4. Krankenbericht schreiben, der auch schließen wird mit einem tröstlichen „Sorget nicht!“ Freundschaftlich grüßt Sie Ihr Buddensieg. Inspektionsstube zu Pforta 30.1.61


N blieb, obgleich er da „auf keinen Fall“ hin wollte, in der „Krankelei“ und schrieb von dort am 2. Februar an die Mutter:

Einige Worte, liebe Mamma, muss ich Dir doch heut schreiben; entschuldige aber im Voraus, wenn mein Brief sehr kurz und meine Schrift schlecht ist. Zuerst also meine innigsten Wünsche zu Deinem lieben Geburtstag. Möge der liebe Gott im ganzen Jahre mit Dir sein und Dich mit Segnungen überschütten. Möge er Dir stets Gesundheit verleihen, dass Du das neue Jahr im vollsten Wohlbefinden verleben möchtest ….. Dass ich heute nicht in Naumburg sein kann tut mir herzlich leid, aber ich liege noch immer im Bett und soll noch nicht aufstehen. Es geht aber viel besser; die Kopfschmerzen haben sehr nachgelassen; auch der Appetit ist besser, kurz, es ist doch sicher auf dem Weg der Besserung. Die Bratäpfel haben mir ganz gut geschmeckt. Ich danke vielmals dafür; auch die Wäsche habe ich richtig bekommen. Hattest Du mir denn geschrieben? Ich habe den Brief nicht gefunden …..


Zwei Tage später, am 4. Februar 1861, hieß es von dort:

Liebe Mamma! Wieder einige Zeilen, um dir über meinen Gesundheitszustand Nachricht zu geben. Ich darf jetzt aufstehen und bin schon Sonntag beinahe den ganzen Nachmittag auf gewesen. Ich musste mich freilich erst wieder daran gewöhnen, da ich anfangs kaum herumgehen konnte. Jetzt geht es mir viel besser; es ist mir allerdings außerordentlich matt; Anstrengendes darf ich weder lesen noch schreiben, wenn ich nicht gleich Kopfschmerzen haben will; sonst geht es aber doch ganz leidlich …..


Am 8. Februar hieß es:

Liebe Mamma! Dass ich so lange nicht geschrieben habe, kommt bloß daher, dass ich bestimmt glaubte, Dich in diesen Tagen persönlich in Pforta zu sehen. Das Wetter ist jetzt so wunderschön; bitte, besuch mich doch einmal, liebe Mamma! Deinen Brief habe ich richtig empfangen; ich danke Dir vielmals dafür. Mir geht es jetzt doch viel besser; ich bin eigentlich ganz wohl, darf jeden Tag eine Stunde spazieren gehen und werde von den Kopfschmerzen nur selten heimgesucht. Ich werde aber den Dr. nicht wieder antreiben, sondern werde es ihm ganz überlassen. Vielleicht gehe ich aber morgen, vielleicht auch erst Sonntag herüber …..


Am 13. Februar kehrten die Kopfschmerzen am Nachmittag sehr heftig wieder und am 16. Februar schrieb er der Mutter:

Liebe Mamma! Ich habe es nun wahrhaftig satt mit diesen Kopfschmerzen; es wird nicht besser und kommt immer wieder. Die kleinste Anstrengung des Kopfes macht mir Schmerzen. Und dabei versäume ich eine Menge Lektionen, ohne etwas nacharbeiten zu können. Nun habe ich heute wieder hinter jedes Ohr eine spanische Fliege [mit dem Wirkstoff des Reizgiftes Cantharidin aus gemahlenen Deckflügeln von spanischen Ölkäfern] bekommen. Ich glaube nicht, dass es helfen wird. Wenn ich nur täglich viel spazieren gehen könnte! Sonst weiß ich nicht, wie’s gut werden soll. Ich habe schon daran gedacht, ob ich nicht lieber ein paar Wochen in Naumburg zubringe und mich da durch Spazierengehen kuriere. Bitte komme doch morgen [Sonntag] ja heraus; wir wollen einmal näher darüber sprechen. Hier auf der Krankenstube werden die Kopfschmerzen, glaube ich, nicht aufhören. -


Unter dem am 30. Januar 1861 erfolgten Eintrag ins Pfortaer Krankenbuch ist nach der Feststellung „Rheumatischer Hals- und Kopfschmerz“ fortsetzungsweise vermerkt „reist am 17.2. als Rekonvaleszent nach Hause (Naumburg)“; J1.128 Man war auf der Krankelei gegen einen so hartnäckigen Kopfschmerz mit dem Latein an Ende: Um lediglich eine ’’Erkältung“ wird es sich kaum gehandelt haben, zumal N ohnehin leicht zu Kopfschmerzanfällen neigte und diese trotz gewisser, aber weitgehend ratloser Gegenbehandlungen wochenlang anhielten - immerhin vom 19.1. bis 17.2., so dass es ratsam schien, N zur Genesung erst einmal auf gut Glück nach Hause zu „entlassen“.


Ende Februar hieß es in einem Brief an die Mutter:

Liebe Mamma! So bin ich denn glücklich in Pforta wieder angelangt. Es war sehr hübsch, dass mich Wilhelm und Gustav begleiteten; wir haben uns sehr hübsch zusammen unterhalten ….. - Meine Kopfschmerzen sind nur ein paar Mal wiedergekehrt; es wird schon gehen. Ich habe freilich sehr viel nachzuholen. Schicke mir nur ja alles. Habe ich vielleicht sonst noch was zu Hause gelassen? [was bei Ns Schusseligkeit in diesen Dingen offenbar nicht sicher war!] Grüße Lisbeth viel Mal von mir! Adieu! Es war doch sehr hübsch in Naumburg! ….. Mit dem Arbeiten will es heute Morgen noch nicht recht gehen, die Kopfschmerzen haben sich wieder eingestellt. Ich muss mich allmählich daran gewöhnen. Nun adieu! Liebe Mamma! Dein FWN.


Die intensive Manie, sich dauernd etwas schicken zu lassen, verrät auf lange Sicht umso mehr, dass N so gut wie keinen Drang verspürte, sich unabhängig zu halten und dass der „Wille zur Selbstverwaltung“ bei dem inzwischen 15½-jährigen N kaum vorhanden war. Er dachte an nichts, sorgte nicht vor, hatte seine Sachen nicht beieinander, versorgte sich nicht selbst, sondern ließ sich bedienen. Erziehung? Übliches Verhalten für Internatszöglinge? Er hat sein Leben lang andere Menschen seine persönlichen Dinge verwalten lassen und neigte seinem Temperament nach wohl dazu, andere für ihn sorgen zu lassen.


Am 5. März 1861, einem Dienstag, schrieb N, wieder ganz im alten Fahrwasser der eingefahrenen Gewohnheiten an die Mutter:

Ich bin am Sonntag ganz wohl bei nicht so großem Sturm, wie ich glaubte, vor 10 [Uhr] in Pforta angekommen, nachdem ich zuvor bei Mannsbachs durchaus noch eine Tasse Tee trinken musste. Montag habe ich nun ordentlich gearbeitet, denn unsre Examenszeit [zum Abschluss des Wintersemesters] hat nun angefangen. Wir haben das Thema Jäger- und Fischerleben zu behandeln; ich habe es früher schon einmal in Naumburg ausgearbeitet. Bitte sende mir ja morgen Mittag [er kam doch gerade von dort!] mein deutsches Arbeitsheft, es liegt im Bücherschrank im dritten oder zweiten Fach von unten herauf. Lisbeth wird es schon finden. - Wir haben doch den Sonntag sehr hübsch zusammen verlebt [ohne vorsorgende Gedanken daran, was er in den nächsten Tagen für seine Examensarbeiten brauchen würde!] und wie lange wird’s dauern, da bin ich wieder bei euch. Wenn nur erst die Examenswochen glücklich überstanden sind! Kannst du mir nicht ein paar Schokoladentafeln senden, damit ich wieder früh etwas Milch trinken kann? Sie ist jetzt sehr schlecht und da muss man so etwas haben; denn ganz nüchtern zu bleiben, wie ich es jetzt eine lange Zeit getan habe, ist gar nicht angenehm. Du würdest mir große Freude bereiten …..


Im März 1861 begann N, für dessen Genialität die Examina alles andere als Selbstgänger waren, ohne exakte Datumsangabe, aber wohl Anfang des Monats, ein neues „Notizbuch FWN alumnus portensis (Naumburg)“ BAW1.244, mit „Friedrich Wilhelm N, Zögling der Landesschule Pforta“ überschrieben. Es war ein Oktavheft, in einen braunen Deckel gebunden und enthält durchmischte Notizen, die sich nach sehr wenigen Seiten schon auf Ostern bezogen, das in dem Jahr auf den 31. März fiel und sich natürlich auch mit den dazugehörigen Ferien befassten. Die „Eröffnung“ dieses „Notizbuches“ dürfte also etwas früher liegen. Auf wirklich sonderbare Weise enthält es kein einziges Wort über die gerade mal drei Wochen vor Ostern, am Sonntag „Laetare“, den 10. März 1861 begangene - erfolgte oder auch nur durchgestandene? - Konfirmation! Dieses Ereignis wurde „zuhanden seines eigenen Seelenlebens“ regelrecht unterschlagen, - als bedeutungslos? vielleicht gar peinlich? Seiner erlebten und folglich ernüchternden Tatsächlichkeit wegen? N schwieg sich aus - auch sich selbst gegenüber?! - über diese doch sehr kirchliche Angelegenheit, die ihm ein Jahr zuvor „in Wilhelm Pinders Namen“ gewissermaßen, so bedeutungsvolle Worte entlockt hatte, - aber in ihm selbst nichts übrig ließ.


Stattdessen notierte N als Erstes im neuen „Notizbuch“ ein ihm etwas wert zu sein scheinendes und der Diktion nach kaum von ihm stammendes „Gedicht“:


Stolz ist der Pfau und stark der Elephant

Die Wolfsschlucht graus und wild

Der rheinische Hof pikant

Am Felsen harrend sitzt die Loreley und singt

Bis traute Sänger ihr die braune Flut verschlingt.


Danach folgen Notizen zu Szenen um die Figur des während der Völkerwanderung nach 238 n. C. nördlich des Schwarzen Meeres angekommenen Ost-Gotenstammes und dessen erstem und zugleich letztem historischem König „Ermanarich“, gestorben 376 n. C., der es N derart angetan hatte, dass er sich veranlasst sah, kurze Fetzen Dialoge und Handlungen und Personenaufstellungen zu entwerfen. Nach beiläufig scheinenden erstmaligen Buch-Erwähnungen, und zumeist englischen Personnagen, darunter auch „Byron Edinburgh“ mit Preis, folgen drei Zeilen im Zusammenhang zur Edda, deren Bekanntschaft er gerade gemacht zu haben schien - oder gerne noch machen wollte? - „Edda, übersetzt von Simrock, 2 Teile“ lautet davon die letzte, wie zur Erläuterung beigegebene Zeile.

Vor dieser Zeile stehen zwei - nicht rein zufällige sondern im Gegenteil, absolut typisch für N! - zwei der Edda entnommene „altnordische“ Worte - und nur diese! Nicht unter anderen, sondern vollkommen allein: „Aham“ und „ahamkara“. Das Erste bedeutet auf Deutsch „Ich“, das Zweite „Ichheit“. Ausgerechnet diese beiden Worte der Edda hatten es N dermaßen angetan, dass er sie seinem Notizbuch einverleibte. Sie müssen ihm besonders nahe gegangen sein! Weshalb hätte er sie sich sonst notieren sollen? Für das oftmals autistisch wirkende Gebaren Ns dürfte als typisch anzusehen sein, dass er sich aus der an absonderlichen Ereignissen so übervollen Edda gerade diese beiden Worte als bemerkens- und behaltenswert notierte! Nur um sie vor seinem Vergessen zu bewahren? Sie waren für ihn, für sein Ich und seine Ichheit von ausnehmender, persönlich zu nehmender Wichtigkeit, deshalb schrieb er sie auf, - denn seine Notizbücher waren ausschließlich für das angelegt, was ihm für seine stark oder sogar nur von Gefühlsmäßigem angesprochene Person als bedeutungsvoll und langfristig bewahrenswert erschien.


Während der Osterferien in Naumburg trug N in dieses kleine „Buch“, ein Oktavheft, mit Stundenangaben von morgens 9 bis abends 9, seine täglichen Beschäftigungen ein oder plante er diese nur? Für einen Montag z.B.: 9-11 komponieren Schluss von Mariae Verkündigung; 11-12 Spazierengehen; 2-3 Klavierspiel. Beethoven d-moll [was sicherlich nicht auf die in dieser Tonart stehende 9. Sinfonie weisen sollte! - oder doch?]; 3-7 Zusammenkunft bei Gustav Krug; 8-9 Deutsch „Die Kindheit der Völker II [einen ersten Aufsatz dazu hatte er kurz zuvor im Umfang von gut 8 Druckseiten bereits beendet. Das Thema taucht später nicht wieder auf. Nach weiteren 7 Tagen, in deren Reihe der Sonntag fehlt, folgen Eintragungen - wieder wohl seine Absichten betreffend! - zur „Germania“:]

1. Die Hauptsynode Juli [gemeinsame Besprechung der 3 Beteiligten]

2. An den vier Synodentagen Reden gehalten. Fächer bestimmt.

3. Ordnung der Kassenverhältnisse.

4. 25. Juli [erstes] Stiftungsfest auf Schönburg. Gedicht vorlesen.

