Читать книгу Also schrieb Friedrich Nietzsche: "Zuletzt wäre ich sehr viel lieber Basler Professor als Gott; aber ..." - Christian Drollner Georg - Страница 12
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Richard Wagner begann die Komposition der Ring-Opern. Die katholische Kirche beschäftigte sich mit dem Problem der unbefleckten Empfängnis, d.h. einer Erbsünden-Befreiung der Gottesmutter Maria. In Berlin wurden von Ernst Litfaß die ersten Anschlagsäulen zur Bekanntmachung diverser Vorhaben und Ereignisse aufgestellt.
Für diese Monate wurden - durch die Schwester in späterer Zeit - „biografische“ Notizen des Freundes Wilhelm Pinder überliefert, in denen auch N Erwähnung fand. Da heißt es: Der Grundzug seines Charakters war eine gewisse Melancholie, die sich in seinem ganzen Wesen äußerte. Von frühester Kindheit an liebte er die Einsamkeit und hing da seinen [autistisch stark auf ihn selbst bezogenen] Gedanken nach, er mied gewissermaßen die Gesellschaft der Menschen und suchte die von der Natur mit erhabener Schönheit ausgestatteten Gegenden auf. Er hatte ein sehr frommes, inniges Gemüt und dachte schon als Kind über manche Dinge nach, mit denen andere Knaben seines Alters sich nicht beschäftigten ….. So leitete er auch alle unsere Spiele, gab neue Methoden darin an und machte dieselben dadurch anziehend und mannigfaltig ….. Schon von Jugend auf bereitete er sich auf den Stand vor, den er später einnehmen wollte [oder sollte? - denn es kam dazu nie!], nämlich das Predigeramt …..
Immerhin bezeugt der Einschub, dass N im Spiel nicht nur seine Schwester, sondern auch andere unangefochten zu dominieren pflegte, was das laufende Training in diese Richtung verstärkt haben dürfte.
Nie tat er etwas ohne Überlegung [so fährt die Notiz von Freund Wilhelm Pinder fort] und wenn er etwas tat, so hatte er immer einen bestimmten, wohlbegründeten Grund [die „höherwertige“ Rechtfertigung!]. Dies äußerte sich besonders bei den Arbeiten, die wir zusammen anfertigten und wenn er etwas hinschrieb und ich mit ihm darin nicht gleich übereinstimmen konnte, so wusste er es mir stets auf eine klare, fassliche Weise [mit der ihm nun einmal eigenen Kunstfertigkeit des geschickten Argumentierens oder Überredens] auseinander zu setzen. Außerdem waren seine Haupttugenden Bescheidenheit und Dankbarkeit, die sich bei jeder Gelegenheit auf das Bestimmteste zeigten. Aus dieser Bescheidenheit entstand oft eine gewisse Schüchternheit und besonders unter fremden Menschen [und dem von ihnen drohenden Widerspruch gegen seine Ansichten!] fühlte er sich gar nicht wohl …..
In dieser Zeit (Frühling 1854 [im Alter von rund 10 Jahren]) war es, wo meine Freunde und ich anfingen, uns ernsteren Beschäftigungen zuzuwenden. Besonders war es mein Freund N, der dies zuerst anregte. Er hatte nämlich in der Kirche eine musikalische Aufführung [Händels Messias] gehört und diese hatte ihn so ergriffen, dass er beschloss, sich der Musik zuzuwenden und sich eifrig mit ihr zu beschäftigen. Er brachte es auch bald durch Fleiß und großes Talent sehr weit im Klavierspielen. BmN.14f
Von den Musikeindrücken in diesem Jahr erzählte N selber, allerdings erst 4 Jahre später, 1858, anlässlich seiner bevorzugten autobiographischen Rückblicke auf sich selbst:
Ich war in den Himmelfahrtstagen [der Zeit um Pfingsten] in die Stadtkirche gegangen und hörte den erhabenen Chor aus dem Messias: Das Halleluja! Mir war [und das ging und geht vielen Menschen so], als sollte ich einstimmen, deuchte mir doch, es sei der Jubelgesang der Engel unter dessen Brausen Jesus Christus gen Himmel führe. Alsbald fasste ich [in engstem Bezug auf sich selbst!] den ernstlichen Entschluss, etwas Ähnliches zu komponieren. Sogleich nach der Kirche ging ich auch ans Werk und freute mich kindlich über jeden neuen Akkord, den ich [auf dem Klavier] erklingen ließ. Indem ich aber davon Jahre lang nicht abließ, gewann ich doch sehr dabei indem ich durch die Erlernung des Tongefüges etwas besser vom Blatt spielen lernte. Dies ist auch, was mich die vielen verschriebenen Bogen Notenpapier nicht dauern lässt. Ich empfing dadurch [bei der ihm eigenen und mit Vorliebe betriebenen Ausschließlichkeit!] auch einen unauslöschbaren Hass gegen alle moderne Musik [was die auch anderweitig bedeutend betrieben, unmittelbar fanatische Neigung in ihm verrät] und alles, was nicht klassisch war [es machte sich da schon sein zum Totalitären neigendes Wesen bemerkbar: nur gelten lassen zu wollen, was ihm gerade gefallen wollte!]. Mozart und Haydn, Schubert und Mendelsohn, Beethoven und Bach, das sind die Säulen, auf die sich nur deutsche Musik und ich gründete [so wie er es gefühlt hatte, hat er es aufgeschrieben!]. Auch mehrere Oratorien hörte ich damals. Das tief ergreifende Requiem [von Mozart] war das erste; wie mir die Worte „Dies irae, dies illa“ [„Tag des Zornes, jener Tag“, - die lateinischen Anfangsworte eines Hymnus auf das Weltgericht im zweiten Teil der Totenmesse] durch Mark und Bein gingen. Aber das wahrhaft himmlische Benedictus [der Lobgesang auf Gott]!! Die Proben besuchte ich sehr oft. Da die Seelenmesse gewöhnlich zum Totenfest [im November] aufgeführt wurde, so fielen diese in die nebligen Herbstabende. In dem heiligen Halbdunkel der Domkirche saß ich sodann und lauschte den hehren [und ihn erhebenden!] Melodien ….. BAW1.18
