Читать книгу Also schrieb Friedrich Nietzsche: "Zuletzt wäre ich sehr viel lieber Basler Professor als Gott; aber ..." - Christian Drollner Georg - Страница 17

1860: Die Zeit der „Germania“

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In Frankfurt am Main stirbt der N unbekannte deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer. Der spätere Basler Professorenkollege, Jacob Burckhardt, 1818-1897, ein Schweizer Kulturhistoriker, veröffentlicht „Die Kultur der Renaissance in Italien“ als Standardwerk dieser Epoche. Die Firma Krupp entwickelt sich zum größten deutschen Schienen-, Eisenbahnräder- und Waffenfabrikanten. In den USA beginnt der 5 Jahre dauernde Sezessionskrieg mit dem Endergebnis der Aufhebung der Sklaverei in den USA.


Für den 5. bis 16. Januar 1860, also für 11 Tage, enthält das Pfortaer Krankenbuch für N den Eintrag, wegen „Katarrh“ auf der Krankenstube. J1.128


Von der „Krankelei“ berichtete N am 8. Januar 1860 an die Mutter in Naumburg:

Liebe Mamma! - Ich danke Dir, liebe Mamma und dem Onkel viele Mal für euren lieben Besuch. Warum hast du nicht den Hr. Doktor besucht? Er hatte wenigstens von deinem Kommen und dem Tode des Großpapas erfahren. Wir hätten uns bei ihm doch länger sprechen können. - Seid ihr denn bei dem stürmischen Wetter glücklich wieder zurückgekommen? - Es tut mir heute am Sonntag recht leid, dass ich nicht nach Naumburg kann. Denn hier [auf der Krankenstube] ist es sehr langweilig; außer mir ist nur noch einer hier. Ich schicke dir auch meine Kiste wieder, mit etwas schmutziger Wäsche. Sehr nötig brauche ich jetzt Papier und Stahlfedern. - Bitte schicke mir doch auch meinen Heliand [ein frühmittelalterliches, altsächsisches Großepos aus der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts; fast 6.000 stabreimende Langzeilen über das Leben von Jesus Christus) damit ich auf der Krankenstube doch etwas zu lesen habe ….. Denke, schreibe, schicke recht bald an mich, vielleicht besuchst du auch Deinen FWN (Sonntag) (124)

An wichtigen zeitgenössischen Informationen bot Pforta seinen Schülern herzlich wenig.


Am 13. Januar 1860 und immer noch auf der „Krankelei“ schrieb N an Tante Rosalie in Naumburg:

Meine liebe Tante! Wie gern möchte ich heute an Deinem Geburtstage zugegen sein und Dir meine Wünsche bringen! Aber die Krankenstube, die ich immer noch [seit dem 5. Januar] mit meinem Besuch beehre, hindert mich daran. Der liebe Gott möge auch in diesem Jahre stets mit Dir sein und Dich mit himmlischen und irdischen Gütern aufs reichlichste segnen! Er beschütze Dich gnädig vor Krankheit und andern Unfällen und lasse Dich noch recht viele Jahre erleben! [Zu jener Zeit bewegte sich N unangefochten in den Konventionen und Gläubigkeitsfloskeln seiner Zeit, - frei noch von den geringsten Anzeichen, dass irgendetwas davon keine Gültigkeit mehr würde haben können!] Mir aber bewahre Deine Liebe auch fernerhin - denn auch ich bin sehr oft in Gedanken bei Dir und erinnere mich der schönen Stunden, die ich bei Dir verlebt habe. - Ich hätte Dich so gern diesen Sonntag besucht; aber ich fürchte, dass mein Unwohlsein mir das nicht erlauben wird ….. Mein Husten ist nur noch selten, aber der Herr Doktor gestattet mir doch nicht, herüberzukommen [in den normalen Schulbetrieb], besonders da es jetzt wieder kälter geworden ist ….. (125)


Zwei Tage später schrieb er an seine Mutter in Naumburg:

Liebe Mamma! Endlich bin ich von der Krankenstube zurückgekehrt. Der Hr. Doktor wartete immer auf einen etwas milderen Tag. Mein Husten ist fast ganz vorüber. Ich trage aber doch den Schal noch ….. Nächsten Sonntag werde ich in unsre Wohnung kommen; ich freue mich sehr darauf. - Seid ihr alle ganz wohl? ….. (126)


Mitte Februar 1860 schrieb N an seinen Freund Wilhelm Pinder in Naumburg:

Lieber Wilhelm! Unser Leben in Pforta ist weiter nichts als ein beständiges Erinnern und Hoffen. Während nun das erstere mitunter auch recht traurige Vergleiche mit früheren Zeiten zulässt [des Domgymnasiums? - oder gar in viel fernere, griechisch heroische Zeiten weisend?], so stärkt und tröstet das zweite [das „beständige Erinnern und Hoffen“?] wieder mit dem süßen Balsam der Erwartung und überhebt uns aller Gedanken an die kalte langweilige Gegenwart [die unter den Freunden mit inbrünstiger Missbilligung und hehrer Verachtung noch auf Jahre hinaus mit dem erbarmungslos abwertenden Begriff „Jetztzeit“ belegt wurde!]. Jetzt liegen die goldnen Weihnachtstage hinter uns, schon von dem leisen Duft der Ferne überzogen [die wonach riecht?], aber desto heller ergrünen vor uns die freudenreichen Fastnachtstage; [womit der nächste Welt- und Wirklichkeitsfluchtpunkt angesteuert und sehnsuchtsvoll erwartet wurde:] und über diesen erheben sich noch, wie über die nächsten Hügel noch weithin die Berge ragen, von lieblicher Bläue umhüllt, die heiligen Osterwochen. Ja, das Hoffen ist unser Himmelreich - die Seele sucht so gern einen Punkt, wo sie Erquickung hofft, wo eine Goldader die trägen Gesteine durchbricht [und mit einem bunten Strauß vieler blumiger Worte eine illusionäre Gegenwelt gezaubert wurde. Diese Erwartungen sollten N einen gewissen Halt vermitteln, weil er in sich selber keinen irgendwie und wo nicht nur auf ihn selbst bezogenen Halt besaß; - er sich aber nach einem solchen als „höhere Ordnung“ sehnte!].