5. Die vierteljährlichen Einsendungen vorlesen und vorspielen.

6. Anschaffung einer Mappe. BAW1.244-249


In diesem „Tagebuch“, das keines ist, sondern ohne Bezug auf den jeweiligen Tag allerlei ihn Beschäftigendes enthält, folgt, einige Zeilen weiter und etwas größer als üblicherweise geschrieben, das inmitten der Zeile stehende Wort „Juliferien“, ein sehnsuchtsvoll vorweggenommenes „Erinnern“, denn bis dahin war es noch hin. Da das Notizbuch über diese für sein „geistiges Werden“ durchaus nicht unwichtige Zeit keinerlei weitere Auskünfte erteilt, tut also ein anderweitig zu gewinnender Einblick in die bis zu den Juliferien vergehenden Monate Not, - vor allem zu der von N in seinen Notizen unterschlagenen Konfirmation. Mit der Gesundheit stand es übrigens auch nicht zum Besten:

Am 1. März 1861, zehn Tage vor Ns Konfirmation schrieb Bernhard Daechsel, der gut 20 Jahre ältere Stiefsohn von Ns Vormund, aus Sömmerda an N in Pforta:

Mein lieber Fritz. Die Worte, die ich an Dich richte, sind bestimmt, Dir an deinem Konfirmationstage ein Zeichen meiner Teilnahme als Dein Verwandter und als der von Deinem seligen Vater Dir bestimmte ältere Freund zu geben ….. Nimm meinen herzlichen Glückwunsch für das Leben aus der Ferne, möge der Segen, den Dir die Kirche erteilt, Dich geleiten auf allen Wegen und möge er Dich dahin führen, Deinem guten seligen Vater ähnlich zu werden, der zu früh von hier abberufen worden ist, als dass er Dir selbst ein sichtbares Vorbild hätte sein können, aber der Geist der Liebe, der in ihm war, die Freundlichkeit seines Herzens und die Heiterkeit seines Gemütes mögen Dir als das beste Erbteil von ihm zufallen ….. In der Anlage gebe ich Dir ein Buch, welches eine Reihe von Betrachtungen für Konfirmanden enthält, benutze es in geeigneten Stunden und behalte das Dich Ansprechende in Deinem Gedächtnis.


Der Lieblingsonkel Edmund Oehler schrieb N aus Gorenzen am 5. März 1861:

Mein lieber Fritz ! Der feierliche Tag Deiner heiligen Konfirmation rückt heran, der Tag, da Du Deinen Taufbund und Dein Taufgelübde erneuern und bekräftigen willst: zu entsagen dem Teufel mit allen seinen Werken und Wesen und im Glauben an den Dreieinigen Gott zu stehen, zu leben und zu sterben. Der ganze Himmel und Dein selig entschlafener Vater und Deine selig entschlafene Großmutter [was für die beiden eine gewagte Aussage war!] beten für Dich mit, dass Du Dein Taufgelübde treu und unverbrüchlich hältst und im Glauben an den Heiland feststehst und nicht wankst. Und mein innigster Wunsch und Gebet für Dich ist: Der Gott des Friedens heilige Dich durch und durch und Dein Geist samt Seele und Leib müsse unsträflich behalten werden bis auf den Tag Jesu Christi. In herzlicher treuer Liebe Dein Onkel Edmund.


Am 10. März 1861, dem Freude verheißenden Sonntag Laetare, drei Wochen vor Ostersonntag „geschieht“ die Konfirmation, zusammen mit Paul Deussen, dem - beinahe! aber eben doch nicht ganz - innigsten Freund in Schulpforta. Dieser beschreibt die „gemeinsame“ Konfirmation in seinen „Erinnerungen an Friedrich N“, nach vierzig Jahren, Leipzig 1901, folgendermaßen: „Ein neues Band zwischen uns [nicht zwischen Deussen und Gott, sondern zwischen Deussen und N] knüpfte am Sonntag Lätare des Jahres 1861 die gemeinsame Konfirmation. Als die Konfirmanden paarweise zum Altar traten, um kniend die Weihe zu empfangen, da knieten N und ich als nächste Freunde neben einander. Sehr wohl erinnere ich mich noch an die heilige, weltentrückte Stimmung, die uns während der Wochen vor und nach der Konfirmation erfüllte. Wir wären ganz bereit gewesen, sogleich abzuscheiden, um bei Christo zu sein und all unser Denken, Fühlen und Treiben war von einer überirdischen Heiterkeit überstrahlt, welche freilich als ein künstlich gezüchtetes Pflänzlein nicht von Dauer sein konnte und sehr bald unter den alltäglichen Eindrücken des Lernens und Lebens ebenso schnell verflog, wie sie gekommen war. In dessen hielt eine gewisse Gläubigkeit noch bis über das Abiturientenexamen hinaus stand. PDL.70 u. PDE.4


So schilderte Paul Deussen, was vor allem seiner Gefühlslage entsprach, besonders der letzte Satz. Die Annahme, dass Gleiches für N zu gelten hätte, dürfte wohl in die Irre führen, - mit dem Zusatz, dass er sich wohl nichts anmerken ließ. N mag zwar gesprächsweise noch mit Deussen mitgehalten haben, war aber in seinen inneren Gefühls- und Stimmungslagen von derlei Christlichkeit zu dem Zeitpunkt bereits weit entfernt, was dem Schweigen darüber in seinem Notizheft entspricht. Sein inneres Verhältnis zu Deussen war nicht dergestalt, dass er Alles mit ihm geteilt und ihm auch mitgeteilt hätte: Zum Beweis dafür enthalten dessen „Erinnerungen an N“ kein Wort über das in den kommenden Sommerferien für N so elementar werdende Phänomen „Ralph Waldo Emerson“, von dem N seinem Freund demnach nichts verraten hatte; - unter anderem auch, weil es in der wahren Gesamtheit seiner Bedeutung für N niemandem zu vermitteln war!


~



Das erste Bild Ns.

Es stammt aus der Zeit seiner ihn in der Realität enttäuscht habenden Konfirmation am Sonntag Lätare,

das ist der Sonntag 3 Wochen vor Ostern. 1861 war das am 10. März, im Jahr der da noch ausstehenden Emerson-Infektion,

die sich erst im Sommer 1861 in Nürnberg ereignen sollte.


Mitte März, wenige Tage nach der Konfirmation, schrieb N an seine Mutter in Naumburg:

Liebe Mamma! Es hat mir sehr leid getan, dass ich in diesen Tagen dir wegen vieler Arbeiten nicht habe schreiben können. Diese Zeit ist so mit Repetition [Wiederholung von Lernstoff] angefüllt und außerdem muss ich noch so vieles nachholen. Wie schön war es doch, dass ihr mit mir den heiligen und wichtigen Konfirmationstag feiertet! Ich habe mit großer Rührung die schönen Briefe gelesen; ich denke auch, wenn ich wieder Zeit habe, hoffentlich noch vor den Ferien darauf zu antworten ….. Die Photographie gefällt mir ganz gut, wenn auch die Stellung etwas bucklig, die Füße etwas krumm sind und die Hand eine Art Kloß ist [es ging um die als „Umschlagbild“ zum 1. Band der kritischen Studienausgabe der Briefe in acht Bänden (KGB1) verwendete Fotographie, wo N als typischer Konfirmand etwas verkrampft rechts neben einer Säule mit großer Blumenschale zu sehen ist]. An wen willst du sie alle verschenken? - Das Geld habe ich richtig empfangen; ich danke dir vielemal dafür. Schreib mir doch recht bald, da ich so gern eure Briefe lese und wir uns Sonntag doch nicht sehen können. Viele Grüße an Lisbeth. Lebe recht wohl! Dein FWN.


Fünfzehn Worte zu seiner Konfirmation! Eigentlich waren es nur unmittelbar höchstens sechs. Und wie viel mehr zu der aus dem Anlass entstandenen Photographie, auf der er sich nicht sonderlich gelungen dargestellt fand. Er schrieb dazu:

Die Photographie [an der nicht viel auszusetzen ist] gefällt mir ganz gut [jedoch folgt darauf das „Aber“ in Bezug auf seine Erscheinung:], wenn auch die Stellung etwas bucklig, die Füße etwas krumm sind und die Hand eine Art Kloß ist. [Dazu die besorgt klingende Frage, wer ihn so unvorteilhaft, wie er es empfand, alles zu sehen bekommen würde:] An wen willst du sie alle verschenken?


Das war nun, nach seinen ungeheuren „Konfirmationsillusionen“ vom vorigen Jahr, als Freund Wilhelm „dran“ war, ein Nichts, eine Abwendung, ein Ignorieren und eine Gleichgültigkeit, wie sie kaum deutlicher dokumentiert werden konnte! Dass wesentlich anderes vermuten lassendes Material verloren gegangen wäre, dürfte unwahrscheinlich sein, weil die Schwester gerade dieses, wie etliches andere auch, besonders gut aufbewahrt hätte: Erfahren doch Konfirmationsandenken ganz allgemein besonders pflegliche, auf dauerhafte Bewahrung angelegte Behandlung.


Anfang April erst - nach den Osterferien! - schrieb N dem Onkel, Pfarrer Edmund Oehler, nach Gorenzen:

Lieber Onkel. Auch du hast mich zu meiner Konfirmation mit so herzlichen Glückwünschen begleitet und mit so schönen Gaben beschenkt. Ich sage Dir dafür meinen herzlichen Dank. Dieser ernste und heilige Tag möge mir in meinem ganzen künftigen Leben [denn derlei wollte der liebe Onkel hören!] immer vor der Seele schweben und mich an die feierlichen Gelöbnisse und Bekenntnisse erinnern, die ich damals [vor gut drei Wochen erst, aber hier klang es, als wäre es ewig her!] abgelegt habe! Auch Deine schönen Bücher mögen dazu beigetragen haben, das Gedächtnis an jenen wichtigen Augenblick zu erneuern [auch dabei dürfte die gewählte Vergangenheitsform zu beachten sein!]. Den Hergang der feierlichen Handlung [der für N bereits „abgelegt“ war, denn das war auch ein psychologisch viel verratendes Wort!] will ich Dir mündlich einmal erzählen, denn ich hoffe sehr, dass wir uns nächste Hundstagsferien sehen, wenn auch nicht in Deinem lieben Gorenzen, so gern ich auch dort sein möchte, so doch auf einer gemeinsamen Reise nach Plauen, die Du, wie ich vom Onkel Theobald gehört habe, unternehmen willst. Ich befinde mich jetzt wieder in Pforta, nachdem ich die Ferien in Naumburg wohl verlebt habe. Ich bin jetzt Primus von Untersekunda, hoffe also, Michaeli [29. September] mit nach Obersekunda zu kommen ….. Es dankt Dir und denkt oft an Dich Dein Dich herzlich liebender FWN


Verglichen mit dem Gefühlsüberschwang, den N vor einem Jahr anlässlich der Konfirmation von Wilhelm Pinder aufzubringen in der Lage war, ist die seelische „Ausbeute“ zu seiner eigenen Konfirmation verdächtig mager, zumal es in den nächsten Tagen wegen Glaubensfragen mit der „Mamma“ zusätzlich ernsthaften Zoff geben wird. Es ist von erheblichem Aussagewert, dass es von N zu seiner Konfirmation keine mit seinen zuvor gemachten konfirmationsillusionären Aussagen auch nur entfernt vergleichbaren Worte gibt, - nur Schweigen über einen ernüchternde Realität gewordenen und damit entwerteten „Hergang“, den er verdrängte, - als wäre er eigentlich gar nicht geschehen. Ihn beschäftigten in etwa zu dieser Zeit oder nur wenige Wochen später die Schriften von Karl August von Hase, 1800-1890, Theologe, über das „Leben Jesu“ von 1854 und von Ludwig Andreas Feuerbach, 1804-1872, einem deutschen Philosophen, Religions- und Idealismus-Kritiker über „Das Wesen des Christentums“ aus dem Jahr 1841, wie N dies vor den Sommerferien einem Wunschzettel für den Geburtstag im Oktober anvertraute. BAW1.251.