Im Herbst war auch die Zeit im Privatinstitut bei Kandidat Weber vorüber und die Jahre am Domgymnasium sollten beginnen. Sehr wenig scheint er [der Kandidat Weber] sich um den Unterricht im Deutschen bemüht zu haben: in den ersten kindlichen dichterischen Versuchen Ns aus dem letzten Jahr bei Weber wimmelt es noch von grammatischen und orthographischen Schnitzern [um das Wort „Fehler“ zu vermeiden!] und komischen mundartlichen Einsprengseln. Hier versagte auch das Domgymnasium und selbst Pforta [das nahe bei Naumburg gelegene Internat, das N 6 Jahre lang, von Oktober 1858 bis zum Abitur im Spätsommer 1864 besuchen sollte, - weil die mangelnde Rechtschreibung nicht an Erziehungsschwerpunkten, sondern an einer gravierenden Schwäche und Unaufmerksamkeit Ns gelegen hat.]. Noch der Fünfzehnjährige schreibt statt Getreide Gedraite und die Verwechslung von dem und den findet sich noch häufig sogar bei dem Achtzehnjährigen ….. so frei und ungewöhnlich sich sein Stil zu dieser Zeit sonst auch schon zu entfalten beginnt. J1.53
Die Knaben versuchten sich als Dichter. In Gemeinschaft mit dem aus einer sehr musikalisch gestimmten Familie stammenden und selbst auch musikalisch sehr interessierten Gustav Krug gab es die ersten Kompositionsversuche. N erhielt weiter Klavierunterricht, um den sich die Mutter viel kümmerte und sogar selbst Unterricht nahm, um ihrem Sohn die Anfangsgründe des Klavierspielens beizubringen. Eine relativ unbestechliche Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit war - unter augenblicklich nachprüfbaren Bedingung, ob das Ergebnis tatsächlich als richtig oder als falsch zu gelten hatte - durchaus Ns Sache nicht. Er verstand sich - bei ganz allgemein eher träumerischem, recht geringerem Realitätsbezug - wesentlich besser darauf, im weiten Feld der „Geisteswissenschaften“ mit geschickt formulierten Argumenten und „Feststellungen“ selbst zu bestimmen, was ihm behagte und von ihm somit als richtig anzusehen war, oder, falls nicht, eben als falsch hingestellt werden durfte, je nach seinem Empfinden! Mit seinem Naturell gehörte er den romantisch Empfindsamen an, von denen es bei Emerson, den er in einigen Jahren kennenlernen sollte, hieß: Bei Romantikern handelt es sich gewöhnlich um Menschen, die mit der Gegenwart nicht zufrieden sind und sich entweder in die Vergangenheit oder in Wunschträume zu retten versuchen. EL.54 Beides traf auf N zu. Sein viele Jahre später erst „erfundener“ „Übermensch“ und seine „Ewige Wiederkehr“, die beiden einzigen positiv wirkenden Ideen im Meer seiner Kritik, waren Wunschträume, verkapptes, angebliches Griechentum, idealisierte Sklaven- und Herrenmoral, deren Wiederbelebung er zu erstreben gedachte. Sie stellen zum einen verherrlichte Vergangenheit dar und sind als erdichtete und „philosophierte“ Zukunftsvision bei N nirgends sauber voneinander zu trennen.
Zusammen mit seinen Freunden Gustav Krug und Wilhelm Pinder begann N also ab Oktober in der Quinta, der zweiten Klasse, den Schulbesuch im Naumburger Domgymnasium; - bis zum Oktober 1858, wo er dann eine Freistelle in der Landesschule Schulpforta zugesprochen bekam und ins knapp 4,5 km entfernte Internat aufgenommen wurde.
Das Domgymnasium ….. machte ihm bis auf das Griechische im Anfang keine größeren Schwierigkeiten, wenngleich er nun schon mehr für die Schule arbeiten musste. Er saß oft bis elf, zwölf Uhr nachts des Winters über seinen Heften und musste schon um fünf Uhr wieder aufstehen [was bedeutete, dass ihm der Lernstoff nicht zufiel]. Zuerst war er ängstlich und scheu, allmählich fand er sich zurecht, obgleich er auch hier niemals in dem allgemeinen Schülerleben aufging; aber er war sehr stolz auf seine Gymnasiastenwürde, die er besonders gern gegen seine Schwester herauskehrte.
Was diese Jahre ausfüllte, war nicht die Schule, sondern das Dichten und Musizieren, die Freunde und die Ferien. Was ihn zum Dichten brachte, war der Trieb, an allem, was er sah und las, produktiv zu werden [und Sich, oft mit Erfolg, durchaus legitim, darzustellen!] ….. Die dramatischen Versuche und die Gedichte, die der Zehn- bis Vierzehnjährige zustande brachte und an denen er sich nach eigenem Geständnis sehr quälen musste, [weil sie N - wegen keinerlei vorliegender Genialität letztlich! - ihm nicht nur so zufielen! - und], da er Reim und Versmaß nicht sehr in der Gewalt hatte, zeigen [sich in den vielen aus dieser Zeit nachgelassenen Schriftstücken] keine eigentliche Begabung und Originalität. J1.55 So bestätigt es Paul Janz, wogegen niemand, der diese Schriftstücke liest, mit vernünftigen Gründen Widerspruch üben würde.