Weißt Du schon, wo ich in den nächsten Ferien wahrscheinlich hinreisen werde? Nach jenem lieben Plauen, das mir wirklich einige der lieblichsten Jugenderinnerungen [wieder nur auf ihn selbst bezogen!] zurückruft. So gedenke ich noch einer reizenden Wiese, die rings von grünen Hügeln eingefasst, von zahlreichen Quellen durchwässert, mir einst das Erwachen der Natur enthüllte ….. das erinnert mich immer an das so einfach natürliche Lied: Der Frühling ist kommen so bald, so bald und streut seine Wonne auf Flur und Wald. Und Liebe und Leben und Freude und Glück das kehrt mit dem nahenden Lenze zurück. Die Wolken so duftig so rein wie ein See - O könnte ich sterben vor Lust und Weh! (129)

Als Gegenpol zu den „Gedanken an die kalte, langweilige Gegenwart“ wurde romantische Weltflucht gepflegt und getrieben, durch etliche Jahre hindurch ein antrainiertes Empfinden der Abneigung, ja sogar der rundum geltenden Verneinung gegenüber der unvergoldeten Wirklichkeit, deren Annehmlichkeiten man nicht wahrnehmen wollte. Das war ein Dauertraining in der Erwartung und im Erhoffen einer irgendwie „besseren“, „höheren“, verklärten Welt. Vergebliches Hoffen auf und Erwarten von befriedigenden, d.h. ihn erhebenden Höhepunkten stärkten seinen Ekel - ein künftig gern von ihm gebrauchtes Wort, besonders im „Zarathustra“ dann! - vor der „kalten, langweiligen [und nichts als nur tatsächlichen!] Gegenwart“. Er war stets auf ästhetizistisch Besonderes aus, auf Seltenes, auf Hervorragendes, über das allein er sich freuen und üppige „Wertschätzung“ verschwenden konnte, die er nichts „Wirklichem“ entgegenzubringen vermochte und weil diese allen zugänglich und nicht bevorzugt auf ihn bezogen war! Von grauem Alltag umgeben fixierte er sich früh schon auf das, was eben nicht alltäglich war: Diese Lebenshaltung sollte N sein Leben lang „kultivieren“ - er pflegte und lebte sie bereits in vollen Zügen, - indem er sich ständig künstliche Paradiese schuf; darauf sinnend, in Gedanken „bessere“, ihm behagendere „Welten“ entstehen zu lassen, die ihm aber in seiner Phantasie nur besser erschienen! - nicht weil sie besser waren! - Fehlte ihnen doch das, was ihm den eigentlichen „Ekel“ verursachte: Das Wirkliche in seiner nicht hinweg zu leugnenden Eindeutigkeit! Und weil er eine Wirklichkeit kannte, die erst durch Emersons Erklärungen wirklich in sein Blickfeld geriet


Am 17. März 1860 schrieb N an Wilhelm Pinder in Naumburg, neben Mutter und Schwester mit Riesenabstand seinen Hauptadressaten in jener Zeit:

Lieber Wilhelm! ob ich schon hoffe, dich morgen länger zu sehen und zu sprechen, so möchte ich dir doch noch heute am Tage vor deiner Konfirmation ein paar Zeilen senden, vor allem, um dir zu sagen, dass ich in dieser Woche besonders viel an dich gedacht habe und im Geiste bei dir gewesen bin. Du lebst ja jetzt in einer ernsten Vorbereitungszeit, wo alle Gedanken und Sinne nur auf das Eine, [was ihm zu der Zeit also eine Form von Superlativ zu sein schien!], was Not tut, hingerichtet sind, wo [mit weiteren Superlativen versehen und ausgeschmückt!] die heiligsten Entschlüsse und Vorsätze für das zukünftige Leben gefasst werden. Denn mit dem ernsten Gelübde [welches, wie N sich das gerade ausmalte und ideal erhoffte, dass dies in idealst gedachter und erwünschter Weise mit der Konfirmation vollzogen würde!] trittst du in die Reihe der erwachsenen Christen ein [wobei N in Illusionen schwelgte, die nicht zu erfüllen waren!], die des teuersten Vermächtnisses unsres Heilands für wert gehalten werden, um durch den Genuss desselben ihrer Seele Leben und Seligkeit zu finden. Ich wünsche dir nun hierzu den reichsten Segen des Herrn, dass er dich zu einem würdigen Empfang seiner Gottesgaben mit seiner Kraft stärke und auf dich auch fernerhin stets das Füllhorn seiner Gnade ausgieße. Mit diesem Wunsche und in der frohen Hoffnung auf baldiges Wiedersehen verbleibe ich Dein dich herzlich liebender Freund FWNie (134) [so wie es da steht, den Namen nicht ausgeschrieben!]

Hat der gut fünfzehnjährige N tatsächlich an diesen von ihm dem Freund unterbreiteten aufgedonnerten Schwulst geglaubt? Die illusionär überhöhte Geisteswelt seines Herkommens hatte da aus ihm gesprochen. Er spielte den „kleinen Herrn Pastor“, der in der Lage war, etwas nachzuplappern, „dass einem die Tränen kamen“! Es waren kulissenartige Versatzstücke seiner sehnsuchtsgetränkten Phantasie. N beschrieb da, wie später in seinen „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ über Schopenhauer und Wagner eine Vision seiner eigenen erdachten, ausgedachten, erträumten, hochidealisierten, unausgegorenen und von jeglicher Wirklichkeit weit abgehobenen Vorstellungen, - diesmal von einer Konfirmation, die er ein Jahr später selber entfernt nicht auf diese Weise erleben sollte - weil er sich hiermit bereits in seinen „Illusionen zur Konfirmations-Angelegenheit“ vollkommen verausgabt hatte? - denn in einem Jahr dann, war diese nicht eine erdachte, projizierte und idealisierte, sondern von der nicht überhöhten und nicht zu überhöhenden Tatsächlichkeit in der „jetztzeitigen“, nur platten, „Ekel“ bereitenden Tatsächlichkeit angesiedelt und damit jeder illusionär veredelnden Parallelweltlichkeit beraubt.


Bis zu seinen scheinbar so völlig anders klingenden „berühmten Jugendaufsätzen“ über „Schicksal, Fatum und Willensfreiheit“ waren es noch rund zwei Jahre hin! Auch wenn er nicht wirklich so innig, wie die Worte den Anschein erwecken, geglaubt hat, - also nicht wirklich tief „gläubig“ gewesen ist, wie seine Mutter! - so benutzte N hier doch Worte, Bilder, Vorstellungen, für etwas, das - vor allem für den Freund! - Gültigkeit haben sollte! Der Wunschhatte ihm diktiert, was er da schrieb. Seine eigene Konfirmation wird er - als Realität eben! - nicht entfernt in der hier gezeigten Inbrunst erleben können: Der Einbruch des Tatsächlichen schmälerte ihm jede erträumt übertriebene Großartigkeit. Das sollte N später in seinem Leben von „Werk“ zu „Werk“ immer wieder erfahren, - im jedesmaligen Prozess einer Ernüchterung nach hochfliegenden Illusionen. Alles in seinem Leben unterlag diesem „Unglück“, dass seine Wünsche, Träume, Hoffnungen und „Vorstellungen von der Wirklichkeit“, wie er sie schön finden würde, immer dem, was dann tatsächlich kam, weit vorauseilten, weil sie unrealistisch, gefühlsblind, maßlos und übertrieben waren! So sollte es ihm mit seiner gesamten „Philosophie“ ergehen: Sie enteilte stets in Worte, Bilder, Vorstellungen und Ausdrucksmittel für das und von dem, was Er für wahr und richtig halten wollte, - aber gerade das ließ sich auf keine Weise erreichen! Sein späteres, ungestüm leidenschaftliches Gegenanrennen gegen das, was er hier noch so innig vertrat, ist wohl in ähnlichen „Maßen“ zu verstehen, als eine Hülle, die nicht mehr und auch nicht weniger Bedeutung hat als das, was er sich anlässlich der Konfirmation seines Freundes und damit auch zu seiner eigenen zusammenschmuste, um daran seinen letztlich vergeblichen „schulgesetzlichen“ Halt finden zu können.