Das Wenige, was sich, wie oben zitiert, in den Briefen von und an N - und nichts in seinen Notizen! - zu seiner Konfirmation erhalten hat, legt nahe, dass Deussen weit mehr seine eigenen als Ns Empfindungen wiedergab, als er in Fortsetzung seines Berichtes über die Freundschaft mit N schrieb: Indessen hielt eine gewisse Gläubigkeit noch bis über das Abiturexamen hinaus stand. Untergraben wurde dieselbe unmerklich durch die vorzügliche historisch-kritische Methode, mit welcher in Pforta die Alten traktiert wurden und die sich dann ganz von selbst auf das biblische Gebiet übertrug, wie denn z.B. Steinhart [1801-1872, Altsprachenlehrer in Pforta] im Hebräischen in Prima den 45. Psalm durchaus als ein weltliches Hochzeitlied erklärte PDE.4 [aber das wäre noch einige Jahre hin und dessen hat N nicht bedurft, um vom Glauben der Väter abzufallen. Er war - gefühlsmäßig! - auch ohne „geistig-wissenschaftliche“ Hilfe darüber bereits „hinweg“. Erst einmal ging es darum, im Herbst nach „nach Obersekunda zu kommen“.]


Unmittelbar anschließend an das Konfirmationserlebnis berichtete Deussen:

Während der ganzen Zeit in Schulpforta blieb die engere Freundschaft mit N bestehen, wenn auch nicht ohne vorübergehende Erschütterungen. Noch in Untersekunda [also irgendwann von Herbst 1860 bis Herbst 1861, aller Wahrscheinlichkeit um die Konfirmationszeit herum] bildete sich eine sogenannte forsche Clique, in der man rauchte, trank und Fleißigsein als unehrenhaftes Strebertum verurteilte. Auch wir wurden in ihre Netze gezogen, dadurch den andern näher und voneinander etwas weiter abgebracht. Für die Macht dieser Vorurteile mag ein Beispiel dienen. Wir hatten sonntagnachmittags von 2 bis 3 Uhr Arbeitsstunde für solche, welche den Nachmittagsgottesdienst nicht besuchen wollten [und zu denen N gehörte, - derzeit wegen einem offensichtlich nachlassenden Interesse an Gott].

Ich las gerade im Livius [Titus Livius, 59 v. C. - 17 n. C., ein römischer Historiker und Deussen las - „auf Lateinisch“ natürlich] den Übergang Hannibals über die Alpen und war davon so gefesselt, dass ich, als die Freistunde schlug und die andern ins Freie eilten, noch eine Weile zu lesen fortfuhr. Da kommt N herein, um mich abzuholen, ertappt mich über dem Livius und hält mir eine strenge Strafpredigt: „Also so treibst Du es und das sind die Mittel und Wege, welche Du in Anwendung bringst, um Deine Kameraden zu überflügeln und Dich bei den Lehrern in Gunst zu setzen! Nun, die andern werden es Dir wohl noch deutlicher sagen.“ PDL.70f u. PDE.4f

Was hatte der so sehr für die Selbständigkeit gepriesene N plötzlich mit „den Anderen“ derart innig zu schaffen?

Beschämt gestand ich mein Unrecht [das ja gar keines war] ein und war schwach genug, N zu bitten, den andern gegenüber das Vorkommnis zu verschweigen, was er versprach und auch gehalten hat. Aus jener Clique ging nach ihrem Zerfall eine Art Dreibund hervor zwischen N, mir und einem gewissen [Guido] Meyer, welcher schön, liebenswürdig und witzig, auch ein vorzüglicher Zeichner von Karikaturen war, aber mit Lehrern und Schulordnung in ewigem Kampfe lag. Noch in Obersekunda [es war in der Mitte von Unterprima] musste er abgehen. N und ich geleiteten ihn bis ans Tor und kehrten wehmütig um, nachdem er auf der Kösener Landstraße unseren Blicken entschwunden war. Dieser Meyer also war bis zu seinem Abgange [Anfang März 1863] im Jahr 1862 der dritte in unserm Bunde. Freilich musste ich mit Schmerz bemerken, dass dasjenige, was ich an N suchte und schätzte, sich sehr wenig vertrug mit dem, wozu Meyer ihn hinüberzuziehen bestrebt war. Dies ging so weit, dass die beiden eine Zeitlang meiner überdrüssig wurden und, ohne dass etwas Besonderes vorgekommen wäre, mit mir brachen. PDL.71 u. PDE.5


Hierzu gibt es in Pforta, wo keiner dem andern aus dem Wege gehen kann, das in seiner Art wertvolle und zweckmäßige Mittel des Tollseins. Man erklärt sich mit jemandem für toll, d.h. man betrachtet es als einen Ehrenpunkt, mit ihm nie und nirgends und unter keinen Umständen ein Wort zu sprechen. Wertvoll nannte ich dieses Mittel, weil es Schlimmeres, z.B. Raufereien und dergleichen verhütete. N und Meyer waren also toll mit mir. Sechs Wochen dauerte diese schwere Zeit und mit Freuden begrüßte ich die ersten Symptome einer Annäherung von der anderen Seite. Ich trieb ….. Italienisch, was nur dadurch möglich war, dass wir eine Stunde früher als die Anderen, also statt 6 schon um 5 Uhr aufstanden. Dies wurde natürlich als Strebertum vielfach verurteilt und bespöttelt. Meyer machte, wenn ich nicht irre, damals ein Spottgedicht auf mich, in welchem es hieß: Des Morgens früh beim ersten Grauen, Wenn alles noch im Schlaf sich wiegt, Da kann man schon den Spießer schauen, Wie er vom Schlafsaal runterkriecht, usw.

„Spießer“ (vielleicht verwandt mit Spießbürger [kleinlich denkender, engstirniger Mensch, ein studentisches Schimpfwort, eigentlich der mit dem Spieß bewaffnete, zu Fuß kämpfende Bürger; den abschätzigen Sinn erhielt das Wort durch den schlechten Ruf, den in älterer Zeit Landsknechte und Soldaten genossen]) ist in Pforta ein Scheltwort für solche, welche das Arbeiten in tadelnswerter Weise übertreiben. In dieser Zeit saß ich eines Abends kurz vor acht auf dem Korridor in der Nähe der Schulglocke und beobachtete die Uhr. Unter den auf und ab spazierenden waren auch N und Meyer. Plötzlich machten sie vor mir Halt und fragten „che ora è?“ [auf Italienisch: „Wie spät ist es?“] Überrascht antwortete ich „Otto ore, in tre minuti“ [Acht Uhr, in drei Minuten, was völlig richtig war], und lachend ziehen die beiden weiter [denn sie schienen tre minute verstanden zu haben, was Deussen sich nicht erklären konnte - und deshalb meinte:], indem sie darüber spotten, dass ich minuti [?] gesagt habe, da doch die Minute weiblichen Geschlechts sei PDL.71f u PDE.6f [aber nicht im Italienischen, was Deussens eigener Fehler dabei war. So irrten sie beide in diesen trivialen Belangen].

Natürlich trachtete ich nach Revanche. An einem der nächsten Tage wurde in der Klasse bei [Lehrer] Steinhart Virgil erklärt [70-19 v. C., einer der bedeutendsten römischen Dichter, Verfasser der unvollendet gebliebenen „Aeneis“, ein Versepos in zwölf Büchern mit insgesamt etwa 10.000 hexametrischen Versen über die Flucht des Äneas aus dem brennenden Troja und seine Irrfahrten, die ihn nach Latium führen, wo er zum Stammvater der Römer wird]. N erhob sich und gab [aufgepasst nun, denn das war für N typisch!] eine jener verwegenen Konjekturen [Vermutungen] zum Besten, welche nicht nur die Überlieferung, sondern auch den

Autor selbst zu verbessern bemüht sind [eine bemerkenswerte Äußerung über ein zutiefst N-typisches Wesensmerkmal und Verhalten, das er nie abgelegt hat und das immer wieder als seine Besserwisserei in jeder Beziehung in sein „philosophisches“ Schaffen drang, weil dies ein tief in ihm sitzender Bestandteil seiner „herrscheramtlichen“ Lebenseinstellung war, die sich schon bei dem 16-jährigen so auffällig und deshalb von Deussen treffend charakterisiert, bemerkbar machte]. Steinhart [der Lehrer] widerlegte in längerer lateinischer Rede Ns Einfall und fragte zuletzt, ob noch jemand dazu das Wort wünsche, worauf ich mich erhob und sagte „Nietzschius erravit, neque coniectura probanda est.“ [Nietzsche hat geirrt, eine Vermutung, die nicht bewiesen werden muss.] Steinhart schmunzelte und die Klasse lachte über diesen improvisierten Hexameter ….. PDL.72 u. PDE.6f


Nach diesem Vorgeplänkel [mit der italienischen Frage nach der Uhrzeit und dem schlagfertigen Hexameter] erfolgte eines Abends die Austragung des Streites. Zufällig trafen die beiden Parteien und einige Unbeteiligte in einer Stube [von den insgesamt 15 vorhandenen] zusammen. Anzügliche Redensarten erfolgten von beiden Seiten, ohne direkt an den Gegner gerichtet zu sein. Vielmehr wurde einer der unbeteiligt und ruhig Dasitzenden mehr und mehr der Mittelsmann, an den beide Teile ihre Beschwerden richteten, gleich als ob er sie dem Gegner überbringen sollte, der doch alles unmittelbar hörte und auch sofort darauf replizierte. „Sagen Sie zu N“ usw., „Sagen Sie zu Deusen“ usw., „Sagen Sie zu Meyer“ usw. - mit diesen Worten begannen die Vorwürfe, die man dem andern zu machen hatte. Immer lebhafter wurde die Wechselrede, bis man endlich die Fiktion, dass man zu dem Mittelsmann redete, fallen ließ und das Wort direkt an den Gegner richtete, womit der Bann des Tollseins gebrochen war. Es folgte nun von beiden Seiten eine gründliche Aussprache und als Ergebnis derselben die definitive Versöhnung. PDL.72f u. PDE.7


Der zur Lehrerschaft reichlich quer liegende Guido Meyer hatte offensichtlich Einfluss auf N, wohingegen sonst immer der Einfluss Ns auf andere zur Debatte stand oder der einsame N als der bewunderte, ach so allein fliegende Adler gepriesen wurde. Dass N in der Zeit um seine Konfirmation allem Anschein nach offiziell nicht am Gottesdienst teilnahm und sich den Aufsässigkeiten oder Kritikereien Meyers annäherte oder sogar anschloss, also auch ein selbst in ihm schlummerndes „Rudelverhalten“ zeigte und daran Gefallen fand, könnte als eine recht weit greifende Verlagerung seiner „Interessen“ und Neigungen durchaus mit den mageren Anzeichen seines besonders gering ausgefallenen „Konfirmationserfülltsein“ zusammenhängen.

Überdies gab es während der Osterferien Knatsch und Zoff mit der Mutter, da N sich ihr gegenüber - wohl unüberlegt - zu gläubigkeitskritischen Äußerungen à la Guido Meyer hatte hinreißen lassen, denn in einem nur mit „April 1861“ datierten Brief an die Mutter, wohl um die Mitte des Monats geschrieben und auch von dem sonst alles wissende Paul Janz in seiner N-Biographie mit einiger Ratlosigkeit bedacht, heißt es:

Liebe Mamma! Es freut mich ungemein, dass ihr [die Mutter mit der Schwester] wieder zurückgekehrt seid. Ich habe Tag zu Tag darauf gewartet; denn wir haben uns seit den Ferien [was höchstens die Frist von einer Woche ausgemacht haben dürfte] noch nicht wieder gesehen und das ist eine lange Zeit. Dass es euch so wohl gefallen hat, ist mir sehr lieb; ich wäre sogar gern mitgereist, da ich noch nie in Maßnitz gewesen bin [Luftlinienentfernung von Naumburg aus gen Osten knapp 30 km]. Herzlichen Dank für alle Grüße der lieben Großmama und Verwandten! Was mich anbelangt, so ist mein Befinden nicht das beste, da mein Schnupfen sehr zugenommen hat, auch mein Husten mir unangenehm fällt [aber ohne Kopfschmerzen verlief, was auf einen nicht unbedingten Zusammenhang der Kopfschmerzen mit Erkältungen hinweisen würde]. Nun das wird alles schwinden, wenn erst die Witterung schöner und die Tage sonniger werden [auch dies blieb ein lebenslanger Glaube und ewig aufgerufener Hoffnungsschimmer in Ns Existenz: Die Gleichsetzung von Gesundheit, d.h. Schmerzfreiheit mit schönem Wetter!]. Habt ihr mir denn meinen Don Juan mitgebracht [ein in der europäischen Literatur vielfach thematisierter Archetypus des Frauenhelden, zu dem nicht konkret gesagt werden kann, welchen der vielen N hier speziell gemeint haben könnte]? Schicke mir ihn ja mit der nächsten Kiste, die ich euch morgen senden werde! …..