1855
Der Basler Professor und Kulturhistoriker Jacob Burckhardt, 1818-1897, den N 15 Jahre später als Kollegen umwerben sollte, veröffentlichte seinen geschmacksprägenden Kunstführer für Italien, den „Cicerone“. Der Mount Everest wurde als höchster Berg der Welt erkannt. In Paris gab es eine „Weltausstellung“ als Leistungsschau der Industrie und zum ersten Mal ein Warenhaus. Die Stahl-Massen-Erzeugung mit der Bessemer-Birne wurde erfunden. Darwins Erkenntnisse zur Evolution standen vier Jahre vor ihrer Veröffentlichung. In Amerika erschien die noch unbetitelte Erstausgabe der später so genannten „Leaves of Grass“ [Grashalme], 12 Gedichte des Druckers, Lehrers, Zeitungsherausgebers und Mitbegründers der modernen amerikanischen Dichtung, Walt Whitman (1819-1892), ein Band, der in den Folgeausgaben der nächsten Jahres dann unter dem berühmt gewordenen Titel bereits 34 und 1860, in der dritten Ausgabe 154 Gedichte umfassen sollte und von Anfang an die uneingeschränkte Bewunderung des für N so wichtig werdenden amerikanischen „Philosophen“ Ralph Waldo Emerson (1803-1882) wecken sollte. Bei seiner Afrika-Durchquerung entdeckte der schottische Missionar und Forscher David Livingstone, 1813-1873, die Viktoria-Fälle. Von dem französischen Diplomaten, Schriftsteller und Wagnerbewunderer Comte de Les Pléiades, Arthur de Gobineau, 1816-1882, erschien der vierbändige „Versuch über die Ungleichheit der menschlichen Rassen“, eine „Geschichtsphilosophie“ zur Begründung von dessen Theorie der überlegenen arischen Herrenrasse, die sich am besten, reinsten und hoffnungsvollsten als „weiße Urrasse“ in Skandinavien und - wie durchsichtig - im französischen Adel erhalten hätte, „während die Deutschen [nach Gobineaus Meinung] lediglich eine Mischung aus Kelten und Slawen darstellten.“ Andere sahen das anders. - Das Werk wurde später von einem Mitglied des Bayreuther Kreises um Cosima Wagner ins Deutsche übersetzt und nahm Einfluss auf Cosima Wagners Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain, 1855-1927, der Gobineaus Grundgedanken mit einem stark antisemitischen Akzent „bereichern“ sollte. Mit dem neuen russischen Zar Alexander II. erfolgen Lockerungen, u.a. hinsichtlich der Leibeigenschaft. Während die aufgekommene Entwicklung industrieller Massenproduktion Fortschritte machte und das Netz der Eisenbahnverbindungen sich verdichtete hatte sich die Industrie-Produktion gegenüber dem Jahr 1800 mehr als versechsfacht, veränderte vorerst aber nur wirtschaftliche Schwerpunkte; es erreichte den Einzelnen im deutschen Spätbiedermeier noch nicht auf spürbare Weise.
Ns Schülerleben am Domgymnasium lief so dahin. Etwas Besonderes gibt es aus dieser Zeit nicht zu berichten. Die Knaben spielten parallel zum Russisch-Türkischen Krieg anhand von Nachrichten über das wirkliche Kriegsgeschehen mit Bleisoldaten die Belagerung von Sewastopol. Man besuchte den Zirkus, spielte Klavier, dichtete, lernte in einer in sich abgeschlossenen Welt, und blieb von den Veränderungen, die sich in erheblicher Entfernung abspielten weitgehend unberührt.
Was über N speziell zu erwähnen wäre steht in einem Brief der Mutter vom 15. Mai 1855 an ihre Eltern in Pobles über den von dort zurückgekehrten Sohn:
Mein guter Fritz kam etwas matt hier an und war einige Tage nicht so wohl also sonst, er hatte sich wahrscheinlich von seinem kleinen Unwohlsein noch nicht ganz erholt und war den Morgen doch wieder so nass geworden. Heute ist er ganz Feuer und Flamme da er von Gustav Krug diesen Mittag von 11 bis 1 Uhr zu einer musikalischen Unterhaltung eingeladen war und wohl noch 30 Personen, indem die Gebrüder Müller aus Braunschweig (große Violin-Virtuosen) welche schon kürzlich einige Tage hier waren und Herrn Rat Krug [der Vater von Freund Gustav] als Musikvirtuosen kennen gelernt, an selbigen geschrieben haben um sich die Erlaubnis zu erbitten in seiner Familie einige Quartetts von Herrn Rat komponiert vorzutragen und eines ist mit größtem Beifall geschehen. Überhaupt hat er durch die Familie manche Freude, als am Donnerstag, wo er mit Krugs zum Pfortaer Bergtag ging [das war ein Festtag der „Gelehrtenschule“ und dem Internat Schulpforta].
Über eine besonders stabile Gesundheit verfügte N offenbar nicht. Es gab etliche gesundheitliche Zwischenfälle, für die zumeist überhaupt, vor allem jedoch eindeutige Belege fehlen. Von N selber gibt es aus diesem Jahr nur einen kurzen, belanglosen, dreizeiligen Brief an den innig geliebten, nur zwölf Jahre älteren Onkel Edmund Oehler, das achte von den elf Kindern der Großeltern in Pobles, der zu der Zeit Student der Theologie und als Hauslehrer in der Familie eines Pfarrers in der Nähe von Magdeburg beschäftigt war.
1856
Der Krimkrieg Russlands gegen die Türkei ging zu Ende. Von Amerika ging eine Weltwirtschaftskrise aus. In der Wetterforschung wurden erste Erfolge erzielt; was sich positiv auf die zu erwartenden Ernten auswirkte.