Einen Monat später, am 16. April 1860 schrieb N in einem Brief an die Mutter in Naumburg:

Ich befinde mich diesmal nach den Ferien nicht so wohl und kann mich noch gar nicht recht wieder hineinfinden. Wie gern möchte ich eine etwas längere Zeit in Naumburg zubringen. Es ist doch gar zu gemütlich [in dieser Zeit ein viel gebrauchtes Lieblingswort]! ….. Ich brauche allerdings jetzt Wäsche sehr nötig; aber wenn sie noch nicht fertig ist, sende mir nur gleich morgen Stahlfedern, meine Stiefel, etwas Kakao und auch ein paar neue Hosen, aus einem Magazin gekauft ….. Meine schwarzen Hosen sind so morsch, dass sie neulich beim Kegeln ganz zerrissen. Ich habe sie jetzt beim Flickschneider ….. Bitte schickt mir die 5 Silbergroschen mit. Ich möchte sie mir zwar gern aufheben, aber am Anfang eines Semesters muss man viel kleine Ausgaben machen, besonders als Primus. Auch meine grauen Hosen und meine gute Weste schickt mit, nehmt aus letzterer den Kistenschlüssel und sendet ihn mir in einem Brief! (139)


Drei Tage später, an einem Donnerstag, schrieb er schon wieder an die Mutter:

Ich danke dir, meine liebe Mamma viele Mal für den lieben Brief und die Kiste. Wie gern wäre ich heute nach Naumburg gekommen, aber wir hatten keinen Spaziergang …… ich wünschte sehr, dass wir uns bald wiedersehen. Es sind noch fünf Wochen bis Pfingsten ….. Ich habe jetzt immer viel zu tun und lerne immer neue Primusämter kennen ….. Könnt ihr nicht irgendwann bei schönem Wetter einmal herauskommen? Für alles, was du mir geschickt hast, danke ich vielmals; nur Stahlfedern hätte ich gern noch gehabt, da ich sie sehr nötig brauche. Meine neuen Hosen gefallen mir ganz gut; werden sie denn auch viel aushalten? Ich weiß noch gar nichts Genaues über den Tod des lieben Onkels, wie es so schnell kam, wie das Begräbnis war, wie die liebe Tante sich befindet. Bitte schreib mir das doch oder erzähle es mir lieber mündlich. (140)


Zu der Zeit war N, mehr oder weniger beiläufig erwähnt, nach wie vor Primus, das heißt der Beste in Obertertia und ist dies in folgenden Jahrgängen, mit zwischenzeitlichen Straf-Absetzungen - außer in Mathematik und den naturwissenschaftlichen Fächern! - bis zum Abitur gewesen. In späteren Jahren hat er diese Tatsache eines momentanen Effektes wegen verleugnet, als er für die Stimmigkeit seiner Ansicht, die er seiner späten Bewunderin, Meta von Salis (1855-1920), - nachdem diese Ihn „in die Kunstgriffe des Ruderns eingeweiht“ hatte! - anvertraute: Nämlich dass er wahrheitswidrig „durchschnittlich der Dritte in seiner Klasse gewesen [wäre], entsprechend dem natürlichen Verhältnis [oder der „philosophisch“ passenderen Gesetzmäßigkeit?], dass der Fleißigste den ersten, der Tugendspiegel den zweiten, das Ausnahme-Wesen [das er in jeder Beziehung auf Gedeih und Verderb darstellen wollte!] erst den dritten Posten in einer nach den üblichen [verachteten und unbedingt nur verachtbaren] Moral-Prinzipien geordneten Anstalt [wie Schulpforta eine war] erhalten könne. PuE.57 Meta von Salis überlieferte dies in ihrem weihevollen Buch über N, das sie unter dem Titel „Philosoph und Edelmensch“ noch zu Ns physischer Lebenszeit, 1897, veröffentlichte.


Ende April 1860 schrieb N an Wilhelm Pinder in Naumburg:

Lieber Wilhelm! Ich muss dir doch wieder einmal ordentlich schreiben; denn es ist mir immer eine wahre Freude im Geiste dir nahe zu sein und mich mit dir zu beschäftigen. Wir haben uns aber auch recht lange nicht gesehen; seit den Ferien nicht wieder. Wie geht es Dir denn jetzt? Habt ihr noch immer so viel zu tun?

Diese Erkundigungen nach dem Befinden des Briefpartners haben bei N geradezu Seltenheitswert.

Ich befinde mich im Grunde ganz wohl, bin sehr viel im Freien und erfreue mich am Kegelschieben. Wir sind auch schon mit Hr. Prof. Buchbinder botanisieren gewesen, haben aber noch nicht viel gefunden. Außer verschiedenen Anemonen waren noch sehr wenige Blumen erwacht. Ich aber interessiere mich sehr dafür und habe die linneischen Klassen wieder gelernt [nach Carl von Linné, 1707-1778, dem schwedischen Naturwissenschaftler, der die Grundlagen der modernen botanischen und zoologischen Ordnung nach verwandtschaftlichen Beziehungen schuf]. Wenn mich nur nicht meine [stark kurzsichtigen, zumeist ohne Brillen gelassenen] Augen am Suchen und Finden so hinderten! …..

