Читать книгу Also schrieb Friedrich Nietzsche: "Zuletzt wäre ich sehr viel lieber Basler Professor als Gott; aber ..." - Christian Drollner Georg - Страница 15

1859: Internatsjahre in Schulpforta (bis 1864)

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Giuseppe Garibaldi, 1807-1882, führt als Guerillakämpfer den italienischen Befreiungskrieg. Dort wird die Inquisition eingestellt. Die Ölgewinnung in Pennsylvania und im Kaukasus ermöglicht die Petroleum-Beleuchtung. Richard Wagner beendet seine Oper „Tristan und Isolde“. Die Spektralanalyse dient der Bestimmung der Elemente. Von Charles Robert Darwin, 1809-1882, erscheint sein Hauptwerk, „On the Origin of Species“ - Über die Entstehung der Arten. Es bildet als streng naturwissenschaftliche Erklärung für die Diversität des Lebens die Grundlage der modernen Evolutionsbiologie und stellt einen entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte der modernen Biologie dar, wogegen N sich in späteren Jahren herausnehmen sollte, es dahingehend besser wissen zu wollen. Karl Marx, 1813-1883 veröffentlicht seine sozialistische Nationalökonomie.


Seine [Ns] besten lateinischen Arbeiten wirken bei aller Geläufigkeit, rhetorischen Pracht und gelegentlich an das Römische streifenden epigrammatischen Schlagkraft doch immer wie aus dem Deutschen übersetzt und sind wohl meist auch nach vorausgehenden deutschen Niederschriften oder Entwürfen entstanden. J1.75

Das ist eine Kritik seitens Paul Janz. Es muss auf erhebliche Weise „etwas daran gewesen sein“, sonst hätte Janz in diesem Punkt nicht so an seinem Idol gekratzt und gemäkelt.

Für die modernen Sprachen wurde in Pforta nur wenig getan: sie blieben mehr oder minder freiwilligen Bemühungen überlassen. Im November 1861, auf dem Höhepunkt seines Lernhungers, schreibt N an seine Schwester: J1.76 »Dann ist Dr. Volkmann, der neue Lehrer bereit, englische Privatstunden zu geben. Es haben sich eine Menge gemeldet, ich denke aber doch erst Ostern beizutreten.« 30.11.61

In den modernen Sprachen brachte er es weder in Pforta noch später zu wirklicher Fertigkeit. So eifrig er schon jetzt Shakespeare [1564-1616] und mehr noch [Lord George Gordon Noel] Byron [1788-1824], der zu dieser Zeit sein Lieblingsdichter war, las, so geschah dies doch stets in deutscher Übertragung. Er lernte vom Englischen nur Brocken. Auch das Italienische lernte er nie beherrschen, so lange er später auch im Lande selbst lebte und bei der Lektüre französischer Bücher, denen er später sehr viele las, ging es nicht ohne ausgiebige Benutzung des Wörterbuches, wie Overbeck [ein späterer, 7 Jahre älterer, enger Vertrauter Ns] uns berichtet hat. N war, wie die meisten in ihrer Muttersprache schöpferisch Begabten, kein »Sprachenmensch«. J1.77

Was geradezu entschuldigend klingt. N merkte, dass er zum Erlernen einer anderen Sprache sich besonders anstrengen musste und zusätzliche Übung brauchte. Er schrieb deshalb Mitte Februar unter vielem anderen an Wilhelm Pinder:

Lieber Wilhelm! Ich habe mich sehr gefreut, dass wir uns vorigen Sonntag so lange genießen konnten ….. Auch habe ich jetzt eine neue Idee. Ich schreibe mir nämlich wenn ich gerade nichts andres zu tun habe, in lateinischer Sprache das auf, was ich vielleicht irgendwann gehört oder gelesen habe, indem ich mich dabei ….. bemühe, lateinisch zu denken. Es geht leichter als man glaubt ….. (55) - klang zuletzt so, wie Paul Janz es beurteilte: „doch immer wie aus dem Deutschen übersetzt“.


Am 27. Februar 1859 schrieb N an die Mutter in Naumburg:

Liebe Mamma! Heute, Sonntagabend, will ich Dir noch ein paar Worte schreiben; Ich bin ganz gut nach Pforta gekommen, habe mir von Reinhardts das Schokoladenpulver nicht geholt, sondern von Heinitz. Es ist aber gar zu schlecht; das Reinhardt’sche ist Zucker dagegen ….. Schickt mir nun meine Kiste; ich muss euch meine schwarzen Hosen auf jeden Fall schicken und sie vor Sonntag wieder haben. Ihr müsst ein Stück Zeug einsetzen lassen. Sie sind zerrissen und reißen immer weiter [was wohl nicht daran lag, dass diese Hosen „an sich“ so mürbe gewesen wären, sondern die sehr oft und dringend notwendig werdenden Reparaturen galten den Folgeerscheinungen aus typisch jungenhaftem Verschleiß, was immerhin nahe legt, dass N mittat mit den Anderen und keineswegs so extrem anders war als sie und er bei weitem nicht so weit elitär abseits und „außerhalb“ stand, wie die Anbeterseite für ihr Idol immer geneigt war, es anzunehmen]. - Nun freue ich mich schon auf Fastnachten; da wollen wir’s uns gemütlich machen; ihr kommt doch hoffentlich heraus; wir können uns unterhalten; haben den ganze Tag keine Lektionen und sehen zwei Abende Theater. Vielleicht schickt ihr mir auch eine Fresskiste. Großen Spaß würde mir ein einfacher Kuchen, wie du ihn so hübsch machen kannst, bereiten ….. (56)


Anfang März 1859 hieß es an Mutter und Schwester:

Verzeiht dass ich so lange nicht geschrieben habe. Nun ist die Fastnachtzeit herangekommen; ich freue mich sehr darauf, dass ihr herauskommt. Hinsichtlich der Serviette habe keine Angst; ich habe vergessen, sie mitzuschicken. Auch die Hosen mit den Schnupftüchern habe ich glücklich empfangen. Aber ihr schickt mir doch nun auch hoffentlich, aber ja Sonnabend; denn Sonntag nimmt Hitschke [ein Transporteur zwischen Naumburg und Pforta] keine Kiste mit und da würde ich sie erst Montag bekommen ….. Noch eins! Bringt mir oder schickt mir ja für das Theater eine recht scharfe Brille oder Lorgnette mit. Das ist das allernotwendigste. Ich sitze auf einer der letzten Bänke und sehe sonst gar nichts. (57)

Das Meiste bedarf keines Kommentars. Es spricht für sich selbst. Vielleicht war zu jenen Zeiten eine Brille und damit das „Gucken können“ tatsächlich ein Problem. Von jemandem aber, der viel schrieb und las, viel lernte und dabei seine Augen brauchte, wäre doch anzunehmen gewesen, dass er hoch interessiert gewesen sein müsste dafür jeweils rechtzeitig in wirkungsvoller Weise Abhilfe zu schaffen; - zumindest in so an und für sich doch einfachen Dingen, wie der Brillenbenutzung.


Für den 15. - 20. März 1859, findet sich eine Eintragung im Pfortaer Krankenbuch: wegen „Rheumatismus“ auf der Krankenstube. J1.128 Auf 6 Tage. Am Sonntag, den 20. März wird N zu Hause in Naumburg gewesen sein. Das ihm recht unbekannte neue Domizil der Mutter am Weingarten 18, wo N immer nur als kurzfristiger „Gast“ einkehrte, wird brieflich kaum erwähnt, grad so, als erreichte ihn diese sich fern von ihm abspielende Neuerung nicht. Am Abend dieses Sonntages schrieb N nach Hause:

Da ich dir versprochen habe, sogleich zu schreiben, so melde ich dir hiermit, dass ich bei langsamem Schritt [gewissermaßen „vorsichtigem“ Nachhausemarschieren, - wegen der vorangegangenen Krankentage] glücklich nach Pforta gelangt bin, habe aber dann wieder Kopfschmerzen und auch etwas Frost bekommen. Wir sehen uns also hoffentlich Dienstag in Almrich. Hast du nicht irgendein Mittel gegen Kopfschmerzen, Husten, Schnupfen, Frost usw.? Du kannst mir auch mit Geld nach Almrich bringen, da man auf der Krankenstube seinen Kaffee bezahlen muss. Appetit habe ich noch gar nicht, höchstens nach etwas Obst, wozu mir aber Geld fehlt ….. (58)

Für dieses Mal mag es eine ganz normale Erkältung gewesen sein. Es war das erste - erhalten gebliebene! - Mal, dass in einem Brief Ns aus Pforta „Kopfschmerzen“ Erwähnung fanden. Waren es solche, wie die, derentwegen er im Sommer 1856 längere Zeit vom Domgymnasium beurlaubt war? - Sie werden sich zu einem elementaren Leiden in Ns Leben ausweiten, deshalb dürfte ihre frühe Erwähnung in keinem Fall bedeutungslos sein, auch wenn sie diesmal im Zusammenhang mit einer Erkältung noch nichts zu bedeuten gehabt haben sollten. Dass sie in diesem Fall nicht unerheblich waren, ergibt sich aus dem langsamen Zurücklegen der Wegstrecke Naumburg-Pforta und dem Bedarf nach einem Mittel dagegen.


Am Mittwoch, den 23. März 1859 schrieb N der Mutter über die erste miterlebte Abiturientenabschiedsfeier:

Heute will ich Dir nun wieder einmal etwas genauer schreiben. Es war Dienstag [tags zuvor in Almrich] sehr hübsch; wir hätten uns noch eine halbe Stunde länger unterhalten können. Ich bin auch ganz glücklich in Pforta angekommen ….. Heute war die Abschiedsfeier der Abiturienten. Es war wirklich sehr feierlich. Man hat in Naumburg keine Ahnung davon. Jeder Abiturient hält vom Katheder aus seine Abschiedsrede, die meistens sehr kurz waren, da die Abiturienten vor Rührung kaum sprechen konnten. Ein ausgezeichnetes Gedicht war auch darunter. Darauf hielt der Direktor eine Ermahnungsrede an die Abiturienten, allerdings bei weitem geistreicher als der Naumburger Abschied durch den Direktor. Dazwischen sang der Chor ausgezeichnete Abschiedslieder ….. Unter jubelndem Lebehoch stiegen die Abiturienten [wohl in einen von Pferden gezogenen Wagen] ein und unter lauter Hörnerschall fuhren jene ab ….. Ich bin heute Nachmittag mit ganz Untertertia in Großjena [einem knapp 6 km entfernten, nördlich von Naumburg gelegenen Örtchen] gewesen ….. Ich bin noch ganz marode davon. Vor Frost hatte ich mich durch Rock und Mantel gesichert. Du brauchst darum keine Angst zu haben. Kopfschmerzen habe ich natürlich bekommen, aber die Leibschmerzen waren noch schlimmer. Nun lebe wohl! Länger habe ich keine Zeit. Adieu! Dein F. (59)

Kopfschmerzen habe er „natürlich“ bekommen; das klingt nach einer Art „Normalität“, zumindest doch, wie nichts Ungewöhnliches und erscheint in Hinsicht auf die Zukunft bemerkenswert. Ansonsten sind die Angaben des Briefes zu allem, bis auf die nackten Fakten, bemerkenswert unkonkret.