Im Erziehungsbericht des Domgymnasiums vom 15. Januar 1856 wurde über Fritz N vermerkt:
Er hat sich stets durch rühmlichen Fleiß und gutes Betragen die Zufriedenheit seiner Lehrer zu erwerben gewusst.
In einem Brief vom 10. Februar 1856 berichtete die Mutter über die darstellerischen Erfolge ihres Sohnes, um den es ihr in erster Linie ging weil dieser Gelegenheit hatte, sich in derlei zu üben:
Freitag war ich zu einer im höchsten Grade ergötzlichen Vorstellung bei Ratsherren Pinders, indem unsre beiden Söhne [Wilhelm und N] ein Stück „die Götter auf dem Olymp“ [also nach Superlativen] betitelt, selbst erdichtet und an selbigem Abend von N als Mars, Hr. Rat Pinder als Jupiter, Wilhelm Pinder als Apollo, Sophiechen Pinder als Diana, Gretchen Pinder als Juno und Elisabeth N als Pallas Athene vorgetragen wurde, wir haben zu viel Spaß dabei gehabt.
Die Osterferien - um den 23. März herum - wurden bei den Großeltern in Pobles verbracht und wieder in Naumburg schrieb die Mutter am 29. März an ihre Eltern: so lockend mir Deine Einladung mein Väterchen klang, so muss ich doch wohl auf diese verzichten, da die Kinder, vorzüglich Fritz, keine Stunde, wie mir heute der Herr Direktor versicherte, versäumen dürfte.
Diese Aussage beinhaltet, dass N sich ranhalten musste, um leistungsmäßig mit den Kameraden mitzuhaltet und auch zu verstehen gab, dass sich bei dem 12-Jährigen nichts rundum Genialisches zeigte.
Am 3. April starb die Großmutter Erdmuthe N. In den erhalten gebliebenen Briefen von und an den elfeinhalbjährigen N blieb ihr Tod ohne Niederschlag. Von nun an konnte Ns Mutter Franziska - endlich! - die „Führung“ ihrer kleinen Familie in Übereinstimmung mit dem Vormund der Kinder mutig und umsichtig nach eigenen Vorstellungen bestimmten. Die noch verbliebene Tante Rosalie zog bei dieser Gelegenheit in eine eigene Wohnung.
Im Sommer wurde N vom Domgymnasium wegen Kopf und Augenschmerzen beurlaubt. Sie müssen recht erheblich gewesen sein, wurden aber, wie häuslich üblich, nur mit Hausmitteln, Wasserkuren, Umschlägen, Ruhe und - von daher lebenslang so angewandt! - mit beruhigendem und gesittetem Spazierengehen „behandelt“.
Ende August schrieb N von einem Verwandtenbesuch (mütterlicherseits) in Altschönefeld bei Leipzig, knapp 70 km entfernt, an die Mutter in Naumburg:
Noch hätte ich Dir mitzuteilen, dass die Tanten nur [einige nicht lesbare Worte] mir geraten, wegen der schlechten Augen [unleserlich: etwas?] Kornbranntwein oben über den Augen täglich [unleserlich: einzureiben?] Sage Deine Meinung dazu. (13)
Dabei dürfte es sich um frühe Auswirkungen der Veranlagung gehandelt haben, immer wieder mal, schubweise, unter ziemlich starken Kopfschmerzen zu leiden. Der Vater hatte darunter gelegentlich auch, aber nicht in diesem Ausmaß, gelitten. Im Alter von knapp zwölf Jahren begann N nachweislich an dieser Art beurlaubenswerten Zuständen zu kränkeln und sogar schwer zu leiden - je länger, umso stärker und problematischer werdend - bis schließlich zum Brechreiz und endlosem Galle-Erbrechen, was trotz diverser, meist auf Hausmittelchen beruhenden Gegenmaßnahmen, selbst unter ärztlicher Begutachtung, von seiner Ursache her ungeklärt und damit auch, sofern es damals dazu überhaupt Erkenntnisse gab, gezielt unbehandelt blieb und im Lauf der Jahre mit wechselnder Regelmäßigkeit in vollkommen unberechenbarer und oft auf kaum mehr erträgliche Weise auftreten sollte. Bei diesem ersten vermerkten Mal wurde er für den Rest des Semesters, bis Ende September also, vom Schulbesuch befreit und glaubte sich mit einsamem stundenlangem Spazierengehen - was zu einer Lebensgewohnheit wurde! - und Klavierspielen kurieren zu können; - immer von neuem in der Hoffnung, dass der Heilerfolg daraus jeweils für immer gelte und endgültig sei.
Außerdem litt N an Aufregungszuständen und wohl auch, wie sein Vater schon, an stillen Momenten innerlichem „Wo-anders-sein“, was fraglos mit - allerdings nicht direkt, aber doch, als etwas anderes wahrgenommenen und auch benannten! - „Erlebnissen“ währenddessen verbunden war. - Er „litt“ auch - sehr undistanziert zu sich selbst! - an der bereits erwähnten Neigung, nur das als für wirklich wahr und richtig zu halten, was ihm, vor allem auf sein persönliches Gefühl und Dafürhalten gegründet, nach dem Urteil seines eigenen, wenig selbstkritischen Wertens entsprach und daran, diese Gültigkeit als gleichsam objektive Wahrheit in gefährlicher Ausschließlichkeit immer und in allem unkritisch auf andere, das heißt auf die außerhalb seiner selbst „autistisch gefühlsblind“ wahrgenommene und bestehende Welt, zu übertragen! Noch blieb allerdings all dies von der starken Prägung durch seine Umwelt verdeckt. Es fiel nicht besorgniserregend auf, kam eigentlich noch nicht in Betracht, war aber bereits vorhanden.