Zeit und Einsamkeit [zur wahren Erfüllung seines „Herrscheramtes“?] fehlt mir in Pforta doch sehr! - Könnten wir uns doch bald sprechen? Nicht wahr, zum Schulfest, das ist der 21. Mai kommst Du heraus? ….. Meine Primuspflichten sind mir jetzt zwar oft unangenehm und lästig; (es gibt in Pforta noch eine Menge anderes zu tun als die Klasse in Ordnung halten und das Klassenbuch führen) aber im Ganzen kommen sie mir doch nicht so schwer an, wie ich beim Beginn des Semesters glaubte. Der Mensch gewöhnt sich doch an alles! - (144)


Am 30. Mai 1860 schrieb N der Mutter:

Liebes Mammächen!? So ist denn diese schöne, prächtige Ferienzeit wieder vorüber und ich muss mich wieder in die unvermeidlichen Banden fügen. Dieses einförmige, geräuschlose Leben ist doch völlig von den freien, selbstgewählten Beschäftigungen verschieden; ich wünsche mir die Ferien eigentlich sehr wieder herbei. Denn mir erscheint es fast, als ob man mehr als hier noch tun könnte, da man nach Wille und Wunsch arbeitet ….. Ihr erhaltet heute eine leere Kiste, die ich aber morgen gefüllt erwarte. Sehr würde ich mich auch über einige Überbleibsel des Mahles freuen, denn mein Schrank ist leer, wie mein Beutel [die Geldbörse war gemeint]. Außerdem sendet mir Morgenschuhe, Stiefelknecht, Psalter und Harfe und Spittlers Kirchengeschichte (beides liegt auf dem Glasschrank) ebenso meine guten Beinkleider. Und dann das betreffende Geld ….. (151)


Das Pfortaer Krankenbuch enthält mit der Datumsangabe 12. - 26. Juni 1860 den Eintrag für N: Wegen „Rheumatismus“ auf der Krankenstube. J1.128 15 Tage lang. Behandlung mit einem „Senfpflaster auf den Fuß“ und wohl erstmals einer „spanischen Fliege“ [ein Heilpflaster mit dem Wirkstoff „Cantharidin“, einem starken Reizgift, gewonnen aus gemahlenen Ölkäfern, die früher zu den spanischen Fliegen zählten, was N eine „schmerzhafte Geschichte“ nannte. In dem Zusammenhang ist nicht von Kopfschmerzen die Rede, aber gezielt gegen Kopfschmerzen sollte er eine „spanische Fliege“ im Februar des kommenden Jahres „hinter jedes Ohr“ bekommen. Währenddessen amüsierten ihn die Geschichten um den Lügenbaron Carl Friedrich von Münchhausen, 1720-1797, und er hat auch etwas komponiert.


In den Sommerferien [dieses Jahres 1860] unternahmen [N und Wilhelm Pinder] eine gemeinsame Reise [die N sehr ausführlich beschrieben hat BAW1.195-218] über Eisleben und Mansfeld nach Gorenzen am Harz, zu Ns Onkel Edmund Oehler, der dort Pfarrer [und zugleich, wie dessen Vater, so etwas wie ein Großbauer] war. J1.86

Über diese Reise verfasste N einen ausführlichen, begeisterten sich ungewöhnlicherweise nicht ausschließlich nur um ihn selbst drehenden, sich mit dem Thema der Ferienreise beschäftigenden, zwölf Druckseiten langen Bericht, der ohne etwas zu kritisieren der erlebten Welt und „den Anderen“ darin, zugewandt war. Ein seltener Ton bei N, - richtig erfrischend. Auch wenn es diesen Bericht in zweifacher Ausfertigung gibt und N sich auf diese Weise doch „noch einmal“ in seinen schon beschriebenen Erlebnissen „mit sich selbst“ und damit „einmal zu viel“ beschäftigte, ging es bei der Überarbeitung nicht mehr nur um die spontane Darstellung der Reise, sondern um das Zurechtschleifen von Effekten innerhalb des eignen Produkts, - als eine Verbesserung der Selbstdarstellung. Unter Anderem heißt es darin:

Der folgende Tag; es war ein Sonnabend; ist berühmt [nur wegen der folgenden Begründung?], weil an ihm [zwischen N und Wilhelm Pinder] der Beschluss zu unsern monatlichen Sendungen [die ja schon Praxis waren, aber nun kam hinzu:] und zu der gemeinschaftlichen Kasse gefasst wurde. [Es war eine wahrhaft sonderliche, d.h. erz-selbstmittelpunktliche Perspektive und Wertung, allein damit zur Berühmtheit eines bestimmten Tages gelangen zu wollen!] W[ilhelm] und ich waren in den Wald gegangen; hier setzten wir uns etwas hin und beratschlagten darüber. Der Plan erstreckte sich zuerst nur auf Poesie und Wissenschaft. Musik war noch ausgeschlossen. Über einzelne Forderungen und Bedingungen entstand ein Streit. Endlich schwiegen wir missmutig und gingen schweigend zurück in den Garten des Onkels. Hier endlich löste sich unsere Zunge; beide Teile waren nachgiebiger geworden. - An diesem Tag soll nun jährlich ein Fest gefeiert werden und zwar auf der Rudelsburg [knapp 5 km in südwestlicher Gegenrichtung zu Naumburg von Schulpforta entfernt], wozu jeder einen Beitrag schriftlich einliefern muss, dies wird dann [zur Erhöhung des Ganzen!] oben auf dem Turm vorgelesen. - BAW1.203f

Was die beiden während ihrer Ferienreise beschlossen hatten war ein regelmäßiger, satzungsmäßig sogar zu reglementierender und auch überwachter geistiger Austausch. Nach Naumburg zurückgekehrt führte dieser Plan unter Hinzuziehung von Gustav Krug - mit dem die Musik als gleichberechtigtes geistiges Gebiet dazukam - zur feierlichen Gründung eines regelrechten, nicht aber eingetragenen Vereins. Am 25. Juli 1860 wanderten sie [N, Wilhelm Pinder und Gustav Krug von Naumburg aus, in einem gemeinsamen „Festakt“ gewissermaßen] auf die Schönburg [statt wie geplant zur viel weiter entfernt gelegenen Rudelsburg] und beschwörten dort auf dem Turm [dem Höhenplatz, wo N knapp zwei Jahre zuvor sein „Herrscheramt“ beschlossen, genossen und dann auch noch dichterisch gefeiert hatte], ihren [„Geistes-]Bund“, den sie „Germania“ tauften. J1.86 Aus nachgelassenen Schriftstücken geht hervor, dass N eindeutig und mit besonderem Ernst die treibende Kraft und auch der Hauptinteressent an dieser „Germania“ als seiner Bühne, sich darzustellen, war, um mit allerlei Vorsicht unter den Freunden sein „Herrscheramt“ auszuüben. N selbst äußerte sich über die „Germania“ am 16. Januar 1872, längst schon als „der Herr Professor in Basel“, in seinem ersten von fünf öffentlich gehaltenen Vorträgen „Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten“, zu denen er den eigentlich letzten, sechsten und eindeutig wichtigsten, schuldig blieb. Daran ist zu erkennen, welche Bedeutung sein „Germania-Spiel“ für ihn hatte:

Wir beschlossen damals eine kleine Vereinigung von wenig Kameraden zu stiften, mit der Absicht, für unsere produktiven Neigungen in Kunst und Literatur [und Musik!] eine feste und verpflichtende Organisation zu finden: d.h. schlichter ausgedrückt: es musste sich Jeder von uns verbindlich machen, von Monat zu Monat ein eignes Produkt, sei es eine Dichtung oder eine Abhandlung oder ein architektonischer Entwurf oder eine musikalische Produktion, einzusenden, über welches Produkt nun ein Jeder der Andern mit der unbegrenzten Offenheit freundschaftlicher Kritik zu richten befugt war. So glaubten wir unsere Bildungstriebe durch gegenseitiges Überwachen ebenso zu reizen, als im Zaume zu halten: und wirklich war auch der Erfolg der Art, dass wir immer eine dankbare, ja feierliche [überhöhende!] Empfindung für jenen Moment und jenen Ort zurückbehalten mussten, die uns jenen Einfall eingegeben hatten. 1.653f

Es hat sich dazu ein Schriftstück erhalten, das Wilhelm Pinder geschrieben hat:

Am 25. Juli des Jahres 1860 stifteten die Unterzeichnenden auf der Schönburg eine Vereinigung der sie den Namen Germania gaben. Sie sollte vorzüglich zu einer größeren Ausbildung der Mitglieder in den Künsten und Wissenschaften beitragen. Zu diesem Ende wurden folgende Statuten [als ein schulgesetzlicher Rahmen gewissermaßen] festgesetzt:

§ I Im Laufe jedes Monats wird von P. N. und K. [Pinder, N und Krug] eine Arbeit geliefert. Jedem steht es frei, eine musikalische Komposition, ein Gedicht oder eine Abhandlung zu liefern. Jeder ist jedoch verpflichtet, im Jahr mindestens 6 Abhandlungen anzufertigen, unter denen 2 Zeitgeschichte oder Zeitfragen behandeln müssen.

§ II In einer Chronik der Germania werden die Einsendungen der Mitglieder kritisiert. Es wird hierzu ein Chronist für jedes Vierteljahr bestimmt. Diese Chronik wird auf den vierteljährlichen Versammlungen vorgelesen und gilt für eine Monatslieferung.

§ III Monatlich wird ein Beitrag von 5 Silbergroschen an die Vereinskasse entrichtet. Dieses Geld wird verwendet: das eine Halbjahr zu Musikalien (besorgt durch K.), das andere zu Büchern (besorgt durch P.) Über die Beiträge jedes Einzelnen wird besondere Rechnung geführt.

§ IV Vorschläge zur Anschaffung von Werken werden in folgender Reihe gemacht: Musikalien K., Bücher P., Musikalien N. Bücher K. etc. Ein Werk kann nur bei völliger Übereinstimmung angeschafft werden. Wer etwas vorschlägt, erhält es nach Auflösung der Germania als Besitztum.

§ V a.) Sollte jemand zu seinem Ankauf mehr als 3 Taler gebrauchen, so wird von seinem nächsten Ankauf das Mehr abgezogen.

b.) Wenn der jährliche Beitrag nicht völlig verwendet wird, so wird der Rest zu dem Betrage des Halbjahrs wo derselbe wieder Vorschläge zu machen hat, hinzugeschlagen.

§ VI Die Kasse und die Bibliothek verwaltet K. und besorgt nach Wunsch eines Einzelnen die Versendung.

§ VII Vierteljährlich findet eine Versammlung statt. Hierbei hält jedes Mitglied einen Vortrag der als Lieferung für den Monat gilt, in welchem die Versammlung gehalten wird. Jeder Vortrag muss aus einem anderen Gebiet entnommen sein. Die Verteilung der Fächer wird durch Beschluss bestimmt. Auf diesen Versammlungen muss ferner jeder über ein Thema das ihm gestellt wird, einen freien Vortrag halten.

gegeben 25.Juli 1860; revidiert Naumburg 16. April 1862.

Wilhelm Pinder, Gustav Krug, Friedrich Wilhelm N BAW2.438f


Pflichten und Rechte waren also festgelegt. Es herrschte eine bürokratische Genauigkeit. Warum? Um sicher zu gehen? Wer gegenüber wem? Der Ernst der spielerischen Unternehmung hat wohl diese Satzung diktiert und gehörte somit eigentlich nicht mehr zum Spiel, sondern sollte tiefer gehen. Er gehörte zu Ns Hang, alles gleichsam „metaphysisch“ zu nehmen, schwerblütig und wohl auch recht humorlos dabei zu sein, wenn die Verabredungen nicht eingehalten wurden. Mit diesen Paragraphen gab es für die „Germania“ so etwas wie ein „Schulgesetz“, einen Halt, auf den man sich verlassen und berufen wollte, was N, der um Rechtfertigungen bei seinen Handlungen immer sehr besorgt war, zu seiner Beruhigung brauchte.


Am 18. September 1860 schrieb Onkel Edmund Oehler, bei dem N mit Wilhelm Pinder in den Sommerferien zu Besuch gewesen war aus Gorenzen:

Mein lieber Fritz! Nun bist Du gewiss wieder in Deiner Pforta eingewöhnt und sie ist Dir lieb und wert die Alma mater und die Ferien sind vergessen, es ist auch recht so, ein Ding zu seiner Zeit, tüchtig erholt und tüchtig gearbeitet, nur Gottes Lieb in Ewigkeit. Dein Besuch, mein lieber Fritz, hat mir viel Freude gemacht und bist hiermit ein für alle Mal von mir eingeladen zu allen Ferien ….. den lieben Pinder bring einmal wieder mit das ist auch eine gottsinnige Seele ….. nun beginnt wohl bald wieder der Konfirmationsunterricht und die Vorbereitung auf den heiligen Tag der Konfirmation. Ich wünsche von Herzen und bete für Dich, dass Magister Keimanns Losung auch Deine Losung werde: Meinen Jesum lass ich nicht, wie er sich für mich gegeben, So erfordert meine Pflicht, klettenweis an ihm zu kleben. Er ist meines Lebens Licht; meinen Jesum lass ich nicht. Leb wohl mein lieber Fritz. Der Herr gebe Dir Kraft, Gnade und Segen zum Beten und Arbeiten. Grüß die lieben Naumburger, auch den lieben Pinder. Gott befohlen! Dein Onkel Oehler


Im Herbst dichtete N einen „Hirtenchor“: Chor der Männer: Nach dir Herr verlanget mich. Mein Gott ich hoffe auf dich! Herr zeige mir deine Wege Und lehre mich deine Stege ….. Chor der Frauen: Wie der Hirsch schreit, nach frischem Wasser so schreit meine Seele Gott zu dir! Meine Seele dürstet nach Gott Nach dem lebendigen Gott. Wann werde ich dahin kommen Dass ich Gottes Antlitz schaue? [usw. Dabei hatte N angeblich doch - vor einigen Jahren schon! - Gott in seinem Glanze gesehen. In gleichem Stil singen Greise einzeln, dann alle zusammen:] O Wunderlicht, o Gnadenschein! O schaut das helle Gotteszeichen Vor dem sich alle Sterne neigen! O Wunderlicht, o Gnadenschein! BAW1.220f [Dann tritt der Erzengel Gabriel auf, ein Engelchor und sogar Maria; lauter Versuche, sich dem Namenlosen, dem Gefühl der Verehrung, der Heiligkeit zu nähern und Worte für Gefühle zu finden oder doch eher umgekehrt: Gefühle in nicht heillos enttäuschende Worte zu übersetzen?]