Nach einige beiläufigen Informationen kam dann die eigentlich wichtige Stelle:

Nun noch, liebe Mamma, ein Wort mit dir allein. Auch mir erscheinen jene sonst so schönen Osterferien [Ostersonntag fiel auf den letzten Tag im März] durch die hässlichen Vorfälle [von denen auffallend beflissentlich von allen Seiten vermieden wurde, sie direkt zu benennen und damit zu wiederholen!] getrübt und verfinstert und es berührt mich, so oft ich daran denke, sehr schmerzlich, dass ich Dich so betrübt habe [höchstwahrscheinlich in dem empfindlichen „Punkt“ ihres durch nichts zu erschütternden und oft das Lächerliche streifenden Glaubens, woran despektierlich zu rühren sicher besonders schwerwiegend war, was eben - um eine Wiederholung von solchem zu vermeiden! - auch nicht noch einmal konkret benannt werden durfte]. Ich bitte Dich recht herzlich um Verzeihung liebe Mamma! Denn es wäre doch traurig, wenn ich durch diesen Missklang unser schönes gegenseitiges Verhältnis gestört hätte. Verzeihe mir doch ja liebe Mamma, aber dann bitte ich dich [wie schon der Vater Unliebsames verdrängte!], nie mehr dieser Ereignisse zu gedenken, sondern sie als ungeschehen zu betrachten. Ich will mich fernerhin auch [mit dem kleinen Vorbehalt:] so sehr ich kann, bemühen, durch mein Betragen und Liebe zu dir den verursachten Riss auszufüllen. Schreib mir noch einmal darüber, liebe Mamma! - Grüße Lisbeth vielemal von mir. Ich möchte sie so gern wiedersehen, hoffentlich doch Sonntag 4-6 [am Nachmittag] in Almrich! Dein dich herzlich liebender Fritz.


Ein Brief, in dem die Mutter N auf seine Entschuldigung hin geantwortet hätte, ist nicht erhalten. Der nächstfolgende Brief Ns legt nahe, dass die Angelegenheit beim vorgeschlagenen Treffen in Almrich bereinigt wurde. Fortan allerdings gab es von N keine Gläubigkeitsäußerungen mehr, keine Anrufungen des Herrn, keine Gelübde auf den Gebenedeiten, ihm zu dienen oder was dergleichen mehr sein konnte in einer nun einmal zum Schwärmen veranlagten Seele. Wenn es fürderhin dazu kam, dass höhere Mächte anzurufen waren, so boten sich dazu „Dämonen“ an. Und noch etwas wurde verändert: Ab Anfang Mai, also ungefähr zwei Wochen später, stellte N die Anrede „Mamma“ ein und schrieb ab da „Liebe Mutter!“, was vielleicht nicht allzu viel, aber immerhin doch eine gewisse Distanzierung zu bedeuten hat, bis dies, nach Jahresfrist etwa, wieder aufgehoben wurde.


Was im Einzelnen passiert war, ist unklar geblieben; - klar ist nur, dass etwas zwischen ihm und der Mutter vorgefallen war. Und das aus dem gleiche Grund, der N veranlasst hat, vom Pfade des Gottes der Väter abzuweichen. Es lag in seinem widerspruchseifrigen Naturell und an dieses gebunden war es nur eine Frage der Zeit, wann es passieren würde oder passieren musste und entspricht Ns künftig genauso reagierendem - zur Gewohnheit gewordenem! - Verhalten, wie es Deussen früh aufgefallen war und wie jener es treffend beschrieben hatte: Indem er sagte, dass N dazu neigte „verwegene Konjekturen [Vermutungen] zum besten“ zu geben und „nicht nur die Überlieferung, sondern auch den Autor selbst zu verbessern“. Eine Neigung, die er künftig jedem gegenüber - auch gegen die gesamte geistig-moralische Tradition des Abendlandes! - ausleben sollte.


Die Zeit der Erfüllung christlicher „Normen“ war für N - ab etwas nach Ostern 1861 herum - so gut wie vorbei, - und für seine ersten unbedacht nach außen gedrungenen Anzeichen in diese Denk-Richtung hatte er zu Hause kräftig eins auf die Finger bekommen. So dürfte diese österliche Meinungsverschiedenheit mit der Mutter etwa zu deuten sein. Den Höhepunkt seiner illusionären Lust an christlicher Ergebenheit hatte er im Jahr zuvor überschritten und folglich war die ernüchterte Abwendung unausweichlich. Eine selbstkritisch geführte Auseinandersetzung mit dem „Problem“ fand allerdings auch in seinen persönlichen - für und vor sich selbst! - gemachten Aufzeichnungen nicht statt. Ns Gefühlslage hatte sich - im Zuge der Pubertät mit veränderten Hormonpegeln! - gewandelt! Sie stand von nun an eher in Meyers Anhängerschaft, auf der Basis einer kritisch verbessernden Betrachtungsweise des Weltgeschehens. Was N in schwärmerischen Empfindungs-Visionen gegenüber Wilhelm Pinder zu dessen Konfirmation vor einem Jahr noch selbst hatte erleben, d.h. bei ihm vor allem fühlen wollte, hatte sich in der „Realität“ als unerreichbar und vor allem über den „Moment“ hinaus als nicht „haltbar genug“ erwiesen und war damit „erledigt“, abgelegt, unbrauchbar, abgetan! Er musste sich neuen, unbewiesenen und unverbrauchten Illusionen zuwenden. Dergleichen hat er dann mit seiner anbetenden Verherrlichung Schopenhauers und auch Wagners wieder erleben müssen, nach gleicher, hier gewissermaßen vorgegebener „Regel“. Doch vorher passierte ihm noch der Eintritt Emersons in sein Bewusstsein und das sollte etwas ganz Anderes, ihn nämlich körperlich viel Treffenderes gewesen sein! Doch davon zur angemessenen Zeit der sommerlichen Ferienreise.


Im nächsten Brief an die Mutter, Ende April 1861, schrieb N noch:

Liebe Mamma [und für ein Jahr lang ist es einer der letzten Briefe, die Mutter so vertraut anzusprechen]. Es war doch gestern wunderhübsch in Almrich; wenn wir uns nur längere Zeit hätten sprechen können; die Zeit ist mir allzu schnell vergangen. Aber ich denke mich nächstens einmal loszumachen, damit ich auch wieder einmal [im ihm eigentlich unbekannten] zu Hause sein kann. Ich schicke euch heute meine Kiste; sendet sie mir sehr bald wieder; mir fehlt immer noch mein Stiefelknecht. Dann sendet mir meine Lebensbeschreibung, die in dem grünen Kasten liegt; ich brauche sie jetzt zu einer [neu?] anzufertigenden Lebensbeschreibung [was Zufall sein könnte! Dennoch scheint es bedenkenswert, dass N in der Phase der Abkehr von „alten Gewohnheiten“ zuerst einmal geneigt war, seine Selbstbespiegelung im neugewonnenen Licht zu üben; - was ja nicht mit Selbstkritik zu verwechseln ist!]. Auch meine Wäsche sendet mir gleich mit, besonders Taschentücher, da mein Schnupfen sonst gar nicht aufhört. Dann auch das versprochene Geld; auch meine Zahnbürste ist mir fortgekommen. Ich weiß nicht, wohin sie sein mag. - Nun weiß ich eigentlich nicht mehr recht, was ich schreiben soll. Wir haben uns ja gestern alles mitgeteilt ….. Noch eine Bitte: Ich habe gar kein Notenpapier in Pforta! Holt mir welches von Merzyn, groß und recht englinig. Sendet es mir auch mit heraus! Dein FWN

So strich der Alltag des Lebens mit allerlei Bedarf auch schwierige Lebensphasen einebnend dahin.


Nachdem Gustav Krug seinen Freunden bereits im März „einen Vortrag über »einige Szenen von Tristan und Isolde«“ J1.90 gehalten hatte, schrieb er an N am 15. April 1861 aus Naumburg:

Lieber Fritz! Vielen Dank für Deinen Brief, der mich zur rechten Zeit mahnt, wieder ein paar Worte an Dich zu richten ….. Gleich am Ende der Ferien schickte ich Tristan und Isolde wieder zurück, von dem Du leider ungefähr nur [am Klavier vorgetragen!] die Hälfte gehört hast. Gerade der 2te und 3te Akt sind wunderschön, obgleich der 2te anfangs nicht recht verständlich ist und etwas ermüdet. Bei mehrmaligem Hören aber erkennt man erst die großen Schönheiten und man könnte wohl sagen, dass der 2te Akt den Kulminationspunkt der Oper bildet. Ich hoffe mit Dir Tristan und Isolde in Weimar zu hören, wie ich glaube auf der Tonkünstlerversammlung, die der neuesten musikalischen Zeitung zufolge vom 3.-8. August in Weimar stattfinden wird ….. [daraus aber ist nichts geworden.]

Ich habe mit unserem Musikalienankauf eine Änderung getroffen, die hoffentlich Deine Billigung erhalten wird, ich habe nämlich die vierhändige Einleitung zu Tristan meinem Papa überlassen und daher nur 1 Taler 10 Sgr [Silbergroschen] verbraucht, das übrige Geld kann ich, wenn Du Noten ankaufst noch dazu geben, damit wir etwas mehr bekommen und nicht auf 1 Taler und 15 Sgr beschränkt sind ….. nächstens erscheint nämlich die Faust-Symphonie von Liszt in Leipzig bei Schubert in Partitur und 2- und 4-händigem Arrangement (der Preis ist noch nicht bestimmt, ich werde ihn Dir, wenn ich wieder an Dich schreibe, berichten) …..

Da ich einmal bei Faust bin ….. Jedenfalls werde ich meinen Faust nicht in mehrere Teile teilen [wie Liszt es in seiner Faustsymphonie tat] ….. sondern ich werde [bei eigenem Komponieren!] die 3 Hauptpersonen in Berührung mit einander bringen, je nach dem es die Handlung mit sich bringt, ohne mich jedoch nach Goethe zu viel zu richten ….. Deinen Plan das Werk [Ns „Weihnachtsoratorium“] mit einer Fuge zu schließen billige ich und ziehe es dem Tode der 12 Könige vor, weil erstens, wie Du selber richtig bemerkst, dieser Schluss für ein so freudenreiches Oratorium nicht geeignet sei und zweitens der Tod der Könige nicht recht zum Ganzen passt und doch nur eine Nebensache ist. Ich rate Dir aber nicht gar zu viel Fugen anzubringen, da dies leicht ermüdet und oft einen trockenen Eindruck macht. Verarbeite lieber die Themen recht geschickt und bringe nur manchmal ein Fugato [ein Musikstück mit fugenartigem Anfang] an. Am Schluss jedoch ist eine freie große Fuge am rechten Platz und macht [wie von N immer gewünscht!] einen großen erhabenen Eindruck. Ich will den Statuten unserer Germania gemäß einige Musikalien nennen …..


Gustavs Krugs, wie auch Wilhelm Pinders Briefe unterscheiden sich von denen Ns grundsätzlich durch die überall durchscheinende Rücksichtnahme auf Umstände, die sie im Gegensatz zu N in der Wirklichkeit dieser Welt wahrnahmen und dies auch zeigten; - ein Element, das N so gut wie vollständig fehlte. Bei N ging es immer darum, dass die Dinge so wären, wie Er sie sah - die „Fähigkeit“, seine Umwelt unabhängig von sich selbst zu erkennen, besaß er nicht! Er war immer der Gefangene seiner selbst. Auf Veranlassung von Gustav Krug ist da also die erste Begegnung mit Wagners „Tristan“ abgeschlossen und verklungen; - ohne nennenswerte, jedenfalls nicht erhalten gebliebene, Resonanz und Reaktion seitens N. Es wird noch einige Zeit dauern, bis N Wagners „Tristan“ - aber als was? - zu schätzen lernte. In erhalten gebliebenen Briefen erwähnt N Wagners „Tristan“ erstmals im Oktober 1868, - also erst kurz bevor er in Leipzig Richard Wagner durch einen günstigen Zufall persönlich kennenlernen sollte!


Ende Mai schrieb Gustav Krug wieder an N, ein dazwischen liegender Brief Ns an Gustav Krug ist nicht erhalten geblieben:

Lieber Fritz! Vor allem herzlichen Dank für Deinen lieben Brief, der mir alle bisherigen und wieder neue Vorschläge gebracht hat. So viel wir im Voraus bestimmen können, würden Mittwoch und Sonnabend, ersterer als Hauptsynodentag [der „Germania“] und letzterer als Stiftungsfest für unsere Verhältnisse ganz passend sein, also mag es vorläufig bei diesem Beschluss verbleiben. Was das Einbinden der Aufsätze, Übersetzungen etc. betrifft, so sind wir damit einverstanden, es kann dieses ja mit in die Bibliothek aufgenommen werden, über deren Gründung wir uns in den Ferien näher besprechen wollen ….. [N war also organisatorisch in Anspruch genommen, das „Germania“-Forum als Bühne für seine Selbstdarstellung auf „Schulgesetzliche“ Weise zu stabilisieren].