Ende März 1859 schrieb N an seinen Freund Wilhelm Pinder in Naumburg:

Lieber Wilhelm! Wir haben uns recht lange nicht gesehen und geschrieben und allerdings bin ich [Schuld?] an letzterer Ursache. Aber wenn du immer wüsstest, wie unsre Zeit mit Arbeiten angefüllt ist und wie wenig freie Stunden sich finden, so wirst du mir das gewiss nicht vorwerfen. - Ich habe mich jetzt auf einen [erst in einem halben Jahr fällig werdenden!] Geburtstagswunsch besonnen ….. Du wirst dich wundern - ich wünsche mir nämlich - Gaudis Werke [Franz von Gaudi, 1800-1840, ein aus dem Militäradel stammender Dichter, Novellierst und Reiseschriftsteller in gefälligem Biedermeierstil. Er war eine Zeitlang auch Schüler in Schulpforta. Sein Vater, Generalgouverneur von Sachsen und Erzieher des späteren, von Ns Vater so sehr verehrten Königs Friedrich Wilhelm, zwang ihn in eine Militärlaufbahn durch die er sich mit Schulden, Liebesaffären, Duellen, Disziplinarstrafen und Zwangsversetzungen schlug]. Ich weiß nicht, wie es kommt - aber die Novellen ziehen mich durch ihren prachtvollen Stil und blendenden Witz an ….. Bitte, teile mir darüber Deine Gedanken mit [denn N fand es völlig normal, dass „die Anderen“ sich gefälligst mit dem zu beschäftigen hatten, was ihn selber gerade bewegte]. -

Wie geht es Dir jetzt? Habt ihr noch viel zu arbeiten? Bei uns steht nun das [für N erste Semester-]Examen in unmittelbarer Nähe und ich habe etwas Angst davor. - - Hast Du schon einmal Cicero privatim gelesen? Ich möchte es jetzt gern tun, habe aber überhaupt große Lust lateinische Klassiker zu lesen, aber wenn ich doch interessante und nicht zu schwere wüsste! ….. Bitte schicke mir jetzt einmal irgendein Thema zu einer deutschen Arbeit, am liebsten eine Rede oder Abhandlung [es war sein geliebtes Spiel des verpflichteten Produzierens und gegenseitigen Kritisierens, - aber auch des „Sich Produzierens“, denn auf diese Weise schuf er sich ein zwar recht kleines, gar sehr kleines, immerhin aber doch ein „Publikum“:] Ich denke, in den freien Tagen nach den Examen wird schon etwas freie Zeit dazu sein und ich muss in so etwas in der Übung bleiben. Ich komme sonst zu sehr heraus. - Hier schicke ich dir auch ein Thema [von prinzipiell maßlosem Ausmaß, so, wie N es im „Rahmen“ von bis zum Äußersten getriebenen Grenzwerten liebte]: Über die göttliche und menschliche Freiheit. [Derlei prinzipiell gar nicht abschließend behandelbare Themen lagen N, sie reizten ihn und sind ein Zeichen dafür, wie heftig und mit welcher Wucht Emersons maßlose Tiraden bei ihm einschlagen und wirken mussten, als er sie im übernächsten Jahr zur Kenntnis bekam.]

Vielleicht findest Du auch hie und da ein Stündchen, wo Du darüber nachdenken und schreiben kannst. Es ist die Freiheit einer der wichtigsten Punkte. Wirf doch nur die Fragen auf. Was ist Freiheit? Wer ist frei? Was ist Willensfreiheit? usw. Nun lebe wohl, lieber Wilhelm und denke und schreibe recht oft an Deinen Fr. W. N. (62)


Philosophie im Ansatz, - als Beschäftigung mit Ernstem und Allerhöchstem, den geliebten Superlativen nah! Als Spiel und als Lebensaufgabe! Diese Neigung war früh vorhanden, gewissermaßen eine Manie und schon so etwas wie antrainiert, „Gewohnheit“: die „höchsten“, letzten und gültigsten Fragen endgültig zu „klären“! Es sind übrigens genau diese „Fragen“, die N 1862, nach seiner Emerson-Lektüre, die ihn - in eineinhalb Jahren etwa - infizieren sollte, begierig aufgriff und in seinen „berühmten-berüchtigten“ Jugendaufsätzen über „Fatum, Willensfreiheit und Geschichte“ „behandeln“ sollte. Ein Teil davon bestand sicherlich aus einer „Flucht aus der Realität“, gerechtfertigt durch die Beschäftigung mit „höheren“, „wichtigeren“, superlativeren „Dingen“, als nur dem, was ihn am und im Alltäglichen quälte. Dazu gehörte auch, sich so überfrüht und intensiv um längst nicht anstehende Geburtstagswünsche zu kümmern. Er pflegte mit alledem jenseits der Realität eine Parallelwelt-Kultur, die ihm mit den Jahren immer wichtiger, ja zu seiner eigentlichen Welt geraten sollte.


Freund Wilhelm antwortete N noch im April 1859 folgendermaßen:

Lieber Fritz! Viel Dank für deinen Brief. - Wir haben jetzt tüchtig zu repetieren ….. Im nächsten Halbjahr werden wir statt Caesar ausgewählte Briefe von Cicero lesen, die, wie ich glaube, ziemlich leicht sind. Da du mir schreibst, dass du Lust hättest Sachen von Cicero zu lesen, so würde ich Dir raten, diese Briefe zu lesen, da die andren Werke Ciceros viel zu schwer zur Privatarbeit sein würden. -

In Hinsicht deines Geburtstagswunsches war ich allerdings etwas erstaunt, als ich las, worin derselbe bestand, glaube aber gewiss, dass deine Wahl eine gute sein wird, da das wenige was ich von Gaudy gelesen habe, mir sehr gefallen hat, dasselbe aber zu wenig ist, um ein Urteil fällen zu können. Ich danke Dir vielmals für das Thema [über „die göttliche und menschliche Freiheit“!] zu dem deutschen Aufsatz, was du mir übersandt hast. Es ist nicht gerade schwer und man kann sehr viel darüber schreiben. In den Ferien werde ich mich damit beschäftigen, dasselbe auszuarbeiten. Dieselben [gemeint waren die Ferien] nehmen nächsten Freitag ihren Anfang. Wann beginnen die Eurigen? Ich freue mich unendlich auf unser nächstes längeres Zusammensein und ich hoffe dass Du in Naumburg bleiben wirst. Ich lasse hier ein sehr schwaches Zeugnis meiner Muße folgen, ich hoffe dass Du es mit Nachsicht aufnehmen wirst [ein waffenklirrendes, Blut, Mut und Leidenschaften aufwühlendes Heldengedicht in dreizehn Strophen mit jeweils vier langen Zeilen] über Gustav Adolphs Landung bei der Insel Ruden am Ausfluss der Peene! Semper nostra amicitia manet Dein Freund W.Pinder.


Obgleich N am Sonntag, den 3. April zu Besuch in Naumburg war, schrieb er am Abend:

Liebe Mamma! Ich schreibe doch gleich ….. es war recht hübsch und ich muss sagen, dass ich diesen Spaziergang in Ruhe genossen habe. Ich bin auch ganz glücklich und langsam nach Pforta gekommen, habe aber doch die Tinte vergessen ….. [und nach einigen Bemerkungen, vor allem zu Musiknoten für Elisabeth, schrieb er:]

Schickt mir aber Folgendes: 1) Masius, deutsches Lesebuche (für Examenarbeiten in dieser Woche sehr notwendig. 2) Eine tüchtige Tintenflasche. 3) Grammatik v. Siberti. Alles sehr notwendig und brauche es spätestens bis Dienstag!! Nun lebt recht wohl und schreibt und schickt und denkt recht viel an Euren Fritz. Nochmaligen großen Dank! Kuchen hat gut gemundet! Schickt mir ein Taschentuch, meine Krawatte, meine Stiefeln usw. ja mit! (63)

Obgleich er doch wissen musste, dass bereits am Dienstag Examensarbeiten anstanden, dachte er nicht daran, was er dazu benötigen würde. Seine Probleme lösten sich durch Bedienung durch Andere, was besonders in ständiger Wiederholung doch auf eine erhebliche Unselbständigkeit in Bezug auf seine Lebensbewältigung in praktischen Dingen schließen lässt, - so, wie sie bei autistisch veranlagten Menschen häufig festzustellen ist. Dank der ständigen Hilfestellung seitens Mutter und Schwester fiel diese Eigenheit Ns, da er ohnehin als Pascha behandelt wurde, nicht sonderlich auf, aber die gehäuften Zusende-Verlangen aus Pforta lassen, zusammen mit dem an Verhaltensregeln überreichen Brief seitens der Mutter, als N 1857 allein in Pobles bei den Großeltern weilte, in dieser Hinsicht ein bedenklich unselbständiges Bild Ns entstehen.


Die Ferienzeit im Frühjahr, die so sehr erwartet worden war, blieb hinsichtlich der Freundschaftspläne mit Wilhelm Pinder reichlich unerfüllt, denn die Mutter Franziska N war mit ihren beiden Kindern zu deren Großeltern nach Pobles gefahren. Zum Ende des April 1859 schrieb N deshalb an seinen Freund in Naumburg:

Lieber Wilhelm! Wir haben uns jetzt recht lange nicht gesprochen und gesehen. Die goldene Zeit der Ferien ist vorüber gegangen wie ein Traum; vorzüglich dauert es mich, dich noch nicht nach meiner Rückkehr von Pobles gesehen zu haben ….. Ich habe auch mehreres geschrieben. Erstens ein missglücktes Schauspiel, betitelt Prometheus [gut 7 Druckseiten lang krudes Zeug. BAW1.63f Von kaum jemand anderem sind wohl je „etwas sein sollende“ Versuche über Macht, Herrschaft, ungeheure Tat und so weiter veröffentlicht worden, wie von N, was anmutet wie die Knochensplitter von Heiligen in Monstranzen, zur Anbetung von so gut wie nichts und N fährt in scheinbarer Einsicht fort], angefüllt mit einer Unzahl falscher Begriffe über diesen Gegenstand, zweitens drei Gedichte eben darüber, die ich in einer dritten [Schrift] heruntergemacht habe. Diese dritte Schrift ist übrigens ein eigentümliches Ding ist aber noch nicht fertig [und wurde dies auch nicht, - hier aber wollte er damit doch „glänzen“], erst 6 enge Quartseiten lang und ist betitelt „Fragezeichen und Notizen nebst einem allgemeinen Ausrufungszeichen über drei Gedichte, betitelt Prometheus [mit recht beliebig verteilten Rollen auf läppische Personen. BAW1.69f Es liegt unzweifelhaft ein gewisser atavistisch verehrender Heiligenkult und ein ungebändigter Anbetungswille darin, von N - unkritisch gegenüber dem, was es ist! - alles drucken zu müssen, was je seiner Feder entflossen ist! In dieser Hinsicht erscheint N tatsächlich als eine zeitlich verirrte Gestalt mit Heiligenschein auf der Grenze zwischen Mittelalter und Neuzeit, in welche er wegen seiner seelischen Rückständigkeit eigentlich nicht gehört!].