Zu seinem Geburtstag am 15. Oktober 1860 schrieb Wilhelm Pinder an N in Pforta:

Lieber Fritz! Da es den Anschein hat, dass ich Dir die mich beseelenden Gefühle an dem heutigen Tage nicht in Worten aussprechen kann, so will ich dies wenigstens schriftlich tun [was ein wenig nach einer „Revanche“ für den Konfirmationsbrief vom Frühjahr klingt]. Tausend Wünsche für Gesundheit, Wohlergehen, Erhaltung Deiner Freundschaft bringe ich Dir dar, zugleich aber mit Gustav [Krug, dem mit Abstand musikalischsten von den Dreien, der aber weit mehr Pinders Freund als der Ns war] zusammen die 6 kleinen französischen Suiten von Bach. Ob dies nach Deinem Geschmack, ob Du es nicht schon besitzest, das weißt Du allein und die allmächtigen Götter [was seines Plurals wegen absolut nicht mehr streng christlich klingt!]. Möge es, wenn Du einst diese herrlichen Kompositionen des alten Meisters spielst, wie Erinnerung über Dich kommen, wie Erinnerung an das musikalische Genie des einen [Gustav Krug] und das musikalische Defizit des anderen Gebers [womit Wilhelm Pinder sich selber meinte]. - Leider werden wir uns wohl nicht so bald sehen können …..


Am 15. Oktober 1860, an einem Montag, feierte N zum dritten Mal seinen Geburtstag in Schulpforta und in diesem Herbst, mit dem Wechsel von Obertertia nach Untersekunda und dem letzten Halbjahr des Konfirmandenunterrichtes kam die Zeit, in der N und Paul Deussen sich näherkamen, einander in ihrer gemeinsamen Freude an den „wenige Schwierigkeiten“ bereitenden griechischen Versen des Anakreon entdeckten und im Schlafsaal schnupfend vom „Sie“ zu dem - von N aus selten zugelassenen - „Du“ eines erklärtermaßen brüderschaftlichen Freundschaftsbundes gelangten, der aber keinerlei Spuren in Ns dank der „Germania“ intensivierten Gedankenaustausch mit den althergebrachten Freunden Wilhelm Pinder und Gustav Krug hinterließ, denn Paul Deusen gewann, als neugewonnener Pfortaer Freund bei N „nach außen hin“ keine tief gehende Bedeutung. Danach, so berichtete Deussen, gab es im nächsten Jahr einen weiteren Anlass, der: Ein neues Band zwischen uns knüpfte am Sonntag Laetare [laetare = „freue dich“, der Sonntag in der Mitte der Fastenzeit] des Jahres 1861: Die gemeinsame Konfirmation. PDE.4 u. PDL.70


Ende November 1860 schrieb Gustav Krug aus Naumburg an N den ersten von wenigen - oder einfach nur seltener als die von Pinder erhalten gebliebenen? - Briefe an N in Schulpforta, als Antwort auf einen nicht überlieferten Brief Ns:

Lieber Fritz! Du wirst gewiss sehr böse sein, dass ich Dir so lange nicht geschrieben habe, doch mancherlei Hindernisse standen mir im Wege. Wir haben nämlich sehr viel für die Schule zu arbeiten ….. [Er berichtete von Musikalien-Geschenken zu seinem Geburtstag, sehr umsichtig und ausführlich; von geliehenen Noten, u.a. dabei von Wagners Lohengrin; von einer Leipziger Aufführung des „Weihnachtsoratoriums“ von Johann Sebastian Bach am Anfang des Monats und kam danach auf eine Komposition von N:]

Ich will auch hier gleich Deines Oratoriums gedenken. Da Du wegen des Textes in Verlegenheit bist, kannst Du ja einiges aus dem Bach’schen Texte entlehnen, zu Weihnachten, wenn wir uns sehen, will ich Dir recht gern den Text zu Bachs Weihnachtsoratorium geben. Was Deine Komposition anbetrifft, die Du mir geschickt hast, so will ich hier auch einiges davon erwähnen. Der Anfang des Chores ist ganz gut, nur will mir nicht recht der Übergang im 4ten und 5ten Takt gefallen, späterhin kommen einige Anklänge an Berlioz. Die Stelle, wo das Orchester wieder nach dem Chore einfällt, gefällt mir gut, sie hat etwas Hirtenmäßiges, was Du wohl gerade hier beabsichtigt hast. Die Stelle, wo dann der Chor zum 3ten mal einfällt, gefällt mir am besten in dem ganzen ersten Chor.

Die Melodie, die im 2ten Chor, vom Orchester am Anfang pp [sehr leise] vorgetragen wird, gefällt mir sehr, sie hat etwas Wagnersches. Die kurze Fuge, die dann folgt, gefällt mir noch ganz gut. Willst Du nicht vielleicht das nächste Mal eine Arie schreiben? Ich glaube, es wäre besser, wenn Du Dir vorher einen Text machtest und nicht erst komponiertest. Es ist sehr schwer, einen Text später unterzulegen, der mit dem Charakter des Stückes übereinstimmt [das Thema Wort/Musik und welches der bestimmende Teil wäre bekommt zwischen N und seinem später dann besten und zugleich musikalischen „Freund“ Peter Gast noch einmal Bedeutung!] ….. Das Rezitativ [im Sprechgesang vorgetragene, vom erzählenden Wort bestimmte Passage in Oper, Operette und Oratorium] ist im Allgemeinen doch etwas sehr mangelhaftes, wodurch niemals Gefühle in der Musik ausgedrückt werden können. Es ist ohne Charakter und unterbricht nur den musikalischen Fluss. Deshalb ist es am allerbesten, es bei Seite liegen zu lassen und eine andere Kompositionsart anzunehmen. Wagner hat dieselbe in Tristan und Isolde angewendet und hat dadurch einen wesentlichen Fortschritt im Gebiete des musikalischen Dramas gemacht. Es würde zu weit führen Dir hier die neue Kompositionsweise auseinanderzusetzen.