In ungefähr diese Zeit würde - wenn es denn tatsächlich stattgefunden haben sollte! - ein Ereignis gehören, das N in späteren Jahren - im „Frühling bis Sommer 1878“ - also 22 Jahre später erst rückblickend - angeblich erinnernd! - notierte:
Er habe „Als Kind Gott im Glanze gesehen“. - 8.505 - Der offizielle Kommentar zur kritischen N-Ausgabe weiß dazu nichts Klärendes beizutragen; - wohl um sich, so oder so, nicht in zweifelhafte Nesseln zu setzen? - Hatte er nun? Hatte er nicht? Warum hat N das - und so spät erst? - aufgeschrieben?
Diese „Erinnerung“ erweist sich - sollte sie denn, was eher zu bezweifeln wäre, echt gewesen sein! - in ihrer genauen Datierung als schwierig: „Als Kind“ kann für das Alter von etwa 6 bis maximal ungefähr 12 Jahren gelten. Für „davor“ und „danach“ würde der zumeist recht genau bezeichnende N wohl eher ein anderes Wort gewählt oder entsprechende Adjektive benutzt haben, um in seinen Angaben nicht zu ungenau zu erscheinen. Carl Albrecht Bernoulli (1868-1938), ein Baseler Freund von Ns späterem dortigen besten Freund Franz Overbeck - und durch diesen mit einem Zugang zu einer N-Quelle „aus erster Hand“ versehen - behauptete in seinen sehr frühen Angaben zu Ns Leben in Bezug auf seine enge Freundschaft mit Franz Overbeck - und zu einer Zeit vor 1908, da er kaum eine Ahnung von Ns nachgelassener Notiz haben konnte! - N hätte diese „Erscheinung“ „mit 12 Jahren“ B2.179 gehabt. Das ergab sich wohl aus einem mündlichen Hinweis Overbecks, dem N dergleichen demnach erzählt haben müsste, was durchaus vorstellbar, aber nicht verbürgt ist, - nämlich dass es das Ereignis tatsächlich gegeben hat. N gab zu dieser sehr spät als Tatsache dargestellten „Erscheinung“ in seiner Notiz kein genaueres eigenes Alter an. Er stellte damit - wie er das zu vielen Plänen tat, wenn er über bestimmte „Themen“ etwas stark aus der Reihe oder gar „Rolle“ Fallendes zu schreiben gedachte, in der Form von „Planungs-Entwürfen“ dar, - was er mit den direkt anschließend dazu den recht lästerhaften wirkenden Worten, - dabei im Frühjahr bis Sommer 1878 Erinnerung, Traum, Örtlichkeiten, Absicht und freie Phantasien durcheinanderwürfelnd, Stichworte zu einem gewagt ehrgeizig wirkenden Projekt ergibt, nämlich:
Erste philosophische Schrift [aber wieso „philosophisch“? - wo es doch lediglich um hochspekulative „Vorstellungen“ ging?] über die Entstehung des Teufels (Gott denkt sich selbst, dies kann er nur durch Vorstellung seines Gegensatzes). 8.505
Warum und wieso? Konnte N „sich selbst“ auch nur durch die Vorstellung einer auf die Gegensätze des Bestehenden versessenen Umwertungsexistenz „denken“? - Die „Logik“ dieses Schlusses ist ganz und gar eindeutig aus Ns eigenem Erleben und seiner auf sich selbst bezogenen Vor- und Darstellung geboren und bloße „Behauptung! - Selbstdarstellung wieder einmal. Seine Notiz fährt fort:
Schwermütiger Nachmittag [Fürwahr! Mit diesem Plan dürfte er 1878 seine derzeitige Gemütsverfassung beschrieben haben. Arbeiten tat er zu der Zeit an Folge-Aphorismen zu „Menschliches, Allzumenschliches“, vielleicht gar schon an Einfällen zu deren zweiter Fortsetzung, dem Teil „Der Wanderer und sein Schatten“. Darauf folgt dann noch:
- Gottesdienst in der Kapelle zu Pforta, ferne Orgeltöne [diese aber lagen zu der Zeit als er das niederschrieb auch schon - spätestens zur Zeit seines Abiturs im Jahr 1864! - und damit mindestens 14 Jahre zurück und waren also Erinnerungen an eine andere Zeit, als die fast doppelt so weit zurückliegende Zeit „als Kind“, wo er denn „Gott in seinem Glanze gesehen“ haben wollte oder gesehen zu haben meinte. Andrerseits war in 1878 zweimal in Naumburg und konnte von dort, was er oft tat, einen Besuch in Pforta gemacht haben! - Danach notierte er noch, als persönliche Rechtfertigung dafür, sich zum Autor dieses wahrhaften „Teufelsthemas“ machen zu dürfen:] Als Verwandter [und Abkömmling!] von Pfarrern früher Einblick in geistige und seelische Beschränktheit, Tüchtigkeit, Hochmut, Dekorum 8.505 [also völlig befangen noch in der Vorstellung des ständischen „Herkommens“ zur Legitimation der Leistung seines sich selbständig und unabhängig gebärdenden „Seins“].