Es wird darin ein Dichter im Gegensatz zum Publikum aufgeführt und das Ganze ist ein Gemisch von Unsinn und Blödsinn. [Warum aber machte N das? Aus Spaß an der Freud? Und warum berichtete er auch noch so ausführlich - und stolz? - darüber? - Er wollte mit etwas Glänzen und hatte nichts anderes!] Unter andern ist ein Satz von einer ganzen Seite darin. Dann kommen furchtbar lächerliche Verdrehungen, richtig dumme Subjekte usw. usw. vor. Ich weiß nicht, wie ich auf solche verrückte Ideen kommen konnte. Viertens eine sehr ungründliche Arbeit über das Thema: „Alle Menschen sind gut, wir selbst sind schlecht“ [was als eine Aussage in sich selbst einen unauflöslichen Widerspruch enthielt!], die übrigens recht gut auszuführen [aber wenn, dann nicht erhalten geblieben] ist, wenn man die Folgen und Ursachen im Auge behält. Fünftens ein Gedicht, das auf der Reise entstanden ist, etwas tief oder vielmehr dunkel ist und worin die fehlenden Gedanken mit Gedankenstrichen bezeichnet sind. Es hat übrigens nach langem Überlegen den Titel: Poesie und Schicksal erhalten [nach „langem Überlegen“! - obgleich es nichts damit auf sich hatte?]. Wie ich es schrieb, habe ich es nicht verstanden und erst mit genauer Auseinandersetzung wurde es mir klarer. Leider ist mein Papier zu Ende. Lebe deshalb recht wohl, grüße vielmal und gedenke und schreib oft an Deinen Fr. semper nostra amicitia manet. (69)

Man könnte meinen, N war „high“ als er dies, um jeden Preis von sich labernd, schrieb und schwebte auf der alles lustig, leicht und bedeutend empfindenden Welle einer manischen Phase; - was noch von Bedeutung sein wird für sein weiteres, nach Pindar konzipiertes „Werde, der Du bist“. Zwar wurde N inzwischen - bei nachträglich nüchterner Betrachtung, er wusste nicht warum und wie! -, bewusst, um was für krude und „lächerliche Verdrehungen“ es sich bei dem Produzierten, das ihm doch so viel Spaß und Befriedigung verschafft hatte, handelte! Dennoch berichtete er dem Freund sehr ausführlich darüber und das aus dem gleichem Grunde, aus dem er zuvor das Zeug zusammengeschrieben hatte. Gerade in diesen sehnsuchtsvoll erwarteten Ferien war es ein Versuch - von vielen weiteren, die noch folgen werden! - etwas zu produzieren, zu schaffen und damit in seiner Parallelwelt Erfolgserlebnisse zu erringen, - mit denen er aber mehr zu sein schien, als er wirklich war, - was ihm selber noch zum Bewusstsein kam! - Mit der hinterher enttäuschenden Wahrnehmung, wie schwierig sich derlei gestaltet und wie leicht und schnell und gründlich so ein Gefühlsrausch misslingen und verklingen konnte: Darüber nun ausführlich zu berichten ergab wiederum einen schöpferischen Akt und wahrte ihm den Flair des Produziert-habens: Es rief ihm ein gewisses Maß der empfundenen Schaffensseligkeit zurück. Dieses durcheinander von Tun und Verlachen, von Gut- und Schlecht-Finden, von Unsinn und Blödsinn verzapfen und nicht so recht zu wissen, was er wollte, konnte und sollte, das waren unsichere Stilübungen an allzu ehrgeizigen „Projekten“. „Poesie und Schicksal“! - Das war wieder sehr hoch gegriffen und wurde erst hinterher mit so etwas wie „Sinn“ gefüllt, denn im wilden Lauf der Gefühle hatte er zugegebenermaßen gar nicht verstanden, was er schrieb: Das alles gemahnt in Ansätzen an das, was er sein Leben lang treiben sollte, denn letztlich blieb er bei eben dem, was er da gerade vorgab abzulehnen und kritisch durchschaut zu haben: All das übrigens stand unter dem stärker werdenden Spannungsbogen zwischen Ns jeweils momentanen Selbsteinschätzungen und dem, was nüchtern besehen davon tatsächlich übrig blieb.


Von empfangener Post ist in diesem Jahr zwischen April und Oktober nichts erhalten geblieben, was ja nicht unbedingt heißt, dass es für ihn in der Zeit tatsächlich keine Post gegeben hätte, schließlich hatte er selbst einige Briefe, vor allem an den Freund Wilhelm und an die Mutter gerichtet.


Anfang Mai 1859 schrieb N - im Zusammenhang mit den vorigen Briefen - an Wilhelm Pinder:

Übrigens schicke ich Dir hier, lieber Wilhelm einen Plan, der mich viel in den [letzten] Ferien beschäftigt hat. Sende du mir deine Gedanken darüber in einem recht baldigen Brief. - Prometheus ist mir jetzt ein sehr interessanter Stoff geworden und es wäre mir sehr lieb, wenn wir beide unsre Gedanken darüber aufschrieben [immer wieder erwartete N, wie später von allen Menschen, mit vollkommener Selbstverständlichkeit, dass sie sich mit dem zu beschäftigen hätten, was ihn selbst gerade interessierte]: Vor allem sammle also aus allen Lexica und andern Büchern, aus Mythologien, eine möglichst vollständige Darstellung seines [des Prometheus, in der griechischen Mythologie des vorausdenkenden Freundes und Kulturstifters der Menschheit! - seines] Lebens wie des ganzen hierher gehörigen Mythenkreises, Zeus [in der griechischen Mythologie der oberste olympische Gott, welcher sexuellen Verführungen sehr zugetan war], Titanen [in der griechischen Mythologie wie Menschen gestaltete Riesen, die in einer als Goldenes Zeitalter bezeichneten Epoche lebten bis nach heftigen Kämpfen die Olympier unter Anführung von Zeus, sie besiegten], Epimetheus [der immer erst hinterher denkende Bruder des Prometheus, - er erhielt von den olympischen Göttern die schöne Pandora zur Frau], Pandora [die aus Lehm geschaffene, mit eine Büchse voller Übel und auch der Hoffnung versehene Schönheit, die als Rache, dafür, dass Prometheus das Feuer stahl und zu den Menschen brachte, Epimetheus zur Frau gegeben wurde, worauf diese die Büchse mit den Übeln sowie der Hoffnung öffnete und über die Menschen kommen ließ]. Dies kannst Du besser tun, da mir wenig Bücher zu Gebote stehen. Dann schreibe dir alle Gedanken, die dir bei näherer Betrachtung auffallen, auf; ich werde dasselbe tun und dann wollen wir uns den Stoff so einteilen: 1. Titanen; 2. Prometheus; 3. Epimetheus und Pandora; 4. Die letzten Schicksale des Prometheus; 5. Epimetheus und Prometheus, Pandora (gegenseitiges Verhältnis); 6. Das Ende des Zeus (im Verhältnis zu deutschen Sagen).

Willst Du vielleicht 1, 3, und 5 behandeln? Dann werde ich 2, 4 und 6 vornehmen. Auf das letzte, 6, freue ich mich, da in demselben das Ende des Zeus, vom Prometheus vorausgewusst, von ihm allein zu beseitigen, im Verhältnis zum Untergang der deutschen Gottheiten, die durch die Naturkräfte (was doch eben die Titanen bei den Griechen sind) vernichtet werden [das beendende Element darin sprach N dabei besonders an!]. Auch 5 ist interessant, da in demselben die Weisheit und die Dummheit im Verhältnis zum Übel der Welt dargestellt werden [denn darüber meinte N, wüsste er besonders Bescheid!].

Wollen uns indes nicht in einen bloßen Lehrstil einlassen, vielmehr wollen wir so schillernd und schildernd so lebhaft, so ergreifend wie möglich schreiben, kurz etwas brillant [auf ganz besondere Weise, auf dass es Effekt mache!]. Gedichte natürlicherweise können eingeflochten werden. Etwas lang muss eine jede Abhandlung werden, so ungefähr ein Bogen, indes nicht zu eng geschrieben. Stoff ist sehr reichlich, Eine Einleitung und einen Schluss wollen wir beide schreiben ….. (70)

Da legte N los. Leben als Philosophie und Ansichtssache! Ns ganze Leidenschaft! Etwas beschreiben und bestimmen, wie es ist und zu sein hat. Er konnte gar nicht anders; es brach immer wieder aus ihm hervor. Wie sehr da seine Einseitigkeit gegen die Vielseitigkeit von Wilhelm Pinders Wesen stand, wird ihm - und wohl auch Pinder - zu dem Zeitpunkt noch nicht bewusst gewesen sein.