Zu Weihnachten, wenn mein Papa sich den Klavierauszug von Tristan und Isolde hat kommen lassen, will ich es Dir zeigen [aber der Klavierauszug zu dem im August 1859 fertiggestellten „Tristan“ zog sich hin] ….. Einiges über Tristan und Isolde will ich noch erwähnen. Zu Michaeli [dem Tag des Erzengels Michael, jeweils am 29. September] ungefähr stand der erste Bericht darüber in der Musikalischen Zeitung, als die Partitur - die 36 Taler netto kostet - erschienen war. Zuerst war in einer Nummer ganz allein nur über die Einleitung geschrieben, die dabei in einem großen Teil abgedruckt war, und die wirklich, ohne aufzuschneiden, noch schöner als die zu Lohengrin ist. Wagner hat diese Oper viel thematischer und kontrapunktischer ausgearbeitet, als seine früheren. Man sieht dies auch in der Einleitung, in der die verschiedenen Motive auf das schönste miteinander verwebt sind. Beim ersten Hören freilich entgehen einem manche Schönheiten und manches kommt uns sogar sonderbar und hart vor, doch bei mehrmaligem Anhören verschwindet dies alles und man findet dass alles auf das schönste motiviert ist. Die Einleitung soll den Seelenzustand von Tristan und Isolde in Tönen ausdrücken, die Liebe, die beide zerfrisst.

Die Einleitung geht gleich in die erste Szene über, die auf dem Schiffe spielt, das Isolde zu König Marke, der zu ihrem Gemahl bestimmt ist, führen soll. Bis jetzt ist in der musikalischen Zeitung nur über die ersten 3 Szenen berichtet, die 4te wird in der nächsten Nummer analysiert werden ….. Ich hoffe, dass mein Papa sich zu Weihnachten den Klavierauszug der übrigens 10 Taler kostet, zur Ansicht kommen lassen wird. Dann will ich Dir alles aufs Genaueste zeigen.

Das waren, durch die leidenschaftliche Begeisterung von Gustav Krug, die ersten Informationen, die über Wagners „Tristan und Isolde“ bis zu N hin drangen.

Über eine wichtige Angelegenheit habe ich Dir noch zu berichten. Es ist dies die Anschaffung der [Germania-]Noten zu Weihnachten ….. Ich schlage nicht mehr das Liebensmahl der Apostel von Wagner vor ….. Hingegen schlage ich Dir ein wirklich vorzügliches Werk vor, das von allen Seiten als sehr bedeutend geschildert ist, es ist dies ein Werk von Schumann Op.115 Manfred. Dramatisches Gedicht in 3 Abteilungen von Lord Byron, Klavierauszug 3 Taler. Mit Rabatt 2 Taler. Die Musik wird für das bedeutendste Werk von Schumann gehalten. Da wir bloß 1 Taler 15 Silbergroschen zur Verfügung haben, so würde ich [den Satzungen der „Germania“ entsprechend] die noch fehlenden 15 Silbergroschen bezahlen [damit scheint festzustehen, dass die für N wesentliche Bekanntschaft mit der Schumann’schen Manfred-Komposition ebenfalls über die Vermittlung von Gutav Krug erfolgte!]. Schreibe mir so bald als möglich Deine Meinung ….. Die nächste monatliche [lt. Germania-Satzung fällige] Sendung werden wir wahrscheinlich Dir später schicken oder erst zu Weihnachten geben können ….. Was wünschst Du denn Dir zu Weihnachten? ….. Ich freue mich sehr auf Weihnachten, wenn wir uns wiedersehen ….. Behalte lieb Deinen Gustav Krug

Gustav Krug war der mit deutlichem Abstand musikalische Kopf unter den dreien und N segelte im Schlepptau zu dessen Wagnerbegeisterung mit. Gustav Krug schrieb nicht, wie N über sich, sondern über das, was ihn begeisterte, sachkundig, lebendig und umsichtig. Er hatte immer ein Thema. N hatte als Thema immer nur sich! Aus der einfachen Tatsache übrigens, dass Gustav Krug N darüber berichtete, dass er ungeduldig auf das Weihnachtsgeschenk für seinen Vater - den teuren, neu erschienenen Klavierauszug von Wagners „Tristan und Isolde“, an diesem teilhaben könnend, wartete! - Aus dieser Tatsache machte N, achtundzwanzig Jahre später, in dem letzten seiner vielen „Lebensrückblicke“, Selbstbespiegelungen und Selbstdarstellungen, letztmals unter dem Titel „Ecce homo“ [seht welche ein Mensch!], - im Kapitel mit dem Titel „Warum ich so klug bin“, sein unehrlich um des Effektes willen aufgedonnertes:

„Alles erwogen, hätte ich meine Jugend nicht ausgehalten ohne Wagnersche Musik. Denn ich war verurteilt zu Deutschen. Wenn man von einem unerträglichen Druck loskommen will, so hat man Haschisch nötig. Wohlan, ich hatte Wagner nötig. Wagner ist das Gegengift gegen alles Deutsche par excellence [schlechthin], - Gift, ich bestreite es nicht … Von dem Augenblick an, wo es einen Klavierauszug des Tristan gab - mein Kompliment, Herr von Bülow [1830-1894, Pianist, Dirigent der Uraufführung des Tristan im Jahr 1865 im Münchner Hof- und Nationaltheater in München und u.a. beteiligt an der Herstellung des Klavierauszuges]! - , war ich Wagnerianer. Die älteren Werke Wagners [von denen er damals, 1860, keines wirklich kannte] sah ich [in gewohnt dünkelhafter Ausschließlichkeit!] unter mir ….. 6.289


Das früh schon eingeübte „Oben“ und „Unten“ war vor allem dramatisierende Pose: Inszenierung seiner selbst, - und hieß für ihn „Wahrheit“, - denn diese war stets bei ihm! So war er bereit „sich“ darzustellen und „zu verkaufen“; immer von oben herab! Hier zeigt sich deutlich der Unterschied zwischen seinem Wahn und seiner Wirklichkeit. Auch hier ging es um den „Effekt“, den die Art der Formulierung machen sollte, nicht um die Wahrheit, wie es um die Dinge wirklich stand!


Für den 4. Dezember 1860, meldet das Pfortaer Krankenbuch N wegen „Rheumatismus“ auf der Krankenstube. J1.128


Die Weihnachtsferien verbrachte N in Naumburg. Er komponierte weiter an seinem Weihnachtsoratorium vom August 1860 bis März 1861 und gab dann den Oratoriumsplan auf, verwendete später aber mehrfach Teile daraus zur musikalischen Darstellungen ganz anderer Themen, Anlässe und Zusammenhänge. Vieles ist bei N angefangen und dann liegen geblieben. Aus den Vorarbeiten stellte er drei Instrumentalstücke her: „Heidenwelt“, „Sternerwartung“ und „Der Könige Tod“, - als Klavierphantasien zu vier Händen für die „Germania“. Im August 1861 bildete er daraus Stücke unter dem Titel „Schmerz ist der Grundton der Natur“ und 20 Jahre später taugten die komponierten Partien nochmals zur „Vertonung“ eines Gedichts von Lou von Salomé: „An den Schmerz“.