Anfang Juni 1861 schrieb N seiner Mutter in Naumburg:

Liebe Mutter! Das war doch betrübend, dass dieser unselige Regenguss unsre Übereinkunft so zunichte macht; ich hatte mich so sehr auf den Spaziergang gefreut. Da werden wir uns wohl auf den Sonntag vertrösten müssen ….. Du glaubst gar nicht, wie ich mich auf die Hundstage [die Sommerferien] freue. Noch sind es 25 Tage, dann ist die köstliche Zeit da. Macht mir nur wieder das Stübchen zurecht, die ersten 8 Tage wird es doch nicht vermietet sein. Ich gedenke in den Tagen wo ich in Naumburg bin, nach einem bestimmten Plane meine Studien und Vergnügungen einzurichten. Es ist hübsch kühl in der Stube; ein Tisch, ein Stuhl und ein Bücherkasten ist genug Möbel, ans Fenster ein paar Blumen des Geruches halber, einen Krug Wasser der Erfrischung halber, meine Uhr, Stöße von Schriften und Noten usw.; so denke ich mir meinen schönen Aufenthalt. Sofern ich nur hinreichend Geld habe, so will ich mich auch durch Reisen ergötzen ….. Viel soll jedenfalls in den Ferien geschehen, auch eine Fußreise mit Wilhelm [Pinder] von zwei Tagen ohne bestimmtes Ziel; das wird was Herrliches. Nun genug von den Ferien. Schicke mir doch bald die Kiste mit den weißen Hosen, ich brauche sie nötig ….. Kannst du mir nicht einmal so was Genießbares, wie so ein Küchelchen schicken? …..


Ein Bücherwurm der gerne spazieren geht. Er liebte es, „Stöße von Schriften und Noten“ in seinem „Stübchen“ um sich zu haben, ansonsten karge Möblierung und die Möglichkeit ungehindert herumzuspazieren. Ein Leben lang wird er bei dieser Lebensform bleiben. So fieberte er jetzt dem noch gut 3 Wochen entfernten Beginn der Sommerferien entgegen. Die ersten Tage gedachte er „zu Hause“ in Naumburg zu bleiben, doch dann wollte er eine Reise machen. Und das sollte eine Reise werden, die es derart in sich hatte dass die Folgen daraus sein ganzes Leben bestimmten.


Folgt man möglichst genau den vielen ge- und vermischten Eintragungen in dem zu Ostern neu angelegten kleinen braunen Notizbuch - nach dem darin deutlich als Überschrift angebrachten Wort „Juliferien“ - dann kommt, wenn man das Ganze sorgsam auseinandersortiert in den schnitzelartigen Andeutungen und Worten doch ein wenig zutage, was in Ns Kopf vor sich ging: Da steht nämlich jedes für sich in einer Zeile:


„Tagebuch führen. Komposition für Orgel Weihnacht Karfreitag Ostern Bußtag. BAW1.249


Hat N ernsthaft in den Ferien passend für all diese Feiertage die Komposition von Orgelwerken geplant? Und dafür auch kirchengeschichtliche Kenntnisse in Hinsicht auf die tiefere Bedeutung und Herkunft dieser Feiertage gewinnen wollen? Denn direkt damit verbunden findet sich der Eintrag: „Deutsch: Kurzes Lehrbuch der Kirchengeschichte für Studierende.“ BAW1.249


Darauf folgt ein Gedicht aus drei achtzeiligen Strophen die sich auf den Tabak schnupfenden Freund Paul Deussen beziehen. Daran anschließend gibt es eine neue Überschrift im Stil der „Juliferien“; diese lautet jetzt „Bibliothek“: Darunter listete N in sieben Zeilen wohl einige seiner eigenen Bücher auf, nur sehr kurz jeweils nur Autor oder Titel. Darauf folgt eine Reihe von Ortsnamen die auf der Landkarte „himmelsrichtungsmäßig“ ein wildes Durcheinander ergeben, aber wohl als konkrete Angaben zur „Sommerreise“ während der Juliferien zu deuten wären. Aufgeführt sind zu berührende Orte und Städte, ausgehend von Plauen, wo es väterliche Verwandtschaft gab, bis hinunter nach Bamberg; - darüber hinaus, noch weiter südlich gelegen, Nürnberg, fand noch keine Erwähnung! Dann folgt eine Kostenangabe für die Strecke „Neuenmarkt - Bayreuth“, rund 23 km. Danach finden sich Vermerke zu 4 Autoren, wieder mit Preisen: „Byrons Werke, übersetzt von Mehreren [verschiedenen], 12 [dünnere] Bände mit Stahlstichen [mit Preisen für einfach bzw.] „elegant gebunden“; „Hölderlin“, „Dante“ in verschiedenen Übersetzungen und „P[aul] Heyse Francesca von Rimini. Tragödie“ [auch mit Preis]. BAW1.249-251


Darauf folgt - bis in den Oktober hinein vorausgreifend! - eine neue Überschrift „Geburtstagszettel.“, mit etlichen Bücherwünschen, unter anderem „Hase, Leben Jesu 1854“ und „Feuerbach Wesen des Christentums“ sowie dessen „Gedanken über Tod und Unsterblichkeit“; was zumeist von recht religionskritischem Inhalt war. Danach weitere Titel zu wahrscheinlich gewünschten Noten und Büchern und nach weiteren Eintragungen zu Tagestätigkeiten - diesmal während der Stunden von morgens 5 bis abends 10 - wieder mal ein Gedicht, neun Zeilen, etwas mit Bezug auf den Nürnberger Dichter-Schuster Hans Sachs, - was mit Richard Wagners „Meistersingern“ allerdings nichts zu tun haben kann, da Wagners Textbuch erst im Jahr 1862 fertig gestellt wurde. Es ist aber ein Verweis auf Nürnberg gewesen. BAW1.251f


Obgleich Nürnberg noch nicht als der zu erwartende Höhepunkt dieser Reise genannt worden war, gerieten immer mehr Nürnberger Element in die Eintragungen, die sicherlich für den Urlaub gemacht worden waren. Es gibt einige Worte, mehr wohl Namen, die N als wichtig ansah: Sie lauten „Lorch“, „Jaeger“ und „Hempel“. Das wird einem Reiseführer entnommen sein. Bei dem Ersten handelt es sich gegebenenfalls um den Nürnberger Maler, Kupferstecher und Holzschneider Melchior Lorichs (1527-1583), bei den Anderen um eher nur lokal bekannte Künstler; - deren Werken Beachtung zu schenken sei? Darunter steht nämlich noch „Dürer“ und dazu - offensichtlich ohne etwas Weiteres mit diesem Namen zu verbinden - die recht unbeholfene Bemerkung: „Das ist einmal ein künstlerischer Mann gewesen“. BAW1.252


Danach folgt, in die Zeilenmitte gerückt, das Wort „Engel“ mit einer Skizze dazu und dann:

„Lazarius Luther Die Verklärung“. Das dürften Schlagworte zu Bildern sein - von Dürer? oder von Anderen? Und darunter, wieder in die Mitte gerückt, wie bei „Juliferien“, „Bibliothek“, „Geburtstagszettel“ und „Engel“, - diesmal:


„Für die Ferien.“ - gefolgt von zwanzig Zeilen zumeist in kürzesten Stichworten Notizen, sehr gemischt in Bezug auf Bücher, Noten, Papier, Autoren, Titel und/oder Sonstiges; - abgeschlossen mit einem quer über die Seite gezogenen Strich. Bei den Zeilen darunter handelt es sich um nichts prinzipiell Neues sondern wiederum um wahrscheinlich drei Gedichttitel; - und wieder ein langer Strich. BAW1.253 Darunter dann - fünf an der Zahl - Gemäldebezeichnungen, gefolgt von dem Wort „Kaiserstübchen“ - ein im damaligen Nürnberg nicht auszulassendes, sehenswertes Kleinod im spätgotischen „Scheuerlberger Haus“ in der Burgstraße 10, in welchem deutsche Kaiser, namentlich Kaiser Maximilian I. (1486) zu Gast waren. - Das Ganze wurde Anfang 1945 als natürliche Folge des den Deutschen angekommenen Größenwahns mit allem Inventar restlos in Schutt und Asche gelegt und vernichtet.


Darunter wiederum steht dann, auch eindeutig auf Nürnberg bezogen, was N wohl ebenfalls für besichtigenswert hielt:

Museum Sebaldusgrab von Vischer [ein von drei zierlichen gotischen Gewölbebögen überdachter Sarkophag, in der Sebalduskirche], Station Grablegung von Kraft [Szene in einem Relief des Steinbildhauers Adam Kraft, 1455/60-1509, dem bedeutendsten Bildhauer seiner Zeit, berühmt für die gemütstiefen Darstellungen seiner der bürgerlichen Lebenswelt entnommenen Figuren in Darstellungen biblischer Szenen, wie auch den folgenden, welche N sich in Nürnberg an verschiedenen Orten anzusehen gedachte.] Das schreiersche Monument von Kraft Das Abendmahl von Kraft Der Verrat von Kraft Ölberg von Kraft (wundervoller Jesus) BAW1.253f


Darauf folgt wieder einmal ein Strich quer über die Seite, als käme nun etwas grundsätzlich Anderes; - aber es geht herkömmlich im schwer zu deutenden Durcheinander fort mit der Merkpostenzeile „Rathhaussaal hof“, sicherlich übernommen aus „Reiseführern“, deren es viele gab und deren Hilfe N, auch später, gerne in Anspruch nahm: Der Historische Rathaussaal, erbaut 1332 bis 1340, ist der bedeutendste Bauteil des Alten Rathauses in Nürnberg. Knapp 40 Meter lang und 12 Meter breit. Zur Zeit seiner Entstehung galt er als der größte profane Saal nördlich der Alpen und war als ein anzusehendes „Muss“ mit Sicherheit im Reiseführer vermerkt.


Diesem Eintrag folgt unvermittelt ein 30 Zeilen langes Gedicht mit sich wiederholenden Reimen, zu dem das Namens-Register nahelegt, es würde sich um einen Mitschüler in Pforta handeln:

O Engelmann o Engelmann So seht doch mal den Bengel an ….. und so weiter, man würde auf Kinderreime schließen. Von N selber verfasst? Eine Abschrift von irgendwoher? Etwas mit volkstümlichem Hintergrund? Auf einen Mitschüler gemünzt, mitten in Nürnberg? Aber aus Nürnberg? Aus dem Reiseführer? Sechs Strophen bemerkenswert banalen, zum Teil antisemitischen bzw. recht derben Inhalts. Warum notierte sich N diese Zeilen in aller Ausführlichkeit? Weil sie ihm gefielen? Weil er sie für bedeutsam hielt? Irgendetwas musste ihn zu der Mühe, sie aufzuschreiben, veranlasst haben! - Danach folgen wieder - in Fortsetzung dessen, was er vor den 6 Versen notiert hatte! - Merkposten zu Nürnberger Künstlern und ihren in Augenschein zu nehmenden - oder schon in Augenschein genommenen? - Werken. BAW1.254f

Unter dem nur läppisch zu nennenden Gedicht steht, chaotisch wie alles: „Lazarius“, „wundervolle Gesichter“, „Christus“, „Gott“, „Engel herrlich“, „Jünger“. Das ist mit hoher Wahrscheinlichkeit auf in Nürnberg befindliche Bildinhalte oder plastische Darstellungen bezogen. Dann der Name: „Hans Behaim“, 1455-1538, der bedeutendste Architekt der Spätgotik im Nürnberger Raum. Und darunter nun steht nun endlich:


„Nürnberg“, mit dem wohl auf dieses zu beziehenden Zusatz „erhaben“ darunter. BAW1.255

War er zu dem Zeitpunkt schon dort? Oder noch bei der Planung!


Für seine erste allein zu unternehmende Sommerreise hatte der fast siebzehnjährige N sich also einiges vorgenommen und - allerdings ohne erkennbare Systematik! - Kenntnisse gesammelt! Ob er die Reise in allen Teilen von Plauen aus, wo er mit seinem Onkel Edmund Oehler seit April mehr oder weniger fest verabredet war, wirklich allein unternahm könnte unsicher sein, er hat auch früher schon Begleitpersonen einfach unerwähnt gelassen, - als ob sie gar nicht vorhanden wären. Das Reisevergnügen sollte bei den Verwandten in „Plauen“ beginnen und dann, über das gut 30 km entfernte „Hof“ - mit oder ohne dortigen Aufenthalt? - weitergehen nach dem in der Planung hier nun recht plötzlich und spät erst auftauchenden „Nürnberg“; - nochmals etwa 140 km in Richtung Süden.