29 Jahre später, im Juni-Juli 1885, erinnerte N sich noch einmal an diese sündhaften „Gedanken“ seiner Jugend und notierte sich:
Der ersten Spur philosophischen Nachdenkens [es war auch das aber nur ein hochspekulativer Effekt! - und N wird ihn gar für „wissenschaftlich“ gehalten haben!], der ich, bei einem Überblick meines Lebens, habhaft werden kann [N nahm darauf bereits im Frühling-Sommer 1878 schon einmal Bezug!], begegne ich in einer kleinen Niederschrift aus meinem 13. Lebensjahre [was erstens heißt, dass N sich als 41-jähriger ernsthaft mit Schriften aus seiner Kindheit beschäftigte und gab zweitens einen Hinweis darauf, dass selbige ihm sehr wichtig waren und drittens, dass er sich in der Angabe der Jahreszahl irrte, zu der ihm sein umgewertetes Gottes-Teufelchen im Geiste erschienen war, was mit dieser Altersangabe erst dem 13-jährigen nach Mitte Oktober 1857 hätte geschehen können]: dieselbe enthält einen Einfall über den Ursprung des Bösen. Meine Voraussetzung war, dass für einen Gott Etwas denken und Etwas schaffen Eins und Dasselbe sei. Nun schloss ich so: Gott hat sich selbst gedacht, damals als er die zweite Person der Gottheit schuf: um aber sich selber denken zu können musste er erst seinen Gegensatz denken [weil für N selbst die Gegensätze, der Widerspruch, die Umwertung im oder als erlebtes „Denken“ immer so wichtig und von eigentlicher Substanz gewesen war?]. Der Teufel hatte also in meiner Vorstellung ein ebensolches Alter wie der Sohn Gottes, sogar einen klareren Ursprung - und dieselbe Herkunft. Über die Frage, ob es einem Gott möglich sei seinen Gegensatz zu denken, half ich mir damit hinweg, zu sagen: ihm ist aber Alles möglich [so eröffnete N sich alle Regionen des „Denkens“, indem er sich etwas ausdachte und ihm alles Ausgedachte auch möglich und richtig schien!]. Und zweitens: dass er es getan hat, ist eine Tatsache, falls die Existenz eines Gott-Wesens Tatsache ist, folglich war es ihm auch möglich“ 11.616, [nach den Gesetzen einer Art kriminologische Kinderphilosophie, über die N bis dahin - in zumindest diesem Punkt! - noch nicht hinausgekommen war].
Letztlich ging es N in dieser nachgelassenen „Erinnerung“ um die Festsetzung, dass aufgrund seines Erb-Priester-Herkommens nur Er einen „legitimen Anspruch“ auf eine aus dem Bauch heraus gewonnene „genaue“ oder sogar als „wissenschaftlich gelten könnende Kenntnis“ über die zeitgemäß völlig belanglose „Entstehung des Teufels“ erheben und damit sogar Recht haben könnte mit dem, was er sich dazu hatte einfallen lassen, beziehungsweise hatte einfallen lassen wollen und dies also für richtig und wichtig hielt! Es war ein momentaner Plan, wie so viele andere, die ihm - zumeist kurzfristig! - kamen. Er hat das heikle Thema dann ja auch, wie übrigens etliche andere, nicht weiter verfolgt, so dass im Rückschluss daraus nahe zu liegen scheint, dass der Beginn der Aufzeichnung, nämlich „Gott in seinem Glanze gesehen“ zu haben, ihm vor allem dazu dienen sollte, seine „Kompetenz“ für das so herrlich gewagt und aufsässig wirkende Thema herauszustreichen, denn außerhalb dieser Notiz ist in den unendlich vielen Nachlassschriften dazu kein weiterführender Hinweis auf diese Zusammenhänge zu finden; - auch wenn N sich im Laufe der Jahre viel damit herumschlug, „den Teufel zum Advokaten Gottes“ 10.55 zu machen.
Sollte es dennoch ein echt zu nennendes „Erlebnis“ dieser Art gegeben haben - schließlich scheint N dem Freund Overbeck gegenüber einige Jahre bevor diese Notiz entstand davon erzählt zu haben! - dass er „als Kind Gott in seinem Glanze gesehen“ hätte, so weist das in die Richtung des bei ihm immer wieder vorkommenden Motivs der „Lichtfülle“, des „Glanzes“, der „Erleuchtung“, des „Von-Licht-umflossen“ und „Von-Licht-umgürtet“ und auch „Flamme“ zu sein - wobei es jedes Mal um die Beschreibung von „Erscheinungen“ ging, die ihm zugleich als Erkenntnisse und als Erlebnisse „vorgekommen“ waren! - weshalb bei ihm wohl auch Erlebnis und Philosophie, „philosophisches Leben“ und „gelebte Philosophie“, also Gedachtes und erlebbare, ja tatsächlich erlebte „Realität“ wie bei keinem sonstigen „Philosophen“ zusammenfielen und ein und dasselbe zu bedeuten hatten: Etwas Geheimnisvolles, nie wirklich klar Benanntes, aber abnorm zu Nennendes „geistert“ durch Ns Biografie und Schaffen, - und sollte sich „in Bälde“, ab 1861 schon, mit etlichen Aussprüchen von Ralph Waldo Emerson in klärenden Einklang bringen lassen! Das Gleiche gilt für die ungefähr in zwölf Jahren, Herbst 1868 bis Frühjahr 1869, auftauchende, halluzinierte „Gestalt hinter meinem Stuhle“. BAW5.205 Es geht also um nichts Einmaliges, sondern um in verschiedenerlei Gestalt wiederkehrende Erlebnisse oder „Ereignisse“ recht eigenartigen Charakters. Der überwältigende Zusammenhang dieser „Absonderlichkeiten“ wird mit Emerson des Genaueren zu klären sein, wenn N diesem 1861 dann, als seinem „Erlöser“, auf einer Ferienreise begegnen wird.
Am 25. Mai 1856 schrieb Franziska N aus Naumburg, wieder unter anderem, ihrem Vater in Pobles:
Fritz ist ein großer blühender Knabe und geht mir ein Stück über die Schulter, macht auch in geistiger Beziehung recht gute Fortschritte, hat zwei liebe Jungen, die Söhne der Apellationsräte Pinder und Krug zu Busenfreunden und es ist viel geistiges Leben unter ihnen. Fritz bleibt noch seinem Vorsatz treu, geistlicher zu werden, setzt darum Psalmen in Musik, schreibt auch kleine Theaterstücke, wo diesen Winter zu aller Ergötzen bei Rat Pinders eines zur Aufführung kam, betitelt „die Götter auf dem Olymp“ und eben schießt er im Hof einen Vogel ab. -
Wie realistisch das Letztere gemeint sein mag bleibe dahingestellt. Aller Wahrscheinlich handelte es sich um eine Scheibe in Vogelgestalt beim Armbrustschießen, wie Paul Janz es als Spiel des Kandidaten Weber für das Jahr 1851 erwähnte.