In diesem Mai erlebte N sein erstes Schulfest in Pforta. Über dieses schrieb die dazu eingeladene Mutter an ihre Eltern:

Den Sonnabend [21. Mai 1859] waren wir in Pforta denn es war Schulfest was früh mit Kirche und nach dem „Actus“ [einem Bezug auf die Apostelgeschichte?] gefeiert wird, wo mein Fritz „Arion“ [ein Gedicht über den sagenhaften griechischen Sänger Arion von Lesbos, der seines Gesanges wegen von Delphinen aus einer üblen Situation gerettet und an Land gebracht wurde] sehr hübsch deklamiert hat. Den Nachmittag waren wir zu Prof. Buddensiegs [Ns damaligem Tutor] zum Kaffee und Abend gebeten ….. Fritz hatte ich es verboten noch vor dem Fest zu kommen und so wanderten wir fröhlich hinaus. Jede einzelne Professorenfamilie [der Tutoren in Pforta] hatte im Schulgarten ihr Plätzchen arrangiert und empfingen da ihre Gäste, sahen von da aus das Vogelschießen mit an und den darauffolgenden Triumphzug jeder einzelnen Klasse, wo nämlich ein Jeder der Könige [die Gewinner des Wettschießens] auf einer Trage mit Musik von den andern Schülern in dem ganzen großen Schulgarten herumgetragen wurde, was sich 4 mal wiederholte, darauf war Schauturnen [was dem sportlich unbeholfenen N als „Tierquälerei“ J1.82 erschien] wirklich ausgezeichnete Sachen machten die Primaner und der kleineren Künste und Marschieren kam mir wie in einer Kadettenschule vor. Der Unterricht ist auch darinnen ausgezeichnet vertreten und ist gewiss ganz vorzüglich zu dieser kräftigen Körperausbildung behilflich. Darauf wurde getanzt, denn es war ein so wunderschöner Tag, Alumnen und Damen auch die Alumnen zusammen was wahrhaftig graziös aussah, nach dem waren wir bei dem Gebet und Essen und vor Tische hörten wir den prächtigen lateinischen Tischgesang [der Paul Deussen hingegen, weil er ihn täglich wohl mehrfach zu hören bekam, ein Leben lang eher unliebsam in den Ohren liegen sollte] von diesen 180 Kraftstimmen. Darauf war von derselben Zahl ein Besentanz mit brennenden Besen, dem sich die Polonaise anschloss, dazu wurde das Freudenfeuer angezündet und so ging [es] auf den großen Turnplatz ….. dann stimmten die Professoren noch einige hübsche Volkslieder an, darauf folgte die Schlusspolonaise und nachdem der Gesang von dem Lied „Nun danket alle Gott“, was bei dunkler Nacht und dem Schein des verlöschenden Feuers einen besonders erhebenden Eindruck machte, gesungen worden war, trennten wir uns mit recht dankerfüllten Herzen gegen den Geber dieses herrlichen Jugendfestes und gingen von Neuem befriedigt und in diesem herzlichen Dankgefühl gegen Gott ….. nach 10 Uhr samt einem Schwarm Naumburger Noblesse nach Hause ….. KGB1,4.83f


Immer wieder schrieb N an die Mutter, was ihm alles zu schicken sei, was er brauchte, haben mochte, entbehrte und ersehnte; - so auch in den Briefen vom Mai 1859:

Recht viel Kirmeskuchen, wie mir die lieben Großeltern versprochen haben, Stiefeln, graue Hosen, Turnhosen, Schokoladenpulver, die Kiste muss diesmal voll werden! ….. etwas Geld, meinen neuen Anzug ….. Schickt mir sogleich meine Kiste, ich brauche alles sehr notwendig. Schreibe mir auch wieder so hübsch ausführlich wie am vorigen Mal ….. Es ist jetzt ganz hübsch in Pforta; wir spielen sehr viel Kegel und das macht großes Vergnügen. Nur noch keine Nachtigallen habe ich gehört ….. schicke mir doch etwas Geld mit; Du kannst es recht fest in Papier wickeln und mit in die Kiste legen ….. die grauen Hosen kommen mir sehr zu Statten da ich die schwarzen wegen einem großen Loch an einem Hosenbein nicht anziehen kann. Wenn ich meinen guten Anzug nicht bis Sonnabend bekomme, kann ich sonntags nicht nach Naumburg kommen, was mich sehr schmerzen würde. Sende mir diesen ja und ebenso den noch fehlenden Bedarf, den ich schon im vorigen Briefe angegeben habe, wie Tinte, Stahlfedern, Notizbuch, Buttertasse, Gefäß für Streichhölzer usw. ….. und die „Jahreszeiten“ und das „Requiem“ und „Lippenpomade“. (71-74)

Ein Ende davon war nicht abzusehen.


Unter einem nicht genauer feststellbaren Datum schrieb N nach dem 21. Mai oder auch erst im Juni 1859 an Wilhelm Pinder:

Lieber Wilhelm! Ich danke dir noch viele Mal für deinen lieben Brief. Er hat mir viel Freude bereitet; wir sehen uns diesen Sonntag doch hoffentlich? Mir gefällt es jetzt eigentlich in Pforta; es ist im Sommer ein ganz anderes Leben und bei schönem Wetter ist Pforta ein recht netter Aufenthalt ….. Die Nachtigallen und Vögel singen und ich wünsche immer, du wärest da! In der Ferne, in der Ferne Leuchten meine Lebens Sterne Und mit wehmutsvollem Blick Schau ich auf mein einstig Glück ….. [mit 21 weiteren Zeilen im gleichen Stil]. Übrigens ist diesen Sonntag kein Spaziergang wegen der Kommunion. Das ist recht schade. (76)

Die hier ausgedrückte unerfüllte aber auch unerfüllbare Sehnsucht nach Höherem und einem unbedingt gleichgesinnten Freund blieb ein ständiges Motiv in Ns Leben. Er war und blieb zwar nie allein, aber in seinem Eigentlichen, in dem, was er für wirklich wichtig hielt, war er doch ein Einzelgänger, der sich schwer anschloss weil er „die Anderen“ in einer engeren Seelengemeinschaft, ihm gleichgestellt, nicht wirklich ertragen konnte.


Am 20. bis 23. Juni 1859 schrieb N an seine Mutter:

Liebe Mamma! Ich habe euch jetzt recht lange nicht geschrieben; aber im Sommer hat man keine einzige Selbstbeschäftigungsstunde, alles Repetierstunden. Die kleine Schachtel habe ich empfangen und mich sehr über ihren Inhalt gefreut ….. Über das Konzert von neulich will ich nur noch hinzufügen, dass mir die Chöre aus Faust [wohl „Szenen aus Goethes Faust für Soli, Chor und Orchester“ von Robert Schumann, 1810-1856, aus den Jahren 1844-1853] und ein Duett von Mendelsohn am meisten gefallen haben. Ich war wieder (als Sänger) mit bei dem Chor beteiligt. - Die so nahen Ferien sind jetzt glänzende Hoffnungssterne, nach denen man immer blickt. Nächsten Freitag bin ich hoffentlich bei Euch. Diesen Sonntag sehen wir uns doch wieder in Almrich? ….. Überlege es Dir ja mit dem Konzert in Halle. Ich würde allerdings ungemein gern es hören. - Schreibe mir doch ja recht genau. Ich bekomme überhaupt nicht viele Briefe, auch von Wilhelm warte ich länger auf einen ….. (82)


Vom 1. Juli bis 4. August genoss N die Sommerferien. Zum Geburtstag der Schwester am 10. Juli richtete er an sie die letztlich doch sonderbaren, unter den Briefen aufbewahrten Zeilen, obgleich es sich dabei nicht um einen Brief im eigentlichen Sinne handelt, sondern eher um die Selbstverewigung auf einem Albumblatt:

Kühn und ernst blickt der Held in die Gewitter, die ihn umdrohen, lächelnd schaut er auf die Wiesen des Lenzes nieder, aber im Wetter wie im Frühling bewahrt er dieselbe Stärke. Glücklich ist, wer im Glück und Unglück sich gleich bleibt! - So spricht Dein verehrungswürdiger Bruder FW. N zu Dir an Deinem Geburtstag (83a)

Es war Elisabeths 13. Geburtstag und alle die es lasen werden gestaunt haben, - sicherlich. Stumm!. - So wird es gewesen sein, voll „Ehrfurcht“ vor so viel Chuzpe, oder offener geurteilt: so viel unverschämter Dreistigkeit! So sah N sich; „verehrungswürdig“, damals schon! Gut 20 Jahre später hätte das - mit einem „also“ versehen! - auch „Zarathustra“ sagen können, doch so weit war N in seiner Selbstverehrungswürdigkeit noch nicht. Diese Art Äußerungen liegen allerdings psychologisch mit dem, was „Zarathustra“ sprechen wird, auf ziemlich gleicher Linie: Der knapp fünfzehnjährige N schätzte sich so ein; - nicht nur in den Momenten, wo die natürliche Zurückhaltung, dergleichen über sich selbst von sich zu geben, nicht recht funktionierte, sondern „es“ durchging mit ihm, in seinem angemaßten „Herrscheramt“, das ihm unter etlichen anderen Vorzügen, die es zu bieten hatte, auch eingab, dass Er - aber aufgrund von was eigentlich? - „verehrungswürdig“ wäre - was übrigens ein Gefühl war, das ihn über viele Situationen seines Lebens hinwegtragen sollte!


Dieses logisch durch nichts gerechtfertigte hohe Selbstwertgefühl - wie es ja in weitaus geringerem Maße in so gut wie jedem Menschen steckt - tat bei N von Anbeginn an in einem ungewöhnlichen, wenn nicht krankhaft zu nennenden Maß, seine Wirkung. An diesem Maß wird sich bei N - bis auf die immer enthemmtere Form! - nicht viel ändern, denn seine Selbsteinschätzung war schon jetzt kaum mehr zu überschätzen, - jedoch besitzen die Momente, in denen „es“ mit ihm durchging und er sich freimütig über seine alle und Alles überragende „Größe“ auszulassen wagte, noch Seltenheitswert! Sie werden sich im Laufe der Zeit immer öfter und umso gereizter zeigen - bis sie im „Ecce homo“, 1888, vollends alle Fesseln sprengen sollten! Elisabeths Geburtstag war für N so ein Tag, die eigentlich „ehrliche“ Wahrheit einmal ungeschminkt zum Ausdruck zu bringen! Es ist nämlich nicht außer Acht zu lassen, wie sehr N unter dem ständigen Druck der „Schicklichkeit“ und „Moral“ - sich nicht frei über seine eigentliche Überzeugtheit von sich selbst, äußern zu dürfen - gelitten hat. Wie viel „Überwindung“ es ihn dauernd kostete, seine wahre Meinung über sich selbst „verbergen“ zu müssen und unter dem Deckel zu halten was ihm doch so wichtig war. Das hat ihn viel Mühe gekostet. Ein in diesen Punkten mit ausreichend „normalen Hemmungen“ ausgestatteter Mensch kann das wahre Ausmaß davon kaum ermessen.

Psychologisch lassen diese Zeilen des noch nicht fünfzehnjährigen N an die Schwester unglaublich tief blicken. Denn an ihnen ist festzustellen: Er redete zum Geburtstag seiner Schwerster mit geradezu neurotischer Ausschließlichkeit, zwanghaft autistisch, auf sich selbst bezogen, von sich! - Wie er es immer tat! - Insofern war dies für ihn völlig „normal“, das Neurotische daran ist ihm nicht aufgefallen. Er sah, wie immer, nur sich und redete Unsinn daher, denn das Gewitter „umdrohte“ ihn nicht, denn Er war de facto nicht dessen „Mittelpunkt“, empfand sich aber als ein solcher. Man trifft - wohl auch des Effektes wegen! - bei N immer wieder auf so beispielhaft alles andere verzerrende Zentralperspektiven seines Welterlebens.