An dieser Stelle also erst taucht der Name Nürnberg auf, aber sonderbarerweise so ganz nebenbei und es geht in den Notizen, als wäre nichts weiter geschehen, weiter mit dem Eintrag: „Pirkheimer nach Dürer“: Dabei gemeint war mit ziemlicher Sicherheit ein Bildnis des berühmten Nürnberger Humanisten Willibald Pirckheimer, 1470-1530, gemalt von der Hand seines Freundes, dem berühmten Albrecht Dürer, 1471-1528, Maler, Grafiker und Mathematiker in Nürnberg Danach, diesmal etwas hervorgehoben, denn N hatte es gegenüber dem Nachfolgenden etwas eingerückt, taucht nochmals der Name „Nürnberg“ auf, darunter als Merkposten die Bezeichnungen von einer Reihe von sehenswerten - oder vielleicht bereits schon gesehenen? - Örtlichkeiten:

„Reichsfeste Gemäldesammlung Rathaus S. Lorenzkirche. Selbaldkirche. S. Jakob Dominikanerkirche Bibliothek Ägidienkirche. Melanchtonstatue“. BAW1.255

Philipp Melanchthon, 1497-1560, war Philologe, Philosoph, Humanist und Theologe, Lehrbuchautor, neulateinischer Dichter und wurde als „Praeceptor Germaniae“, Lehrer Deutschlands, sehr bekannt. In Nürnberg gründete er die Obere Schule St. Egidien, die als Schultyp die „Urform“ des deutschen Gymnasiums darstellte.

Darauf folgen, wieder vermischt mit Notizen zu einer Musikalie und einem Buch, mit jeweiligen Preisen, von Ns Hand vier Zeilen eher stimmungshaften Inhalts:

„Rotgesäumte Wolken blaue Berge Waldpartie Hof um Mond“, was ja auf Regen deutet und dann, eher eindeutig längst „unterwegs“ notiert, um eine bestimmte Szene in Erinnerung zu behalten:

Nacht Bahnhof. ältliche Dame mit Kind aus Nürnberg“, was es als immerhin möglich erscheinen lässt, dass die zuvor gebrachten „Stimmungsbilder“ auf Aussichten in die abendliche Landschaft aus dem fahrenden Zug beruhen könnten und dann steht da wieder eine kleine, aber in sich reichlich ungereimte, schwer verständliche „Dichtung“:

„Der Wetterwolken wüster Wald Tiefgrau, mitternächtig, Die Riesenfaust gen Himmel ballt Furchtbar übermächtig.“ BAW1.256 Na ja! Und wieder einmal ein langer Strich darunter, quer über die ganze Seite. Auf diesen folgt nun endlich, wie längst erwartet, etwas ganz Anderes.


Werden die zuletzt genannten Einträge auf der Reise entstanden sein? Eindeutig ja! Denn die Dame und das Kind kommen - sind es aber dieselben? - nach diesem letzten Strich noch einmal vor. N hatte die durchaus aphoristisch zu nennende Angewohnheit, das, was ihm durch den Kopf ging, in knappsten, spindeldürren, knochigen Notaten erst einmal hinzuschreiben. So diente wohl die - auf welchem „Bahnhof“ aber? - beobachtete „ältliche Dame mit Kind“ - und wieso dieses „aus Nürnberg“? - als bemerkenswert festzuhaltende Vorlage zu einer Szene innerhalb eines Berichtes, einer Erzählung gar, die ihm zu schreiben oder nur zu erinnern vorschweben mochte? Allerdings verrät Ns Eintragungswirrwarr bis hierher eine recht verworrene „Methode“ sich zu orientieren oder die Orientierung einigermaßen zu wahren, aber das nebenbei: Was ihm in den Kopf kam und wichtig schien, wurde aufgeschrieben. Ab hier beziehen sich aber nun die nachfolgenden Eintragungen recht geschlossen und in zeitlicher Folge auf das noch nicht lange ins Auge gefasste Ziel der Reise, auf Nürnberg, das nun endgültig einen zentralen Platz in diesen Notizen einnimmt und es liegt am hier wechselnden „Stil“ der Eintragungen, dass die Reise inzwischen - wer aber weiß genau ab welcher zuvor genannten Zeile? - tatsächlich begonnen hatte.


Die Sommerferien vom 1. Juli bis zum 4. August waren - zwischen Ns Notizzeilen gewissermaßen - näher gerückt und unvermittelt sogar zur Tatsächlichkeit geworden. Damit kam auf ihn etwas zu, mit dem er entfernt nicht gerechnet hatte - und auch nicht erwarten konnte, dass überhaupt etwas dermaßen gut und vollkommen zu seinem „Herrscheramt“ Passendes, auf ihn und sein Lebensgefühl Zugeschnittenes überhaupt zukommen könnte: Aber es geschah! Als zufällig sich ereignende Begegnung mit einem Buch oder gar zweien! - Für N fand so gut wie alles Wichtige in seinem Leben durch und in Büchern statt - in Geschriebenem! - Dieses erste und unvergleichliche Mal handelte es sich um ein Buch - oder eben auch zwei! - des amerikanischen „Philosophen“ Ralph Waldo Emerson, 1803-1882: Dessen „Essays“ auf alle Fälle, übersetzt von einem - von einer? - G. Fabricius, - hinter dem Pseudonym verbarg sich nämlich eine Frau, die sich den Namen des protestantischen deutschen Dichters, Historikers und Archäologen Georg Fabricius (1516-1571) wählte, der wiederum eigentlich Goldschmidt hieß. Ihre Emerson-Übersetzung wurde im Jahr 1858 in Hannover herausgegeben. Eine weitere Emerson-Übersetzung von einem E. S. v. Mühlberg, Leipzig, mit der Jahresangabe 1862 und dem Titel „Die Führung des Lebens“ stand unmittelbar bevor oder war vordatiert? - Es gab in Deutschland für den Amerikaner also ein Interesse.


In diesem amerikanischen Schriftsteller, zeitweise auch Prediger, ist N - in Nürnberg! - auf unvorstellbar elementare und existenzielle Weise auf seine künftige „geistige“ Lebensbasis gestoßen und sobald es nur möglich war, gelangte er - spätestens sehr früh im kommenden Jahr 1862 - in den Besitz des dann auf Deutsch verfügbaren weiteren Bandes von dem Amerikaner. Diesen hatte N noch weit vor Ostern des folgenden Jahres


~



Der Pfarrersohn Ralph Waldo Emerson, 1803-1881, hier im Alter von ungefähr 43 Jahren

Als N 1861 seine Infektion mit dessen maßlosen Texten, vorallem den 1858 ins Deutsche übersetzten „Essays“

erlebte, war dieser weit darüber hinausgereift und in weit maßvollere Ansichten und Darstellungen geraten.

Abbildung aus Wikipedia


1862 ebenfalls verschlungen und in- und auswendig, vor und zurück in sich aufgenommen. Weitere Bände von Emerson hatten wegen dem grundsätzlich anderen, danach nämlich nüchterneren, alle Maßlosigkeiten vermeidenden Ton der darin angeschlagen wurde, bei N wenig Gefallen gefunden und blieben weitgehend unbeachtet. Die beiden genannten Bücher aber sollten - dabei mit absoluter Vorrangstellung der „Essays“! - für Ns ganzes Leben wie sich zeigen wird! - zu einer Art Standardliteratur, einem Lebenselixier und zu so etwas wie seiner „Bibel“ werden. Er sah darin eine Form von allerhöchstem „Schulgesetzt“, einem „Lebensgesetzt“ geradezu, das ihn - in fest vorgeschriebenen Bahnen! - in die wie er meinte höchsten Sphären menschlicher Existenz hinein „leiten“ sollte.


Der sich durchaus kritisch verhalten könnende und mit großem Abstand umfassendste N-Biograph - der dennoch das Kunststück bewies, unbeirrter N-Verherrlicher zu bleiben! - Paul Janz - erwähnte „Emerson“ in seiner dreibändigen, rund 2000 Seiten umfassenden Beschreibung von Ns Leben, Werden und Werk - einschließlich in Fußnoten! - gerade Mal auf 12 Seiten! Das ist deutlich weniger oft, als N selber solches mit Emerson tat; dabei hatte er selbst doch stets auf möglichst weit getriebene Geheimhaltung in Angelegenheiten der Existenz und Bedeutung Emersons für sein eigenes Lebenskonzept achtgegeben, was noch zu genaueren Betrachtungen und ausführlichen Kommentaren führen wird. Hier, zur Zeit seiner Sommerreise jedoch, steht N die bei Janz unbeachtet gebliebene, sich aber als unheilbar erweisen sollende Emerson-Infektion unmittelbar bevor! Er lebte nicht mehr nur in Erwartung und Vorbereitung seiner Sommerreise sondern war schon unterwegs - hin zu ihm! - und damit zur Offenbarung seines Lebens, zu der unersetzbaren Erkenntnis, wozu Er hienieden bestimmt sein müsse! - Nicht nur zu einem „Luther“, wie der „liebenswürdigste und sorgsamste“ Verwandte der Mutter vor nunmehr fünf Jahren vorauszusehen gewagt hatte, sondern zu viel, - zu weit, weit mehr!


Wie lange und anhand welcher „Reiseführer“ die konkrete Vorbereitungszeit auf „Nürnberg“ gedauert hatte, lässt sich nicht mehr ermessen, weil schwer gegeneinander abgrenzbar bleibt, was in dem Notizbuch vorbereitende und was tatsächlich während der Reise oder gar danach erst entstandene Einträge sind. Das Folgende aber ist nun eindeutig Bericht über Reiseerlebnisse und Geschautes, also vor Ort Erlebtes! Wenn auch alles von ahnungsweise möglichen Emotionen so frei geblieben ist, wie heutzutage ein klinisch keimfreies Operations-Besteck. Die ab hier dem Büchlein anvertrauten Einträge verraten mit keinem Wort etwas darüber, dass N inzwischen „gesehen“ hatte und davon entsprechend „beeindruckt“ worden wäre. Es gibt, selten zwar, aber doch vorkommende „Extraworte“, die hinausweisen über die allernacktesten aller nackten Fakten:


„Nachtreise. Hof [das lag als Bahnstation eindeutig vor Nürnberg auf dem Weg, den N kam!]. Überfüllung. Unordnung. Unwohl. Bamberg. Besser. Nürnberg. Reisegesellschaft. 2 Sänger 1 dicker Herr, ein stummer Stiller, die Dame mit naseblutendem Kind usw. Ungemütlichkeit“ das letzte Wort war zusammen mit der „Gemütlichkeit“ das für N zu jener Zeit wichtigste Lieblingswort zur Beschreibung des jeweiligen Zustandes seiner Seele.


Diese Eintragungen vermitteln den Eindruck schnappschussartig fixierter, allenfalls schwarzweißer „Momentaufnahmen“ für später vorzunehmende, farbig auszugestaltende „literarische Nutzungen“ oder etwas in der Art. - Weiter geht es mit: „- erster Eindruck der Stadt. Schmids. Höflichkeit der Nürnberger. Ausgehen. Allgemeine Bemerkungen. Festhalle. Probe“ gefolgt von Unleserlichem.


Auf eine Teilnahme Ns - oder doch nur Anwesenheit? - am zweiten „Allgemeinen Deutschen Sängerfest“ vom 21. bis 24. Juli 1861 weisen nur die kargen 5 Buchstaben „Probe“ hin. Unter der Mitwirkung von 283 Gesangsvereinen mit insgesamt etwa 20.000 Sängern - bei ca. 55.000 Einwohnern - verteilten sich die Aufführungen über etliche „Bühnen“ und Veranstaltungsorte der Stadt. Diese Großveranstaltung war eine der wichtigsten politischen Massenveranstaltungen des industriell aufstrebenden Nürnberg im 19. Jahrhundert! Dabei wurde der großen Vergangenheit Nürnbergs gedacht und auch der Wunsch nach der deutschen Einigung und Aufhebung der Kleinstaaterei proklamiert! Zu den Höhepunkten zählte der am 22. Juli über den Hauptmarkt ziehende Sängerfestzug. N aber nahm kaum erkennbar Bezug auf das enorme Ereignis. Er führte dort vor allem sein „Eigenleben“ und nahm von seiner Umwelt außerhalb seiner eigenen Interessenlage und ohne über diese nennenswert hinauszublicken nicht viel wahr. Es heißt in seinen Aufzeichnungen weiter:

„Rückkehr. Aegidienkirche mit prachtvollen Nebenkapellen Dürerbild Jesus auf Gethsemane. Frauenkirche, katholischer Gottesdienst, bunte Fenster.“ Das sind eindeutig Reiseeindrücke, aber Ns Bemerkungen, die gewählten Worte, sie vermitteln nur die alleräußerste Oberfläche. Nichts verrät, auf welche Weise ihn dies oder das Wie und ob überhaupt berührt oder beeindruckt hätte oder auch nur haben könnte. Die Notizen wirken, als hätte ihn die dahinter verborgene Wirklichkeit gar nicht erreichen können.