Kurze Zeit später beeindruckte N eine Aufführung von Georg Friedrich Händels „Judas Maccabäus“ im Naumburger Dom ganz gewaltig. Er hörte auch andere Werke, beispielsweise Haydns „Schöpfung“, Mendelsohns Sommernachtstraum und anderes mehr.
Am 30. Juli 1856 schrieb Franziska wieder auch über N an ihren Vater und zwar anlässlich eines Besuches von einem Verwandten von der väterlichen Seite her:
Er [dieser Verwandte] ist wirklich ein ausgezeichneter Mann und durch seinen klaren Verstand, sein richtiges Urteil, sein großes Interesse für alles Religiöse, in seiner ruhigen würdigen Bewunderung der Größe Gottes, der Erhabenheit desselben als Schöpfer, Welt-Erhalter und so fort, des Herrn Christus und seiner Lehre eine wirklich erfreuliche und erbauliche Erscheinung unserer Zeit, besonders als Kaufmann. Dabei der liebenswürdigste und sorgsamste Vater seiner Kinder, [und nun kommt das Wichtige: er] hat auch große Freude an Fritz wo er meint: er sähe Luther ähnlich und würde am Ende in Luther [Martin Luther, 1483-1546, Urheber und Lehrer der „Reformation“ - ein Erneuerer der Kirche gewissermaßen! - was die dauerhafte, fundamentale „Abspaltung“ der evangelischen von der katholischen christlichen Kirche zur Folge hatte!]. Es wäre ihm eine wahre Freude diesen kräftigen und prächtigen Jungen zu sehen ….. “
Zu dem Zeitpunkt, wo dies geäußert wurde, war N knapp zwölf Jahre alt und somit eine Ähnlichkeit mit Luther gewagt! Solche Urteile von einem Mann mit angeblich „klarem Verstand“ und „richtigem Urteil“! Auf welchen Druck, auf welche Erwartungshaltung in Ns Umgebung ist daraus zu schließen? Es dürfte sicher sein, dass Jung-N derlei zu Ohren kam, wenn es ihm nicht gar angelegentlich direkt unter die Nase gerieben wurde, dass man dazu neigte, solche zwar „auszeichnenden“, dennoch aber unrealistischen Erwartungen an ihn zu stellen! Sollte N den Eindruck bekommen, dass man von ihm erwartete, ein neues Reformationszeitalter bewirken zu müssen? Und dass er dies bei seiner ohnehin gegebenen Neigung zum Maßlosen für den Erhalt seiner überhaupt etwas zu bedeuten haben könnenden Existenz als Richtschnur und Maß seines möglichen Anerkannt-werdens verinnerlicht hat?
Ns Biograph Paul Janz schreibt zu dieser Briefstelle: Die Mutter war gewiss stolz auf ihren Sohn, aber weit mehr auf den guten Schüler als auf den werdenden Denker [von dem sie - als Mutter des Zwölfjährigen! - doch nicht die geringste Ahnung gehabt haben konnte! - und definitiv auch keine hatte, als sie achtundzwanzig Jahre später den geistig Zerstörten zu sich nahm um ihn bis zur ihrem eigenen Lebensende zu pflegen! Weiter schrieb Janz, seinem Vorgänger Blunck blind folgend:) Was in diesem [ihrem Sohn] vor sich ging, entging ihr völlig. Sie ließ ihn darin gewähren, ohne sich um ein Mitgehen zu bemühen [was doch nichts anderes hieß, als der rührigen, umsichtigen und strebsamen Mutter vorzuwerfen, dass Sie zu „normal“ - im Sinne von Lebenstüchtig! - blieb, was sie immerhin befähigte, das verrückt gewordene „Genie“, von dem man immer wieder zu viel erwartet hatte, als hilflosen Idioten jahrelang zu betreuen.]
Die Voreingenommenheit des Biographen geriet hier aufgrund der schiefliegenden Betrachtungsweise seiner Urteilsfähigkeit aus der richtigen und gerechten Bahn. - Nur weil er unbeirrbar davon ausging, dass da ein neuartiges „Jesuskindlein“ sich „zum Denker“ zu entwickeln hätte um die europäische Kultur auf völlig neue Gleise zu lenken; - was ja zu einem üblen Teil in Erfüllung ging, - jedoch nicht zu einem anerkennenswerten „Segen“ der Menschen führte, wie sich zeigen wird. Erschreckend ist hier die gewaltig verschobene Perspektive von einem, der auf die Bewunderung Ns derart versessen war, dass er sich blind stellte gegen das, was da tatsächlich vor sich ging und damit der Mutter Franziska - dass sie seinen Erwartungen nicht Genüge tat! - erhebliches Unrecht zufügte? - Er fuhr danach fort:
Ihr ganz auf das Praktische gerichteter Sinn umhegte ihn [N] in allen Dingen des körperlichen Wohls [weil dies wohl andauernd notwendig war!], ließ auch keine Ungezogenheiten aufkommen; sie verweichlichte ihn nicht [folgte aber doch wohl klaglos seinen bedenkenlosen Ansprüchen auf Überversorgung ohne ihn dazu bringen zu können, sich in ausreichendem Maße selbst um seine Lebensbelange zu kümmern!]. Aber sie hatte für ihn keinerlei geistiges Gewicht.