Am 6. August 1859 begann N unter der Überschrift „Pforta von N. 1859“ und wie fast immer mit voll ausgeschriebenem eigenen Namen, dessen er sich stets versichern musste, ein neues Heft für seine privaten Notizen; - als eine Art Tagebuch, ohne ein solches zu sein, angefüllt mit dem, was ihn so bewegte, aber er führte es schon nach dem 27. August in diesem Sinn nicht weiter. Bis dahin aber steht darin recht Aufschlussreiches:


Wir haben heute wieder frei gebadet. Das Wasser war ungewöhnlich flach; man konnte weit und breit über die Saale gehen. Es war ungemein warm. - Die Schwimmprobe habe ich noch nicht gemacht; ich fürchte mich immer vor der Blamage. BAW1.116

Derartiges wäre schließlich dem Ansehen seiner „Herrscheramtsgefühle“ zuwidergelaufen. Sechs Tage später schaffte er die Schwimmprobe dann doch. Die Angst vor der „Blamage“ war für N sehr oft im Leben eine erhebliche Angst-Schwelle, andererseits aber auch ein enormer Dauer-Antrieb für sein Tun und Schaffen gegen alle Gewöhnlichkeit!


Für den 7. August 1859 notierte N:

Ich gehe heute nach Almrich wo die Mamma mit Lisbeth sein wird. Es ist dies eigentlich nur Aufenthalt der Primaner; aber wenn Eltern dahin kommen, können sie [die Pfortaer Obrigkeit] es den Söhnen nicht verwehren. Die andern pflegen nach Kösen zu gehen [das lag aber in entgegengesetzter Richtung zu Naumburg]: gewöhnlich zu Haemerling in die Konditorei ….. BAW1.117


Unter dem 10. August, einem Mittwoch, steht die Klageleier eines Unglücklichen, ewig nach Höherem sich Sehnenden zu lesen, der schnell vordergründige äußere Ursachen für seine Stimmungen suchte und fand:

Aber so ungemütlich wie den Abend war es mir nach den Hundstagen noch nicht [die „Hundstage“ beschreiben den meist sehr warmen Zeitraum vom 24. Juli bis 23. August, so benannt nach dem scheinbaren Stand der Sonne im Sternbild des Großen Hundes und das schon vom alten Ägypten her]. Ich sehnte mich nach Naumburg, nach meinen Freunden, mit denen ich mich in solchen Stunden angenehm unterhalten konnte und hier hatte ich niemand! Das ganze Schulhaus kam mir so öde, so traurig vor und das Düster das sich überall verbreitete, ließ mir nur glückliche Bilder aus den Ferien vor den Augen erscheinen! O Weihnachten, o Weihnacht wie weit, wie weit!! BAW1.120

Es ist heute Morgen bedeutend kühler als alle Tage vorher. Der Himmel sieht regnerisch aus; mir ist wieder nicht sehr gemütlich; ich freue mich auf den Sonntag, aber die Woche vergeht so ungemein langsam. Es ist wahr, trübes Wetter weckt trübe Gedanken; düsterer Himmel macht die Seele düster und weint der Himmel, so vergießt auch mein Auge Tränen. Ach in meiner Seele erwacht das bittere Gefühl des Herbstes. Ich kann mich noch eines Tages aus vorigem Jahr erinnern, wie ich noch in Naumburg war. Ich ging da allein vor dem Marientor spazieren; der Wind strich über die kahlen Stoppelfelder, die Blätter fielen gelb zu Boden und mich durchdrang es so schmerzlich: der blühende Lenz, der glühende Sommer, sie sind dahin! Auf immer dahin [- schon am 10. August als er das schrieb? - und schließlich bis zum nächsten Jahr doch nur!]! Bald [in fühestens 3 Monaten!] wird der weiße Schnee die sterbende Natur begraben! Das Laub fällt von den Bäumen, Der wilden Winde Raub; Das Leben mit seinen Träumen Vergeht zu Asch und Staub! BAW1.121

Sonderlich realitätsbezogen waren diese Betrachtungen nicht. Gibt es aber im Leben nicht auch etwas anderes, als Schmerz und Träume? Es dürfte für N nicht untypisch gewesen sein, dass er hier nur diese, die ihm so wichtig waren, erwähnte. Über alles andere wird - auch wenn es nur darum ginge, den Reim zu bedienen! - dagegen als unwichtig, kein Wort verloren.


Am 16. August 1859 notierte sich N:

Wenn ich abends auf den Schlafsaal komme, scheint gewöhnlich der Mond auf mein Bett [was wegen des Mondumlaufs um die Erde schlechterdings unmöglich ist, sondern - zu allabendlich gleicher Stunde nur gelegentlich mal vorkommen mag! - Aber mit Ns Zur-Kenntnisnahme von Naturereignissen war es nie weit her, - wie beispielsweise mit dem Blitz nach dem Donner!]. Es ist dies ein ganz eigentümliches Gefühl und mir wird merkwürdig zu Mute. Es ist ausgemacht, dass der Mond mit dem Geist des Menschen korrespondiert [übereinstimmt? - tatsächlich?]; die Nerven werden [als ein allgemeingültiges Gesetz?] durch eine Mondnacht mehr aufgeregt, als durch die wärmsten Strahlen der Sonne …..

Mir ist, wenn ich in die purpur erglühende Morgensonne blicke stets so unermesslich wohl; denn die flammende Tageskönigin übergibt dem jungen Tag die Herrschaft aber wenn es Abend wird, trauert meine Seele ….. Ich betrachte immer im Geiste das unermessliche All: wie wunderschön und erhaben ist die Erde und wie groß ist sie, da sie doch kein Mensch in all ihren Teilen kennen lernen kann, aber wie wird mir, wenn ich erst die unzählbaren Sterne, wenn ich die Sonne sehe und wer bürgt mir dafür [wozu? - und aufgrund von was?], dass dieses ungeheure Himmelsgewölbe mit allen den Gestirnen nur ein kleiner Teil des Weltalls ist und wo endigt dieses? Und [aus Ns maßloser Maßlosigkeit heraus geurteilt:] wir erbärmlichen Menschen, wir wollen den Schöpfer desselben verstehen, da wir seine Werke kaum ahnen können! BAW1.128

„Wohlan“, schrieb er irgendwann später dazu: „Meine derzeitigen Gedanken“, obgleich es doch Gefühle und Stimmungen waren; womit sich erweist, dass er sich selber später gerne mal wieder las. Unklar ist, was ihn außer dem Bedürfnis, sein Ich ins Universelle aufzublasen, zu diesen Zeilen angeregt hatte. Worte daraus benutzte er Anfang Oktober in einem Brief an die Mutter. „Wir erbärmlichen Menschen“ klingt nach tief sitzender Schlechtgestimmtheit oder depressiver Anwandlung, wenn nicht gar auch nach Menschenhass und Verachtung gegenüber der schwärmerischen Sehnsucht nach höheren Gefilden in Gefühl und „Geist“.


Am darauf folgenden 17. August findet die angetönte, sich ausschließlich um ihn selbst drehende Stimmung ihre stürmische Fortsetzung in den Worten:

- Vorbei, vorbei! Herz, willst du zerspringen? - O Gott, was hast du mir ein solches Herz gegeben, dass ich mit der Natur zugleich jubele und mich freue. Ich kann es nicht ertragen; schon sendet die Sonne nicht mehr warme Strahlen; die Felder sind öde und leer und hungrige Vögel sammeln für den Winter. Für den Winter! - So nah begrenzt sich Freude und Leid, aber der Übergang ist zermalmend. Vorbei, vorbei! - Vögel ziehen am blauen Himmel weiter in ein fernes Land und ich folge ihnen traurig mit dem schmerzergriffenen Herz. Welt, bist du nicht endlich müde, kannst nicht Bleibendes ersinnen; was nur keimet, blüht und pranget, muss vergehen, muss von hinnen ….. BAW1.129

Vielleicht handelt es sich hier um Zitate, um etwas, das er in dieser Form irgendwo gelesen hatte. Es klingt nach Vergangenem, nach nicht ganz auf der Höhe der Zeit. Darwins epochemachendes Werk über die Evolutionstheorie war gerade erschienen, das Denken der Welt nahm eine völlig andere Richtung als N es sich in seinem gefühlsseligen Schmachten wollte träumen lassen. Sein dandyhaft hochromantischer Weltschmerz war „mega-out“, veraltet und letztlich eh vor allem unzeitgemäßer Pubertätsballast. Andere besingen aus so gut wie gleichem Anlass ein holdes Mägdelein. Eine Beschränkung auf ein noch so hübsches Wesen konnte N aber nicht genügen. Er umarmte stattdessen - auch ein Ausdruck von einem maßlos in ihm nistenden Größenwahn! - lieber die ganze Welt - oder stattdessen sich selbst!

Und was für einen Sinn könnte man dem im Zusammenhang eher fragwürdig sich ausnehmenden Klageruf entnehmen oder unterlegen, dass „der Übergang“ vom Sommer zum Winter dermaßen „zermalmend sei“ dass es einen erschüttert? „Zermalmend“ ist ein starkes Wort! Für gewöhnlich geht es dabei um Tod oder Leben. Sicher berichtete N - wie immer! - auch hier nur von sich und seinen Gefühlen und Befindlichkeiten. Könnte es demnach nicht nur so sein, dass Er von ganz speziell seinen Schwierigkeiten kündete? Wie viel Mühe es ihm machte, sich auf unterschiedliche, neue Gegebenheiten einzustellen? Wie viel von ihm so oft angerufene „Selbstüberwindung“ ihn dies kostete?