In der vergleichsweise vielsagenden Heraushebung „zu einer eigenen Zeile“ finden sich dann, bemerkenswert herausgehoben aus allem Anderen, die drei Worte:

„Buchhandlung von Schmidt“ - ohne Zusatz! Allerdings hat die Tatsache des Alleinstehens dieser Worte auf einer ihnen eigens eingeräumten Zeile fraglos etwas zu bedeuten! Diese „Sonderstellung“ weist darauf hin, dass mit ihr ein Erlebnis verbunden war, das N auf deutlich besondere, aber ihm nicht benennbare Weise berührt und in Anspruch genommen hatte - zumindest an aufgewandter Zeit! Ein Aufenthalt in einer Buchhandlung! Für einen Bücherwurm wie N einer war, bedeutete das viel und es dürfte als sicher gelten, dass es um bestimmte, ebenfalls und wohl auch bewusst, weil ihm nahe gehend, ungenannte Bücher, vielleicht auch nur um eines ging. Genaueres wird sich aus anderen, auch „an sich“ nichts weiter hergebenden Eintragungen ergeben. Ns Notizen lauten des Weiteren:

„Mittag, die vier Direktoren [des Musikfestes, - in einem offiziellen Festakt?]. Champagner. Konzert. Blaues Glöckli. lange gesucht. Kapellmeister Tschirch Komponieren. Oper: Meister Martin und seine Gesellen sucht in Nürnberg aufzuführen die Schwäne, Schwanengesang vollendet. komponiert früh, arbeitet in der Nacht aus [was aus dem Zusammenhang gerissene Glanzpunkte einer gehörten Rede an dem Festakt des Sängerfestes sein könnten! Danach folgt:] - Nachtquartier.“


Das Folgende betrifft demnach den zweiten Tag: „Morgen. Stadtweg. Promenade Festhalle. Kaiserstüblein Rathaus. Museum. Schmid [bemerkenswert wäre die unterschiedliche Schreibweise gegenüber der „Buchhandlung“ aber gleichlautend mit der ersten Nennung dieses Namens. Was könnte gemeint sein? Die Wirtsleute nicht! - Dürfte es sich um einen „Anlaufpunkt“ in der Stadt handeln, ein Lokal vielleicht? Eine Konditorei? Eine solche wird ohne die recht bestimmte Bezeichnung „Schmid“ genannt. Könnte es sich am ehesten - trotz unterschiedlicher Schreibweisen? - nicht doch um die von dem Büchernarr N noch einmal aufgesuchte Buchhandlung handeln?] Lorenzkirche. Mittag. Festzug [im Rahmen des Sängerfestes am 22. Juli]. Konditorei [damit fiele Schmid als alias für eine solche eigentlich weg!]. Hans Sachs, Dürer. Glöckel. Schmid [als vierter Anlauf des bereits drei Mal erwähnten Bücherladens!?]. Abendbrot. Bier. Klavier gespielt. Hinweg. Unleserliches Spinnerei. - Nachtblick.“


Ns dritter Tag in Nürnberg schlug sich in folgenden spärlichen Stichworten nieder: „Morgen. Abschied vom Wirt [wohl vom Hausherren eines Privatquartiers und dieser wird schwerlich „Schmid“ geheißen haben, sonst hätte N dies erkennbar werden lassen]. Gang um die Stadt. Junge. Herrn Bulls Freundlichkeit. Auf die Burg. Aussicht. Rathaus. Gesellenstehen. - Schmid [nochmals der Bücherladen? - zum fünften Mal! Mit diesem einzig wiederkehrenden Namen musste es emotional etwas Besonderes auf sich gehabt haben]. Bahnhof. Ausschmückung. Rosenau. Durch die Stadt. Rückreise. Bamberg.“ BAW1.256-257


Zum Besuch des Kaiserstüblein, das in den Stichworten ungenannt geblieben war, hielt er noch ein Gedicht fest, das ihn scheinbar beeindruckt hatte:

Es gingen hier in der Scheurlbergerhaus Als Gast der Kaiser selber ein und aus Wollt er der [Wiener?] Hofburg stolzes Prangen meiden Drum bleibt Nürnberg, was den Fürsten ehrt Doch auch, was hält auf eignen Bürgerwert Sein Kaiserstüblein lieb für alle Zeiten. BAW1.257


Mit den Worten „Rückreise“ und „Bamberg“, das rund 65 km nördlich von Nürnberg liegt, ist wohl Ns erlebtes „Nürnberg in Stichworten“ zu Ende. Nichts an diesen Eintragungen verrät eine Anteilnahme, eine persönliche Regung, Einstellung, Begeisterung, Ablehnung oder sonst irgendetwas: Festgestellte „Fakten“ sind reduziert bis zur Belanglosigkeit. - Maske? Ein Sichverbergen? Bloß nichts verraten über sich selbst? Zurückhaltung? Oder gar nur der unfreiwillige Ausdruck der Unfähigkeit, zu irgendetwas von außen Kommendem angemessen Stellung beziehen zu können? Ein hilfloser Ausdruck der „Gefühlsblindheit“ des Autisten? -


Zumindest verraten Ns Aufzeichnungen, dass er nicht viel von zusätzlichen Worten, von genauerem Festhalten und Beschreiben des Erlebten hielt: Vielleicht weil sich „im Erleben“ alles genau genug einbrannte in ihn, so dass er, sich erinnernd, auf überflüssige Worte nicht angewiesen war? - Vielleicht auch, weil er kein Verlangen verspürte, das, was ihn wirklich beeindruckt hatte, nach seinem was und wie nach außen hin - und damit auch zu einem Teil vor sich selbst! - kenntlich werden zu lassen? Offensichtlich genügten die wenigen Worte seiner recht weit gehend autistisch veranlagten Natur, das Erlebte in ihm „lebendig“ und „wach“ zu erhalten. Darauf wird es ihm angekommen sein.


Das innere und verinnerlichte Beschäftigtsein mit der Sommerreise ist mit dem Wort „Rückreise“ aber noch nicht zu Ende. Es folgen im scheinbaren „Durcheinanderstil“ wie zuvor, einige Verszeilen, Wein- und/oder Ortsnamen, Angaben zu Musikalien mit Preisen, ein Zitat des zu seiner Zeit meistgelesenen römischen Philosophen, Dramatikers, Naturforschers und Staatsmannes Lucius Annaeus Seneca, 1-65 n. C, gut acht Zeilen zu dem „Gotenkönig“ „Ermanaricus“ aus dem in Dresden verwahrten „chronicum Quedlinburgense“ des Jahres 1225 - als Hinweis auf ein N seit einiger Zeit schon beschäftigendes Thema.

Danach folgen einige Zeilen mit Abfahrts- und Ankunftszeiten, die sich mehrfach um Bamberg drehen, wobei aber es schwer zu sagen bleibt, worum es sich dabei im logischen und chronologischen Ablauf gehandelt hat. Auch der offizielle „Nachbericht“ zu Ns Jugendschriften schweigt sich über Einzelheiten zu diesen Seiten weitgehend aus. Es ist kaum festzustellen, was davon wieder Pläne, Vorhaben oder tatsächlich Geschehenes war, - was, wozu und wohin es, auch zeitlich, jeweils gehören würde.


Dann folgt ein Gedicht von der romantisch schwermütigen Sorte mit „Herbstnebel rings; in grauem Duft Zerronnen“, dazwischen dann des Weiteren mit „flatterndem Laub“ und „Eulenruf“ und schwermütigem Ende: „In Nacht verschwommen Zittern die Nebelgestalten, die bleichen Um Grab und Gruft“.

Darunter erscheint dann, als ob es zu dem Gedicht gehört - endlich! - wie ein kleines flackerndes Lichtlein im dunklen Wald, sehr klein geschrieben - aber dennoch von befreiender Eindeutigkeit! - ein Datum: „21.8.61.“ Zu dem so zufällig und nebenbei angegebenen Zeitpunkt ist die Sommerreise aber bereits seit mehr als zwei Wochen - mindestens! - beendet, sodass ziemlich sicher ist, dass N sich längst wieder in Schulpforta befinden musste.


Um seiner selbst willen geht es an dieser Stelle um dieses Datum nicht: Nach diesem Datum findet sich allerdings eine Eintragung, welche - das ist mit einiger Sicherheit anzunehmen! - erst in Pforta oder Naumburg an diese Stelle geraten sein wird und dort steht nun - als ein unter Ns Feder emotional heftig explodierter Fetzen glückseliger Erinnerung und im Zug oder Schub einer Gefühlsaufwallung, zu der N „vor Ort“ entfernt nicht fähig gewesen war, ja zu der er in gleicher Weise den Mut niemals aufgebracht hätte! - dort steht nun, was durchaus stutzen macht in klaren, wenn auch gleichsam berauschten Worten zu lesen:


„O Nürnberg, Nürnberg, heilige Stadt

Ich hab dich lieb wie keine.“


Darunter wiederum stehen, von gleich elementarer Wichtigkeit - und scheinbar als Teilgebiet dessen, was N gerade im Zusammenhang mit Ermanerich erfüllt haben könnte - vier Worte, welche sich, wegen allem, was folgt, als ungeheuer aussagefähig, gehaltvoll und verräterisch erweisen:


„Über Fatum und Geschichte“ BAW1.249-259


Was konnte inzwischen passiert sein, dass es bei N plötzlich - rückwirkend! - zu diesem „Nürnberg heiligenden“ Aufschrei kam? Wie ließe er sich erklären? Nichts hat auf derlei hingewiesen als er sich dort befand! Jetzt plötzlich dagegen dieser elementare Gefühlsausbruch und dazu eine absolut superlativ gemeinte, hemmungslose Liebeserklärung!?

Zu den vier Worten, die dieser leidenschaftlich hervorgebrachten Liebeserklärung folgen, muss man wissen, dass sie mit dem unmittelbar danach genannten „Ermanarich“ oder römisch „Ermanaricus“ absolut nichts, - aber mit dem auch und sogar auf besondere Weise an dieser Stelle ungenannt gebliebenen Amerikaner Ralph Waldo Emerson alles zu schaffen haben, was für N je von Bedeutung war, ist und sein sollte! - Die vier nachfolgenden Worte „Über Fatum und Geschichte“ beweisen nämlich - insbesondere nach dem geradezu liebestoll hervorgebrachten Stoßgebet an „Nürnberg, Nürnberg“, die nach Ns Werthaltung nun erklärterweise sogar „heilige Stadt“ - dass N auf der Reise nach Nürnberg - und dort sicherlich in einer „Buchhandlung von Schmidt“ - mit der Bedeutsamkeit der Worte „Fatum“ und „Geschichte“ gewissermaßen aufgeladen worden ist und er mittlerweile angefangen hat, sich in dem 448 Seiten umfassenden Schatz von Emersons „Essays“ zurecht und - auf eigentümliche Art und Weise - wie noch zu erklären ist! - auch wiederzufinden, denn einzig und allein von dem amerikanischen Schriftsteller Ralph Waldo Emerson her werden die angefügten vier Worte in dem Umfang verständlich, den sie für N von dieser Zeit an besitzen sollten!

Hier nur so viel: Das erste Kapitel des 1858 auf Deutsch erschienen „Essay“-Bandes von Emerson trägt den Titel „Geschichte“ und führt Zusammenhänge auf, bei denen N ganz schwindlig geworden sein musste, wenn er derlei - wie er es mit allem tat! - auf sich selbst beziehen wollte, sollte, konnte und der Umstände halber sogar musste. Dazu war N der ganz nah bei der Geschichte liegende Begriff des „Fatum“ in seiner ganzen Bedeutungsfülle als der von den Göttern abhängige Schicksalsbegriff durchaus geläufig. Die beiden Worte zusammenzubringen entsprach dem Eindruck, den N von Emersons Geschichtskapitel empfangen hatte, nein, der aus diesem „über ihn gekommen war“; - in Verbindung zu Inhalten aus den weiteren Kapiteln, die er inzwischen zu lesen, in sich aufzunehmen und zu verinnerlichen Gelegenheit gefunden hatte.


Allerdings ist auch denkbar, dass in der mit Weltstadtflair ausgestatteten „Buchhandlung von Schmidt“ eine Originalversion auslag von Emersons „Gedanken und Studien“ zu dem Thema „Conductus of Life“, das unter dem Titel „Die Führung des Lebens“ in der deutschen Übersetzung von E. S. v. Müllberg mit der offiziellen Jahresangabe „Leipzig 1862“ für N genauso wichtig und bedeutsam werden sollte, wie die „Essays“ von 1858. In diesem Emerson-Buch nämlich trägt das erste Kapitel den Titel „Das Fatum“. Das Erscheinungsjahr dieser Ausgabe - angegeben mit 1862! - könnte, was gelegentlich vorkam, „vordatiert“ worden sein, so dass die deutsche Ausgabe bereits in Nürnberg vorgelegen haben könnte. Auf alle Fälle ist nachweisbar, dass N das „Fatum“-Kapitel daraus deutlich vor Ende April des Jahres 1862 so sehr verinnerlicht hatte, wie die „Essays“, er also spätestens Anfang 1862 im Besitz der deutschen Ausgabe war, - sehr wahrscheinlich aber schon früher. Es gibt seitens N keinen Hinweis darauf, welches Buch oder welche Bücher von Emerson ihm zugänglich waren. Es gibt nur Indizien dafür, dass er - und das waren viele! - von ganz bestimmten Emerson-Formulierungen ab Anfang 1862 deutlich und bis ins Mark seiner Knochen hinein beeinflusst war.