An den großen Werken der bildenden Kunst ging er [N, zeitlebens] fast achtlos vorbei, es sei denn, dass sie eine literarische oder rein stimmungsmäßige Bedeutung für ihn gewannen. Und auch das war selten der Fall [was wohl im Wesentlichen an seiner Kurzsichtigkeit gelegen haben mag]. Das Bildungsgut, das sich N in Pforta erwarb, was also ausgesprochen literarisch-humanistischer [und weitgehend unzeitgemäßer!] Natur. Er kannte die wesentlichen Autoren der Antike in ungewöhnlichem Ausmaße und hatte gelernt, sie mit der ganzen philologischen Akribie [höchster Genauigkeit, Sorgfalt] zu lesen und zu deuten [woran Zweifel anzubringen sind, weil er bei anderweitigen Übersetzungen, z.. B. aus Michel de Montaignes „Essays“ zu Ergebnissen kam, die gegenüber dem Original unglaublich weit abweichende Ergebnisse zeigten. Überdies hat N auf „seinem“ Berufs-Gebiet, der Philologie, keine Leistung erbracht, die von Bedeutung gewesen wäre.] ….. Dazu kam in leidenschaftlicher Aneignung die klassische deutsche Dichtung und ein gutes Stück der Weltliteratur, insbesondere Shakespeare [1564-1616] und [Lord] Byron [1788-1824 - Näheres dazu später] J1.78

Ein weiteres Urteil über Ns Verhalten, das sich besonders auf die Zeit seiner Ausbildung in Schulpforta bezieht, lautet aus Sicht der offiziellen N-Verherrlichungsperspektive durch Paul Janz jedoch erstaunlich nüchtern:

Im Allgemeinen hielt N sich [was ihm weitgehend angedichtet ist] abgesondert und in den Leibesübungen imponierte er den anderen auch nicht besonders [im Gegenteil]. Wohl entwickelte er sich [mit einiger Verzögerung] bald zu einem guten Schwimmer, der alle Bedingungen erfüllte, aber beim Turnen hinderte ihn seine Kurzsichtigkeit und die Neigung zu Blutandrang zum Kopfe [auf welche Weise seine Neigung zu Kopfschmerzen aus verschiedensten Anlässen vordergründig benannt wurden und eine leidlich vertretbare Erklärung fanden]. Das übliche Schauturnen bei Festen erschien ihm als »Tierquälerei« und »furchtbar langweilig«. Da er sich in den ersten Jahren außerdem überaus brav allen Vorschriften fügte und wiederholt Primus war, mochten manche ihn auch noch für einen Streber halten. Alle wurden jedenfalls nicht recht klug aus ihm. Die verschwiegene [„herrscheramtlich“ begründete] Hoheit seines Wesens führte auch hier wieder entweder zum Spott oder zu befremdeter Scheu. »Seine Gleichgültigkeit gegen die kleinen Interessen der Kameraden«, schreibt Deussen, »sein Mangel an esprit de corps [Gemeinschaftssinn], wurden ihm als Charakterlosigkeit ausgelegt und ich erinnere mich, wie eines Tages ein gewisser M. [Guido Meyer? der noch auftreten wird, am Rande] auf dem Musengang im Schulgarten in diskreter Weise zum Gaudium der Umstehenden einen Hampelmann produzierte, welcher aus einer Photographie Ns ausgeschnitten und hergestellt war. Zum Glück hat mein Freund nie etwas davon erfahren.« J1.82 u. PDL.73


Ns „verschwiegene Hoheit“ wurde hier hervorgehoben. Sie beruhte auf seinem der Turmeshöhe der Schönburg zu dankendem „Herrscheramt“. Und natürlich wurde seitens der N-Anbeter mit „passenden“ Worten den „kleinen Interessen der Kameraden“ der Anschein des vergleichsweise Unbedeutenden zugewiesen. Die Selbstverständlichkeit in der Anwendung dieses „Zweierleimaßes“ in der Darstellung Ns - gegenüber „dem Rest der Welt“! - stellte einen psychologischen Reflex dar, welcher N davor schützen sollte, sich mit dem, was Ihn so „hervorhob“, logisch auseinandersetzen zu müssen. Eine Erklärung für die vielen zerrissenen Hosen ließ sich auf diese Weise umgehen und kam nicht vor. Warum sind die Interessen der Kameraden so „klein“ zu nennen? Und warum Ns Verschwiegenheit, seine Reserviertheit so „hoheitsvoll“? Hier ging es um die ästhetizistisch motivierte Heraushebung der Ausnahme gegen mehrheitlich Übliches, - rückwirkend geurteilt, denn Jung-N hat sich - außer ein in bestimmten Fächern als sehr guter Schüler, und deshalb Primus, zu sein - noch keinerlei nennenswerte Verdienste erworben! Sein zuletzt noch auf der Kippe stehendes Abitur hat er gegenüber seinen Kameraden nicht vorzeitig abgelegt. Hier findet sich das, was man nach Ns geistiger „Umnachtung“ in ihm sehen wollte, auf seine Anfänge zurückprojiziert und im Zuge einer gewissen Ästhetik, die gerne, wie bei vielen Sammlern, das Faktum der Seltenheit hoch bemisst und findet - wie auch bei N immer wieder! - dass es „von besonderem Wert sein müsste“ und schon „in den Anfängen“ feststellbar wäre, - ohne das davon zur Zeit des Geschehens wirklich etwas zu bemerken war.


Nüchtern und unbelastet von einer vorgefassten Meinung, ist hier sicher in Manchem ein Außenseiter zu erkennen, aber völlig offen bleibt doch: Aus welchem Gründen N als solcher erschien! N hatte - erhebliche! - Schwierigkeiten sich anzuschließen, weil er seelisch und gefühlsmäßig extrem wenig mit „den Anderen“ teilte und zudem dem Funktionieren seiner Besonderheit eine nicht unbeachtliche Wertschätzung verlieh: Er brauchte für das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, schließlich dauerhafte Bestätigungen! Der „geistige“ Austausch mit „den Anderen“ lässt sich in diesem, so wie im vorigen Jahr, brieflich so gut wie ausschließlich nur mit der Mutter und Wilhelm Pinder nachvollziehen. Alle anderen, „Freunde“ wie Mitschüler, die es in reicher Zahl gegeben hat, haben - bis auf die ja nicht durch Ns Einsamkeit zerrissenen und verschlissenen Hosen! - so gut wie keine feststellbaren Spuren in Ns seelischen Befindlichkeiten, die er zu „Philosophie“-Bestandteilen zu machen liebte, hinterlassen.

Also schrieb Friedrich Nietzsche:

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