Am 18. August 1859 notierte N ein Gemeinschaftserlebnis mit seinen Kameraden. Ein Text, der nichts davon ahnen lässt, dass er der ausgemachte Außenseiter in dieser Runde gewesen sein sollte oder tatsächlich gewesen wäre. - Im Gegenteil, die Lust mitzutun klingt aus jeder Zeile:

Die Schwimmfahrt fand gestern wirklich statt. Es war ganz famos, wie wir in Reihen abgeteilt unter lustiger Musik aus dem Tor marschierten. Wir hatten alle rote Schwimmmützen auf, was einen sehr hübschen Anblick gewährte. Wir kleinen Schwimmer waren aber sehr überrascht, als die Schwimmfahrt eine weite Strecke noch die Saale hinunter ihren Anfang hatte, worüber wir alle etwas kleinmütig wurden; als wir aber die großen Schwimmer aus der Ferne kommen sahen und die Musik hörten, vergaßen wir unsre Angst und sprangen in den Fluss; es wurde nun in derselben Ordnung geschwommen, wie wir ausmarschiert waren. Überhaupt ging alles recht gut; ich half mir so gut ich konnte; obgleich ich nirgends Grund hatte [woraus aber doch das „Schwimmen“ besteht!]. Auch das auf dem Rücken schwimmen benutzte ich öfters. Als wir endlich anlangten, empfingen wir unsre Kleidungsstücke, die in einem Kahne hinterdrein gefahren waren, kleideten uns schnell [an] und marschierten in gleicher Ordnung nach Pforta [zurück]. Es war wirklich wunderschön. BAW1.130

Derartig lebendige Schilderungen sind bei N äußerst selten. Die Schwimmfahrt und deren Beschreibung hat ihm spür- und sogar nachvollziehbar ausnehmend gefallen. Was auffällt und ein wenig stutzen macht, ist die dreimalige Betonung der „Ordnung“, die N beim Ausmarsch, beim Schwimmen und bei der Rückkehr in gleicher Weise zur Kenntnis genommen hatte, beachtete, berichtete und wohl in jedem Fall gut und richtig fand! - Weshalb fiel sie ihm in jeder Phase der Schwimmfahrt so sehr auf, dass er ihre Gleichartigkeit noch am nächsten Tag besonders vermerkte? War es der besondere Bedarf an „Schulgesetz“ in ihm? Die von außen gegebene Ordnung, gegen die er später so sehr rebellieren sollte? Eine Form der „gemütlichen Geborgenheit“, die ihm damit noch vermittelt war? Aus Anlass eines „Abenteuers“ mit offenem Ausgang, vor dem er verunsichert war und wohl auch erfüllt von der Angst „vor der Blamage“?


Unter dem Datum vom 23. August heißt es, ebenfalls noch aus diesen tagebuchartig geführten Aufzeichnungen aus seiner Lebensalltäglichkeit:

Der Herbst erinnert mich immer an meine zukünftige Stellung in der Welt [was in erster Linie wohl auf das für ihn vorgesehene Pastorenamt gemünzt gewesen ist und wäre dann wohl als ein erstes Fünkchen Abwendung zu deuten, aber es folgt in gut eineinhalb Jahren ja noch - in leidlich intakter Herzensgläubigkeit! - die Vorbereitung zur Konfirmation!]; denn die Jugend soll dann noch Früchte tragen. Aber es ist mir ein schrecklicher Gedanke, dann nur zu genießen was einstige Mühe heimgebracht. Meine Seele muss in ewigem Frühling stehen [sich gleichsam aus sich selbst heraus immer wieder erfinden: Seine Form des angeblich auf den antiken Dichter Pindar, 522-446 v. C. zurückgehende „Werde, der du bist“!], denn wenn erst die rosige Blütenzeit vorüber ist, dann ist auch mein Leben vorüber. Wie schwer wird es mir, den irdischen Frühling zu missen, aber um wie viel bittrer jenes! BAW1.137

Genau genommen blieb unklar, worauf er sich mit den letzten Worten beziehen wollte. Insgesamt entspricht die Notiz seiner allgemeinen, romantisch weltschmerzlichen Sehnsucht nach etwas Neuem, ihn Begeisterndem, ganz Anderem, Noch-nicht-dagewesenem, wofür es zu „kämpfen“ lohnen würde. Derlei sollte ihn in den nächsten Jahren noch viel bewegen.


Unmittelbar anschließend gab es eine „heroische Geste“, zu deren Verständnis jedoch vorweg der Inhalt einer historischen Anekdote gehört: Während der Belagerung Roms durch den Etruskerkönig Lars Porsenna, ca. 508 v. C., drang der Römer Gaius Mucius Scaevola in das Lager der feindlichen Truppen des Etruskerkönigs ein, um diesen zu töten. Dort aufgegriffen hielt Scaevola als Beispiel für die Standhaftigkeit der Römer vor den Augen Porsennas ungerührt seine rechte Hand in ein Feuer. Von einer solchen Standfestigkeit beeindruckt brachen die Etrusker die Belagerung Roms ab. Es wird vermutet, dass Scaevola an einer krankhaften Schmerzunempfindlichkeit (einer Analgesie als angeborenem Defekt) litt. Deshalb gelang es ihm, die Etrusker derart zu verblüffen und sie glauben zu machen, alle Römer wären so wie er: „Unverwundbar“! Und - logische Folgerung! - Porsennas Mannen bevorzugten es, lieber unversehrt abzuziehen.

Die daran geknüpfte „heroische Legende um N“ stammte natürlich von Ns alles, was diesen betraf, geerbt habenden Schwester! Paul Janz „bearbeitete“ und erzählte sie gemäß seiner Bewunderung für N auf folgende Weise:

Dann wieder verblüffte N seine Mitschüler durch ganz überraschende Handlungen. So berichtet seine Schwester aus seinem ersten Tertianerjahr in Pforta einen Vorgang, der [die Anderen] ….. aufs heftigste erschreckte. »Die jüngeren Knaben sprachen von [dem wohl gerade in der letzten Lateinstunde durchgenommene] Mucius Scaevola und ein etwas weichlich Gesinnter mochte wohl bemerkt haben: das wäre doch zu grässlich und fast unmöglich, sich so ruhig die Hand verbrennen zu lassen.

»Warum?« fragt Fritz ruhig, nimmt [in seiner Fehleinschätzung der Realität!!] ein Bündelchen Streichhölzer, zündet sie auf der flachen Hand an und streckt sie, ohne zu zucken, gerade aus. Die Knaben waren starr vor Erstaunen und Bewunderung. Plötzlich entdeckt der Obergeselle [ein Schüler aus Oberprima mit Aufpasser-Funktion] den Vorgang, springt hinzu und schlägt ihm [N] die Zündhölzer aus der Hand, die schon ziemliche Brandwunden davongetragen hatte. Die Geschichte wurde vertuscht, da sich der Obere gewissermaßen dem Tutor und unserer Mutter gegenüber verantwortlich fühlte, indessen vertraute er sie mir [tatsächlich? - der damals gerade dreizehnjährigen Schwester?] an und meinte: Ich sollte doch Fritz bitten, dass er nicht wieder solche schrecklichen Sachen macht«, was dem Wortlaut nach eindeutig Elisabeths Art zu reden entsprach.

Die Schwester [so berichtete Paul Janz in diesem Zusammenhang weiter] deutet diesen Vorfall als eine »heroische« Handlungsweise. [Erich Friedrich] Podach [1894-1967, ein ungarischer Literaturwissenschaftler, Ethnologe und Spezialist in Sachen Friedrich N, der N philosophisch interpretierte] sieht in ihm »aktive Leibesverachtung und Leidensbejahung«. Uns [Richard Blunck und Paul Janz, den beiden typischen N-Vergötterern] will scheinen, dass dieses Verhalten auf derselben Linie liegt, wie das schon geschilderte des kleinen Vorschülers im Platzregen [des Jahre 1850].

Hinter dem körperlichen Heroismus und der Leibesverachtung steht ein stärkerer Trieb, der der Selbstüberwindung und der Wille, das einmal angenommene Gesetz sowohl wie das eigene Ideal bis zur letzten Konsequenz auch zu leben. Hier findet ein Wahrhaftigkeitstrieb von antikem Ausmaße [á la „König Ödipus“ war wohl gemeint!] seine erste kindliche Ausdrucksform, ein Wahrhaftigkeitstrieb, der es nicht erträgt, dass der Mensch ohne Entscheidung schielend zwischen Ideal und Praxis sich verhält, ein Wahrhaftigkeitstrieb [zum dritten Mal dieses unheilträchtige Wort!] der von vornherein in einem unheimlich anderen geistigen Raum als dem des 19. Jahrhunderts [nämlich dem in weit zurückliegender mythischer Zeiten!] zu Hause ist, in dem Raum der »höchsten Idealität« [aus „griechischer Klassik“ oder noch mehr? Vollkommen jenseitig? - Oder vielleicht auch nur einer so „realitätsfernen Moral“ wie Deutschland zwischen 1933 und 1945?], in dem er [N] als in seinem heimatlichen Element zwei Jahre später Hölderlin findet. J1.82 [das wäre 1861, Ns „Emerson-Jahr“, in dessen Zusammenhang Paul Janz jedoch hinsichtlich Emerson keine angemessene Ausdeutung zustande brachte!] …..

Johann Christian Friedrich Hölderlin, 1770-1843, war einer der bedeutendsten deutschen Lyriker dessen Werk in der deutschen Literatur um 1800 neben der Weimarer Klassik um Goethe und der Romantik eine selbständige Stellung einnimmt. Er erkrankte 1801 an einer Schizophrenen Störung. Abgesehen davon, dass der letzte Teil des Satzes von Paul Janz etwas schwierig zu deuten ist, strotzt das Ganze nur so von superlativistischem Pathos - in Hölderlinschen Überhöhungen, die N aber erst im Jahre 1861 zugänglich - und zu der Zeit dann hier auch erläutert - werden. Das Leben aber ist anders. Zum Zeitpunkt des Scaevola-Geschehens, auf dem „Schulhof“ in Pforta - auch wenn dieser Pfortaer Außenbereich als „Musengang im Schulgarten“ bezeichnet wurde - ging es um Schuljungen, um deren Streiche und deren Hackordnungen: Ein Geflecht, in dem Hampelmänner gegen Mutproben aufgewogen wurden. Die Verbrennung an Ns Handfläche kann nicht derart gravierend gewesen sein, dass es aufgefallen wäre oder ihn, ohne Versorgung der Wunde in der „Krankelei“ behandeln zu lassen, am Schreiben gehindert hätte, sonst hätte sich dazu zwangsläufig ein Eintrag in das Protokoll der Pfortaer Krankenstube ergeben. Die Einschaltung des um zwei Jahre jüngeren Mädchens Elisabeth als „Vermittlerin“ in dieser Angelegenheit, bei der sie gar nicht dabei gewesen sein konnte, ist sicherlich eine hinzugedichtete Legende ihrer Geltungssucht. Das Ganze war also wohl gar nicht so schlimm und in seiner Originalversion entschieden zu wenig, um daraus für den Wunderbruder eine wirkliche frühe, Staunen erregende „heroische Tat“ in dessen Biographie zu flechten.