Die bis hierher so überaus ausführlich vorgetragene „Aktenlage“ zu Ns Sommerreise bis nach Nürnberg ergibt, dass es während der Ferienzeit - aus der übrigens von Anfang bis Ende keinerlei brieflichen Zeugnisse, weder von ihm noch an ihn, erhalten sind! - zu einer Begegnung mit Emerson gekommen ist. Wo? - Aller Wahrscheinlichkeit nach in Nürnberg und dort in der nicht ohne Grund schriftlich besonders erwähnten und sicherlich „groß-“, wenn nicht gar „weltstadtmäßig“ ausgestatteten „Buchhandlung von Schmidt“ BAW1.256, wo N gestöbert haben wird und wo ihm bei der Gelegenheit zumindest der Band mit den nur ungeheuerlich zu nennenden „Essays“ zufälligerweise in die Hände fiel und ihm ebenso zufälligerweise zum Schicksal wurde.


In Nürnberg erlebte N - erstmals und gründlichst, gleichsam mit Haut und Haaren! - herausgekommen zu sein aus dem provinziell engen Lebensrahmen zwischen Naumburg und Schul-Pforta! Freiheitliche Stadtluft hat er dort geschnuppert und ein winziges Stück weit - aber immerhin doch! - „die Welt“ kennengelernt, was ihn beeindruckt haben musste und hat, auch wenn er sich derlei offensichtlich nicht anmerken lassen mochte. „Cool bleiben“ war angesagt. An den wenigen Worten, die er darüber - verklemmt und ohne aus sich herausgehen zu können! - zu verlieren wagte, ist das deutlich genug abzulesen. Die satte, heftige Liebeserklärung, die sich Wochen später erst seiner Seele entrang, so dass er Nürnberg für nichts weniger als sogar „heilig“ erklärte und er sich getrieben fand, diese Stadt unumwunden mit seiner immerhin schriftlich erklärten Liebe anzuhimmeln! - Diese Gefühle haben - tief innerlich, wenn auch noch unglaublich verschüttet! - aller Wahrscheinlichkeit nach bereits das aktuelle Erleben „vor Ort“ durchdrungen, - ohne zu wagen, davon etwas - auch sich selbst! - zur verraten.


Ausgerechnet im Zusammenhang mit dem „an sich schon“ unbedingt aufwühlenden Welterlebnis der Großstadt - aus diesem heraus gewissermaßen! - oder in dieses weitläufige Welterlebnis hinein? - trat N ein „Denker“ entgegen, der ihn aufs Überraschendste und geradezu schockartig über höchst persönlich ungeklärte Belange und Befindlichkeiten „aufklärte“, das heißt, der ihm großartigste Deutungen zuspielte für das, was bis dahin noch unsicher in ihm wirkte aber immerhin doch schon „herrscheramtliche“ Geltung erreicht hatte und diesem, seinem innersten „Herrscheramt“, nun nicht nur schmeichelte, sondern pfundweise „Zucker gab“, volle Pulle, mit unerhörten Hinweisen, Wendungen, Worten und Gründen und ausgerechnet ihn, N, mit allem was bisher so zutiefst zweifelhaft in und an ihm war, hoch emporhob, vor allen - und über alle anderen - Menschen!


Das war Grund genug,, Emerson so zutiefst lieb zu gewinnen und ihn - allen nichtswürdigen, nebenher anfallenden Anfechtungen zum Trotz! - nachträglich, nachdem er Emersons vielfältig als gültig zu erachtende Aussagen „verstanden“ und in seine Existenz „eingeordnet“ hatte, fürderhin für dermaßen „heilig“ zu halten, dass es abfärbte auf die Stadt: „O Nürnberg, Nürnberg“! Diese Stadt, die ihm die unvorstellbarste Bekanntschaft seines Lebens - und vielfältigste Erklärungen seiner Existenz! - brachte; - sie war ihm - Emersons wegen! - „heilig“, nicht „als sie selbst“: Ralph Waldo Emerson erschien N als ein Mann „von Welt“, in dessen Schriften es N nicht nur gestattet, sondern dringlich anempfohlen schien, sich selbst und sein geheimstes Sehnen als etwas auch außerhalb seiner selbst Existierendes - sich in Großes und Größte gespiegelt! - wiedererkennen zu dürfen!


Was N zuvor viel Unsicherheit und innere Qual bereitet hatte - es ist noch des Genaueren zu erklären! - das nahm Emerson ihm von der Seele. Mit dessen „Weisheiten“ gefüttert übte N mit gewaltigen Argumenten unterfüttert zu unübersehbarem Recht oben - über allen anderen! - sein „Herrscheramt“ auf den Zinnen, während tief unter ihm, im Untergrund-Gewölbe, die dummen unwürdigen Zecher grölten, lachten und sangen - und! - vergleichsweise! - nichts weiter zu bedeuten hatten! Der hier - nach dem 21. August 1861 niedergeschriebene, bei und für N so einzigartige Liebesschrei galt nicht Nürnberg - der Name kommt bei N ansonsten in keiner wesentlichen Bedeutung - außer als dem Ort des Wagneroperngeschehens der „Meistersinger“ - je wieder vor! - Ns wahre Liebe galt dem dort gefundenen Ralph Waldo Emerson als dem Erklärer, Deuter, Bestätiger seiner eigenen eigentlichen „Werte“! Die unmittelbar danach notierten 4 von N geschriebenen Worte „Über Fatum und Geschichte“ belegen eindeutig, dass N - von nun an! - Emerson kannte.


In Nürnberg ist N sicherlich nicht dazu gekommen, viel von dem zu lesen, was ihn schon beim flüchtigen Anblättern und Überfliegen aufgewühlt haben musste: Oder war es anlässlich von immerhin insgesamt 5 Buchhandlungsbesuchen doch von Anfang an weit mehr? Dass sofort und auf der Stelle wirkte, was er bei Emerson las und ihn so beeindruckte, wie nichts zuvor und danach in seinem Leben, so dass es „anhielt“, ihn prägte, ihn geradezu imprägnierte und wetterfest, einfach „immun“ machte gegen alle äußeren Einflüsse, die noch kommen sollten, - bis hinein in seine letzten bewussten Tage!


Sobald N Zeit hatte, hat er Emerson - auch in den folgenden Jahren immer wieder! - auf sich wirken lassen. Nichts sonst hat so wie Emerson bei N gewirkt, hat ihn umgekrempelt, erfasst, bis in die geheimsten Fasern seiner Existenz hinein „erreicht“ und ihm gleichsam sein Innerstes in verständlichen Worten offengelegt und gedeutet. Nach fast auf den Monat genau zwanzig Jahren noch, im Herbst 1881, sollte N, der bis dahin restlos Alles in seinem Leben abgestreift und für ungültig erklärt haben sollte, was einmal im höchsten Sinn beschworene Gültigkeit für ihn besessen hatte, da sollte er in einer der so seltenen Erwähnungen des ihm „heiligen“ Namens schreiben: „Emerson Ich habe mich nie in einem Buch so zu Hause und in meinem Hause gefühlt als – [und selbst da noch - als Siebenunddreißigjähriger! - schrak er davor zurück, dem ihm Allerheiligsten zu nahe zu treten. Er flüchtete für das Unnennbare lieber in eine Floskel und schrieb:] ich darf es nicht loben, es steht mir zu nahe.“ 9.588


Von den vier oder gar fünf in Ns Besitz befindlich gewesenen Werken von Emerson existieren nur noch zwei: Die von N von Anbeginn an so bewunderten und heiß geliebten „Essays“ von 1858 und die, weil in so ganz anderem Stil geschriebenen und deshalb von N so wenig geschätzten „Neuen Essays“ von 1876. Die „Essays“ aus dem Jahr 1858, übersetzt von G. Fabricius, besaß N zwei Mal. Das erste Exemplar, aller Wahrscheinlichkeit nach das in Nürnberg erworbene, gehörte ihm vom August 1861 bis September 1874. Es bildete zusammen mit dem Emerson-Band „Die Führung des Lebens“ die verhängnisvolle Grundlage von Ns Infektion mit Emersons „Weisheiten“, die N bis in die geheimsten Tiefen seiner „Persönlichkeit“ berührten. Bis zum Diebstahls-Verlust dieses „trefflichen Emerson“ 24.9.74 im September 1874 auf dem Bahnhof von Würzburg, wird das Exemplar von N innerhalb von 13 Jahren mit einer Unmasse von An- und Unterstreichungen und auch Randbemerkungen versehen worden sein, die als verloren zu gelten haben.

Das von N nach dessen Verlust umgehend neu beschaffte, gewohnte, lieb und übermäßig bedeutsam gewordene Fabricius-Exemplar von 1858 blieb erhalten. Es enthält wiederum eine Fülle von Einträgen, Notizen, An- und Unterstreichungen, die alle Ns Wertschätzungen - und in homöopathischen Dosen auch seine Einwände - zu Emerson aus der Zeitspanne des eigentlich „philosophierenden“ N als Dreißigjährigem, von 1874 an bis in sein 45. Lebensjahr hinein zeigen! Was für N in dieser Lebensphase an Emerson - immer noch! - stehen geblieben letzten Endes auf der „Stufe des 1. Beeindruckt-seins“ des 17-jährigen! - unerschütterlich! - ohne Kritikfähigkeit und unbelehrbar! - wichtig war, ist hochinteressant und erstaunlich! Es darf dabei nicht außer Acht gelassen werden, dass N verständlicherweise nicht nachgetragen haben dürfte, was er in der von 1861 bis 1874 währenden, vergangenen 13-jährigen Bewunderungsphase einmal für anstreichenswert erachtet hatte und nun verloren war, sondern dass alle Anstreichungen, Eintragungen etc. aktuell neu vollzogene Übereinstimmungen mit - und ein Fitzelchen Kritik an! - Emerson dokumentieren! Dieser Umstand ist bei allen hier aufgeführten Emerson-Zitaten, zu denen das von N Unterstrichene unterstrichen angeführt wird, zu beachten! Sonstige Anmerkungen Ns finden ausreichende Erwähnung.


Die von N stammenden An- und Unterstreichungen sind - abgesehen von den vielen schriftlich gemachten Notizen in dem Band! - deshalb so aufschlussreich, weil sie in ihrer Gesamtheit eine unmissverständliche „Spur“ seiner bei Emerson entdeckten und auch wiederentdeckten, einen Anklang oder ein Echo findenden seelischen Interessen- und Befindlichkeitslagen aufzeigen und auf diese Weise eine gewisse Emerson-Hörigkeit Ns belegen, denn was erhalten ist, stammt - ab 1874! - von dem mindestens 30 Jahre alten N und belegt also, was ihm von und bei Emerson immer noch unverändert bedeutsam war! Sie zeigen in konzentrierter Weise das, was N im Herbst 1881 damit bezeichnete, dass er sich bei Emerson wie nirgends sonst „in einem Buch so zu Hause und in meinem Hause gefühlt“ 9.588 hatte. Das Gefühl des „Heimischen“ kommt in den An- und Unterstreichungen , in dem was N konkret als hervorhebenswert empfand auf überzeugende Weise zur Geltung und hilft dem Leser bei seinem Verständnis für das, womit N sich während der Jahre seines „Philosophierens“ - als „Philosoph“ also! - besonders beschäftigt hat, „auf die Sprünge“, auch wenn eben nicht in jedem Fall erkenntlich ist, wann genau N seine An- und Unterstreichungen angebracht hatte und er die gelesenen Worte und Wendungen Emersons als „ihm aus der Seele geschrieben“ empfunden hat. Sie zeigen auf alle Fälle das, „worum es N eigentlich“ - und das lebenslang! - gegangen war!


Die Angaben zum Nachweis, woher die Emerson-Zitate stammen, haben dabei - für den Leser! - leider einen eher nur akademisch zu nennenden „Wert“ und Nutzen, - weil es dem „normalen“ Leser schwer fallen dürfte, sich heutzutage die von N benutzten Übersetzungen - mit der Seitennummerierung von Ns Original! - zugänglich zu machen, denn die entsprechenden Exemplare befinden sich heute bis auf seltenste Ausnahmen nicht mehr im antiquarischen Buchhandel, sondern sind nur noch in historischen Bibliotheken und dort wohl auch nur im Lesesaal einsehbar; - ein Verweis darauf, wo sich das Zitierte originaliter befindet hat einfach der Vollständigkeit halber erfolgen! - auch wenn es für den Leser gemeinhin nicht viel mehr bringen kann, als in allen Punkten an dessen Gläubigkeit an eine verantwortungsvolle Vorgehensweise bei all dem hier Vorgebrachten zu appellieren!

Also schrieb Friedrich Nietzsche:

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