Als schlichte Mutprobe genommen und unter der Voraussetzung, dass N von dem möglichen Vorkommen einer angeborenen Analgesie des Mucius Scaevola keine Ahnung gehabt hatte, bleibt als Motiv eigentlich nur ein ganz naives „Das-kann-ich-auch“, was N insofern zuzutrauen wäre, als es seinem „herrscheramtlichen“ Daseinsgefühl - wie er es anlässlich seines „besungenen“ Besuches der Schönburg beschrieben hatte! - ohnehin schwer fiel, zu erkennen, dass er nicht, wie tausendfach nachgeplappert, immer so ohne weiteres „oben“ und „die Anderen“ unten zu sein hatten. Hier ergab sich ganz einfach eine Situation, in der er, als Primus gar, in einer gerade angezweifelten Situation einmal mehr „Mut“ zeigen konnte und musste als irgendwelche, sich vielleicht über N mittels karikierender photographischer Hampelmänner amüsierende „etwas weichlich Gesinnte“ es vermutet hätten. Die letzte Bemerkung bezieht sich nämlich auf eine von Paul Deussen überlieferte Anekdote, dass jemand aus einer Photographie von N einen Hampelmann gefertigt und im Schulgarten vorgezeigt hatte. Genaueres dazu aber erst am Ende des Jahres 1860.

Wirklich bemerkenswert an diesem Vorfall ist eigentlich nur die Reaktion der um Stilisierung und Erhöhung bemühten N-Verherrlicher: Die Vieles schönfärbend entstellende Schwester wagte es noch nicht, sich zu diesem Anlass allzu weit vorzuwagen. Sie begnügte sich mit so harmlosen Worten wie „heroische Handlungsweise“, was eben auch als ein aufgedonnerteres Wort für „Mutprobe“ genommen werden konnte. Aber die Nachfolger brauchten zu ihrer Befriedigung mehr; bei allem Zweifel, den sie so hie und da hegen mochten, waren sie doch bereit, wesentlich weiter zu gehen und an sprachlichem Dekor mehr zu investieren. Aus der jugendlich geltungssüchtigen Unüberlegtheit wurde - in Rückprojektion! - der freudig zur Kenntnis genommenen „berühmten philosophischen Geistesgröße“ und besser zu dieser passend, „ein stärkerer Trieb“ erkannt, jener „der Selbstüberwindung“ und dazu „der Wille, das einmal angenommene Gesetz sowohl wie das eigene Ideal bis zur letzten Konsequenz auch zu leben.“ - Das ergab den Worte-Qualm des Effektes wegen!

Was sollte denn - nüchtern festgestellt! - Ns „eigenes“ und sogar „höchstes“ Ideal zu dem Zeitpunkt gewesen sein? Es ging damals darum „denen mal zu zeigen“ wie viel Mumm in ihm steckte. Das dürfte auf dem Pfortaer Schulhof alles gewesen sein, worum es gegangen war, denn von dem was kommen sollte, hatte doch N selbst noch nicht die geringste Ahnung! Er wollte nur zeigen, dass er zu etwas fähig war, zu denen sie alle den „Mut“ - und auch den Bedarf an Selbstdarstellung! - nicht besitzen würden. Er wollte „oben“ sein. Die N-Hoch-Jubelung war damit aber noch nicht am Ende: Es wurden Vergleiche bemüht, die ins Mittelalter verwiesen: „Leibesverachtung“, wie es die Flagellanten (die sich selbst Geißelnden) und noch heute muslimische Möchtegernmärtyrer zu betreiben lieben und dazu auch noch einsiedlermönchische „Leidensbejahung“, um den Unterschied zwischen „dem Jammertal des Lebens und der Welt“ gegenüber dem „ersehnten Himmelreich“ so deutlich wie nur irgend möglich aufscheinen zu lassen.

Aber auch das war noch nicht genug. Es musste noch weiter gesteigert werden, in Theorien und Worten: Stärker und maßloser die eigenen Wünsche ausdrückend und den Größenwahn als Normalität betrachtend: Hier fände - dreimal betont! - „ein Wahrhaftigkeitstrieb von antikem Ausmaße“ statt. Man bedenke, was damit, über Jahrtausende hinausdeutend, ausgesagt wurde! Als ginge es - mindestens! - um den „kindlichen Jesus im Tempel“! - Und dessen „erste kindliche Ausdrucksform, ein Wahrhaftigkeitstrieb, der es nicht erträgt, dass der Mensch ohne Entscheidung schielend zwischen Ideal und Praxis sich verhält, ein Wahrhaftigkeitstrieb, der von vornherein in einem unheimlich anderen geistigen Raum als dem des 19. Jahrhunderts zu Hause ist!“ - Was für Töne! - Und dann wurde noch ein Superlativ angehängt: - der „höchsten Idealität“! - Sakrosankt! Einfach nur heilig, mit Gloriole und schwebendem Flämmchen der Erleuchtung über dem Haupt! Eine Aneinanderreihung ausschließlich positiv besetzter oder so zu denkender Eigenheiten und Absichten! Daran mag ja, je nach Sichtweise der eigenen Vorlieben, also dem, was man sehen möchte, etwas sein, aber es wird bei dem fünfzehnjährigen mit seinem „Ehrgeiz bis zum Defekt“ NR.320 absolut nicht so prinzipiell in Hinsicht auf künftige welthistorisch anzusetzende Ungeheuerlichkeiten vor sich gegangen sein, sondern dürfte sich eher um spontane Selbstdarstellung gehandelt haben, bei der es eben ohne Weiteres auch mal Risse und Löcher in seinen ständig zu flickenden Hosen gab!


Am 22. September 1859 berichtete N der Mutter von guten Noten in Examensarbeiten: Lauter „Einser“ und „zweier“ und die Versetzung: „Nun, Sonnabend bin ich glücklicher Obertertianer!“ - und wieder einmal ging es um Hosen: „Es ist mir nämlich ein großes Malheur passiert, dass meine schwarze gute Hose zerrissen ist ….. Ich werde überhaupt auch die Klassenpartien deshalb nicht mitmachen können, da meine andren Hosen (Turnhosen) durch Blutflecke am Knie entstellt sind und meine alten schwarzen [ebenfalls] zerrissen. Das ist doch rechte Hosennot! (95) Von zerrissenen, aufgeplatzten, zu flickenden Hosen ist oft die Rede, was darauf hindeutet, dass er zum Einen mit dem Umgang selbiger nicht sonderlich zimperlich und zum Anderen an allerlei Wildheiten und Rangeleien unter den Mitschülern angemessen beteiligt war.


Nebenbei erfährt man von Planungen, Touren, von Reisen der Mutter hilfsweise zu Verwandten und von Wanderungen, - ein wenig fast wie in Fontanischen Romanen. Ns erstes Jahr in Schulpforta war vorüber und da erschien - unter etlichen anderen neuen Schülern - in seiner Klasse ein Rheinländer Pastorensohn, mit dem es, nicht ohne zwischenzeitliche Spannungen, zu einer recht tiefen Freundschaft kam, die bis zum Ende seines ersten Studienjahres in Bonn, 1865, sehr eng und vertraut bleiben sollte. Danach blieben beide in immer loserem aber lebenslangem brieflich geführtem Kontakt, - mit einigen wenigen, fast immer aber problematisch verlaufenden Begegnungen dazwischen.


Die Aufnahme von Paul Deussen als Alumnus verlief in Schulpforta sehr ähnlich wie vor Jahresfrist von N selber. Den Verlauf der Aufnahme als Alumnus in Schulpforta beschrieb Paul Deussen kurz nach Ns Tod 1901 und ausführlicher rückblickend auf sein Leben 1922 in seiner Biographie mit dem Titel „Mein Leben“. In dem darin enthaltenen Kapitel „In Schulpforta, 1859-1864“ vermittelte er einen lebendigen Eindruck von der dortigen und damaligen Realität, - in einer Weise, wie sie dem stets viel zu sehr mit sich selbst beschäftigten N bezeichnenderweise entfernt nicht gelungen und überhaupt nicht möglich war, so dass das damalige Schulpforta Ns am besten mit Paul Deussens Worten beschrieben wird:

Die beschränkte Vermögenslage der Eltern war wohl ursprünglich der Grund dafür gewesen, dass man schon vor einigen Jahren um eine der wenigen königlichen Freistellen ….. nachgesucht hatte ….. Das Gesuch war auf die Zukunft vertröstet worden ….. Als während der Herbstferien 1859 in Oberdreis [30 km östlich des Rheins in der Höhe von Bad Honnef, wo der Vater eine Pfarrstelle innehatte] die überraschende Nachricht eintraf, dass mir eine königliche Freistelle in Pforta [und das war von seinem Zuhause nicht, wie bei N, „gleich um die Ecke“] zuerkannt worden sei und dass ich mich dort Ende September zur Aufnahmeprüfung einzufinden habe ….. Das Resultat der Prüfung war, dass ich, der ich in Elberfeld als einer der Besten nach Untersekunda aufgerückt war, in Pforta als Letzter in der Obertertia meinen Platz zugewiesen erhielt.

Pforta war für mich eine neue Welt und eine solche, in die ich mich anfangs schwer finden konnte. Ich war schon zu sehr an ein freies Leben gewöhnt, um die Schulordnung nicht als eine schwere Fessel zu empfinden und mein harmloses, offenherziges Rheinländergemüt passte in das zeremonielle und zu strengem Rangesunterschied neigende Wesen des Ostens nicht hinein. Das Ganze kam mir lächerlich vor und ich versuchte zu Anfang die strenge Schulordnung, die Unterordnung unter Stuben- und Tischältesten humoristisch zu nehmen, kam aber damit schlecht an; mein freies Wesen wurde als „unverschämt“ bezeichnet und veranlasste Bedrückung von oben, Quälereien von den mir nebengeordneten Kameraden …..

Alle 180, auf die sechs Klassen von Oberprima bis Untertertia verteilten Alumnen erhielten Unterricht und Nahrung, Wohnung und Schlafstelle unter ein und demselben Dach, in einem alten, riesengroßen Klostergebäude. Eine Treppe hoch im Schulhaus gelangte man von einem langen, zum Spazierengehen benutzten Korridor in die fünfzehn Wohnstuben, gewöhnlich drei, stellenweise zwei oder vier Tische enthaltend, an deren jedem ein Primaner, ein Sekundaner und zwei Tertianer zu sitzen pflegten. Der Primaner hatte den Fensterplatz und einen größeren Schrank mit Pultklappe, die übrigen hatten ihre Schränke an den Wänden und ihren Sitz am Tische, von dem sie während der Arbeitsstunden nicht aufstehen durften.

Die Art, wie Deussen Pforta beschrieb war realistisch und himmelweit entfernt von dem, wie N die Welt sah. Was er ihm zur Kenntnis kam lag insgesamt weit außerhalb von Ns Wahrnehmungshorizontes. Es gibt von N keine Darstellung von der ihn umgebenden „Welt“ in diesem Stil!

Zwei Treppen hoch waren unter dem Dach und teilweise mit Mansardenfenstern versehen die sechs großen Schlafsäle [mit also je rund 30 Betten] eingerichtet, zu welchen man abends um 9 Uhr unter Verlesung der Namen in Gegenwart des wachthabenden Lehrers hinaufstieg, nur mit Pantoffeln und Strümpfen, Hose, Hemd und Rock bekleidet, das Handtuch mit Seife, Glas und Zahnbürste mit hinaufnehmend. Man schlief in eisernen Bettstellen; am Fußende befanden sich Hängevorrichtungen sowie der Name des Inhabers. Frühmorgens im Winter um 6, im Sommer um 5 Uhr, mischte sich in die letzten süßen Morgenträume das fatale Läuten der Schulglocke und alsbald ertönte der Ruf des Schlafsaalinspektors: Steht auf! ….. macht rasch!“

Dann musste man bei Strafe in einer Minute aus dem Bette sein, ergriff Handtuch, Glas und Zahnbürste und eilte damit zwei Treppen hinunter in die Waschstube. In fürchterlicher Enge drängten sich hier die 180 Knaben um die fünfzehn vorhandenen Waschbecken [also jeweils 12], welche man sich dadurch sicherte, dass man bei dem Inhaber oder seinem letzten Nachfolger ‚“besetzte“ und dann, immer in der Angst sich zu verspäten, abwarten musste, bis man an die Reihe kam. Mitten durch die Waschstube lief eine Rinne, in die das Wasser ausgegossen und über der die Zähne geputzt wurden …..

Eine derart realistische Darstellung der Pfortaer Verhältnisse wäre N niemals in den Sinn gekommen! Das widersprach fundamental seinem süchtigen Bedarf nach Überhöhung!

Um 6½ oder 5½ Uhr musste alles in der Aula zum Gebet versammelt sein, dann gab es auf den Stuben Brötchen und Milch und von 7 oder 6 bis 12 Uhr waren teils Lektionen, teils Repetierstunden auf den Stuben. Um 12 Uhr zog man unter Aufsicht des Lehrers in den Speisesaal; einer der Inspektoren sprach ein Gebet und dann stimmten alle 180, vor ihren Plätzen stehend, in einen alten lateinischen, die Trinität [die Dreieinigkeit von Gott Vater, Sohn und Heiligem Geist] verherrlichenden Gesang ein, der jedem gewesenen Pförtner solange er lebt in den Ohren klingen und dröhnen wird. Die Worte lauteten: Gloria tibi Trinitas Aequalis una deitas, Et ante omne saeculum Et nunc et in perpetuum PDL.62ff [zu Deutsch: Ruhm, Ehre deiner Dreifaltigkeit, gleich in einer Gottheit, sowohl vor aller Zeit als auch in Ewigkeit].

Weder das schlechte Latein noch die in der freisinnigen Pforta auffallende dogmatische [streng an Glaubenssätze gebundene] Engherzigkeit dieser Strophen wurden von den auf das Essen gerichteten Gemütern empfunden. Kaum war der Gesang verhallt, so stürzte sich alles auf die Plätze und das Geklapper der Teller und Löffel mischte sich in die nach längerem Schweigen nunmehr zwanglos fließende Unterhaltung. Das Essen ließ zwar nach der Qualität manches zu wünschen übrig, war aber, namentlich die Fleischrationen, reichlich und als ich von Pforta nach Jahresfrist in die Ferien zurückkehrte, war ich einen halben Kopf größer geworden.

Mittags nach dem Essen war bis 2 Uhr schulgartenfrei: bis ½2 Uhr durfte sich ohne besondere Gründe niemand auf den Stuben blicken lassen. Im Schulgarten war der südliche, mit Buschwerk bewachsene Abhang in sechs Teile zerlegt und den sechs Klassen als ihre „Plätze“ zugewiesen. Das Rauchen war damals allen streng verboten, doch übten es die Primaner, welche nicht mehr unter Aufsicht der Inspektoren, sondern nur der der Lehrer standen, auf dem Primanerplatze wie auch auf Spaziergängen und im Wirtshause; und auch auf dem Obersekundanerplatze konnte man täglich duftige blaue Wolken aufsteigen sehen; und die Inspektoren enthielten sich des Eingreifens, indem sie den Brauch gleichwie ein altes Privilegium respektierten.

Geregelt, wie der Vormittag, waren auch die weiteren Tagesstunden. Von 2 bis 4 Uhr waren Lektionen, von 4 bis 5 Uhr Lesestunde, d.h. eine Unterrichtsstunde, welche der Primaner den an seinem Tisch ansässigen und ihm unterstellten Tertianern zu geben hatte. Von 5 bis 7 Uhr war wieder Arbeitsstunde, um 7 Uhr Abendbrot und schulhausfrei bis 8 Uhr, von 8 bis 9 Uhr Arbeitsstunde und Gebet und um 9 Uhr wurden Sekundaner und Tertianer auf die Schlafsäle hinaufgezählt, während die Primaner erst um 10 Uhr nachfolgten.

Diese ausgezeichnete Hausordnung unterlag der Aufsicht eines einzigen Lehrers, der jede Woche wechselte, des sogenannten Hebdomadarius, welcher mit Hilfe eines Famulus, „ein Ehrenposten“, zu dem nur die besten Schüler gelangten, von Morgen bis Abend die Ordnung im Speisesaal, Beetsaal und Schlafsälen aufrecht hielt, auch während der Arbeitsstunden. Als Stubenälteste der 15 Stuben funktionierten 15 Inspektoren, eine Würde, welche den ältesten Primanern für ein bis zwei Semester zufiel. Sie sorgten für Ruhe und Ordnung in den Stuben, während zwei unter ihnen als Wocheninspektoren auch die Disziplin im Beetsaal, vor dem Speisesaal und auf den Schlafsälen in Abwesenheit des Lehrers aufrechtzuerhalten hatten.

Über die Primaner hatten sie keine Gewalt, aber Sekundaner und Tertianer mussten ihren Ordnungen folgen; die Tertianer waren außerdem noch in Arbeit und Betragen der Aufsicht des an ihrem Tische präsidierenden Primaners als „Obergesellen“ unterstellt. Auch strafen durften die Inspektoren. Den Sekundanern erteilten sie Striche, bei deren vieren in einer Woche der Delinquent auf der Inspektionsstube dem Lehrer angezeigt wurde. Tertianer wurden bei kleinen Vergehen von den Inspektoren durch den Ruf „Zu mir!“ veranlasst, sich abends bei dem Inspektor zu stellen, der dann den Fall näher untersuchte und je nach Umständen den Betreffenden eine Strafarbeit, ein sogenanntes Kapitel auferlegte.

Größere Vergehen, wie Rauchen, Kochen, Prellen (Verlassen der Anstalt ohne Erlaubnis) usw. wurden vor die Synode, d. h. die jeden Sonnabend tagende Versammlung der Lehrer, gebracht und bei Primanern und Sekundanern je nach Umständen mit zwei bis drei Stunden Karzer [verschärfter Arrest] bestraft. Eine mildere Strafe bestand in der „Dispensation“ von dem sonntäglichen Spaziergange. Die härteste Strafe, welche jedoch nur selten und auch dann fast ausschließlich in den unteren Klassen verhängt wurde, war das „Karieren“. Der betreffende erhielt kein Mittagessen und musste, mit einem Buche in der Hand und allen sichtbar, zusehen, wie die andern speisten. Wer es erst so weit getrieben hatte, der stand in Gefahr, bei der ersten Gelegenheit „geschwenkt“, d. h. fortgeschickt zu werden. Diese Möglichkeit, widerspenstige oder unfähige Schüler zu entlassen, sicherte der Anstalt nicht nur das Vorrecht, nur begabtere Schüler aufzunehmen und zu behalten, sondern übte auch auf das Betragen der Schüler einen starken Druck aus. Es wurde im Ganzen sehr wenig, in den oberen Klassen fast gar nicht mehr gestraft und doch erhielt sich alles im schönsten Gleichgewicht.

So hart es auch dem Neuling werden mochte, sich einer so streng geregelten Hausordnung einzufügen, so lag doch eine Art Ersatz darin, dass man von Semester zu Semester neue Privilegien eroberte, welche umso höher im Werte standen, je länger sie vorenthalten blieben. Allen war es erlaubt, am Sonntagnachmittag einundeinehalbe Stunde spazieren zu gehen, den Primanern war wenigstens späterhin täglich bis 2 Uhr Spazierengehen und Besuch bestimmter Wirtshäuser gestattet. Sie pflegten dann eiligst nach dem eine Viertelstunde entfernten Almrich zu streben, wo bei Kaffee, Bier oder Billard auch dem verbotenen Rauchen gefrönt wurde.

Noch ist in Betreff des äußeren Lebens zu bemerken, dass schon während meiner Pförtnerzeit die strenge Schulordnung nach und nach sich etwas milder gestaltete, namentlich nach Fertigstellung des neuen Waschsaales, in welchem jeder sein eigenes Waschbecken haben konnte. Zwar wurde seitdem schon fünf Minuten vor 5 oder 6 Uhr aufgestanden und nach zwanzig Minuten musste jeder fertig angezogen auf seinem Platze sitzen, worauf dann eine habstündige Arbeitszeit ….. und im Anschluss daran Frühstück, Morgenandacht im Betsaal und die erste Lektion folgte. Dafür aber war am Nachmittag von 4 bis 5 Uhr schulgartenfrei ….. PDL.64ff


In diesem „Biotop“ - von dem es seitens N, weil er „das“ in seiner gesamten „Abmessung“ niemals ins Auge gefasst hatte, entfernt keine annährend ausführliche Beschreibung gab - verbrachte N bis zum Abitur 6 Jahre, gerade 4 mal so viele Jahre sollten ihm von 1864 bis Anfang 1889 als sein geistig bewusstes Leben danach noch beschieden sein; - deshalb an dieser Stelle die in Form von Aphorismen unmögliche, systematisch geordnete Mitteilung dieses recht detaillierten Berichtes des im Gegensatz zu N sehr sportlichen Schulkameraden und späteren Freundes Paul Deussen, der „noch in Obertertia“, also noch in seinem ersten Pfortaer Jahr 1859/60 einen schweren Sportunfall erlitt, während er beim Üben des schon oft ausgeführten Riesenschwungs am Reck, den N nie geschafft hatte, abrutschte, stürzte und mehrere Wochen Krankenlager zu seiner Wiederherstellung brauchte. Bezeichnenderweise ist von diesem unmittelbaren Klassenkameraden in Ns Briefen der Pfortaer Zeit nie die Rede; weder von dessen spektakulärem Unfall, noch von dem Kranken, aber auch später nicht von dem wieder gesund und „Freund“ gewordenen. Über die erste nähere Begegnung mit N berichtete Paul Deussen:

Also schrieb Friedrich Nietzsche:

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