Wie sollte sie solches gehabt haben, wo doch der Biograph selber - selbst in Kenntnis des gesamten Lebensverlaufes! - nicht durchschaute, worüber er so blind und einseitig begeistert schrieb?
Ihre Kritik bezog sich nie auf sein Wesen und seine eigentlichen Gefahren [das war in förderndem Sinn gemeint, denn bremsen tat sie - was ebenfalls förderlich gemeint war - sehr wohl!], sondern nur auf sein Verhalten und sein Fortkommen. Sie bewunderte ihn und hatte doch wohl häufig [durchaus nicht unberechtigte!] Angst um ihn ….. Aber dann riet sie dem Sohn wieder, nicht „immer etwas anderes zu tun als die anderen“ J1.105 [was sie früh bemerkt hatte, aber in der hier angeführten Form von dem Biographen aus einem wesentlich später, nämlich erst 1862 geschriebenen Brief der Mutter genommen wurde: Und zwar anlässlich einer nicht unerheblichen Rüge, die N sich aus gedankenlosem Übermut eingehandelt hatte, weil er im Internat auf unangebrachte Weise eine gestellte Aufgabe ohne Bezug zur Realität auf sehr eigenwillige, dabei aber absolut nicht sachgerechte Weise erledigen zu können meinte, - davon aber später mehr.
Das auf Luther bezogene Zitat hat Paul Janz in seiner Super-Biographie aus unerfindlichem Grund in einen verzerrenden Zusammenhang mit dem N nach dem Jahr 1861 gestellt und umschrieb ein Verhalten, das N zeigte, nach dem ihn 1861 das von Janz zu der Zeit jedoch kaum erwähnte Emerson-Erlebnis überrollt und überrumpelt hatte. Für das Jahr 1856 war die Kritik an der Mutter seitens Janz unangebracht! - und vielleicht nur als Geschichtsklitterung benutzt, - um die Bedeutung von Emerson für Ns Fortleben zu übergehen? Man darf eine tiefgreifende „Prägung“ nicht einfach um Jahre verschieben, - denn hier ging es um eine absolut nicht unwichtige Bemerkung über den Zwölfjährigen und nicht um N als 17-jährigen: „Ein Verwandter hielt den altklugen Jungen für einen Luther“, für „so etwas wie einen Luther“: Beispielhaft! Gerade einmal so für einen, der einmal epochemachender „Reformator“ werden würde, - oder etwas, was diesem gleichgekommen wäre! Aber wahrscheinlich ist das alles bereits kaum sauber abtrennbar ein Bestandteil der Legendenbildung, die sich darin gefällt, aus tausend Keimen zu wuchern.
Bei dem „Stolz“ der Mutter ist davon auszugehen, dass „das Ganze“, weder vom Verwandten noch von der Mutter, hinter Ns Rücken geschah, sondern - wie seinerzeit der Brief des Gustav Adolf Oßwald an den gerade Siebenjährigen! - angelegt war auf eine offene Demonstration der selbstverständlich ehrgeizigsten Erwartungshaltung N gegenüber. Du sollst mal etwas ganz Großes werden! Wie in den Märchen von irgendwelchen Feen an der Wiege gesprochen eine sich von selbst erfüllende Prophezeiung, die in so gut wie allen Fällen erst hinterher ihre Bedeutung bekam! Es gibt Anlagen und Momente im Leben, wo solches „zündet“ und als tief eingesenktes Muss einfach „sitzt“ und sitzen bleibt, wie ein fortwährend verpflichtender, schmerzender Stachel. Dass so etwas N geschah wäre durchaus vorstellbar und würde passen zu dem späteren Urteil über den bei ihm spürbaren „Ehrgeiz bis zum Defekt“ NR.320, wie ein solcher dem unbefangenen Overbeck in Basel an dem ihm entgegentretenden Professor sofort ins Auge sprang. Denn dergleichen zeigte sich nicht nur in krassen Blitzlicht-Momenten, sondern auch zwischendurch bei tausend kleinen, immer wieder in die gleiche Richtung weisenden und in die gleiche Kerbe hauenden Gelegenheiten.
Über das, was das Zitat des Biographen an anmaßenden „Wertfragen“ über das Verhalten der Mutter Franziska enthält, bleibt nur ehrliche Verwunderung und Kopfschütteln angebracht: Auch darüber, mit welcher Selbstverständlichkeit es seitens des Bewunderungsfanatismus eines N-Anbeters zu Urteilen kommen kann, die eine unreflektierte Projektion späterer Ereignisse auf Zeiten legt, die von derlei gar keine Ahnung gehabt haben können.
Am 22. November 1856 hörte N mit der Mutter und einem Cousin im schönen, feierlichen alten Dom von Naumburg Mozarts Requiem, das wie alle Musik auf den Empfänglichen normalerweise einen tiefen Eindruck machte, - es wäre schlimm gewesen, wenn N davon ausgenommen gewesen wäre.
Am zweiten Weihnachtsfeiertag beschloss N ein Tagebuch zu führen. Er hat das nicht durchgehalten und war auch nicht der Typ, die realen Tatsächlichkeiten erfassen und festhalten zu wollen. Er schrieb:
Endlich ist mein Entschluss gefasst, ein Tagebuch zu schreiben, in welches man alles, was freudig oder auch traurig das Herz bewegt, dem Gedächtnis überliefert, um sich nach Jahren noch an Leben und Treiben dieser Zeit und besonders meiner zu erinnern.
Es waren nicht die Ereignisse, also das von außen ihm Zukommende, an das N sich erinnern wollte, sondern „sein Selbst“, was zu seiner Introvertiertheit passend „sein Herz bewegte“ und für seine Auf-sich-selbst-Bezogenheit bezeichnend ist, auch bei derlei Flüchtigkeiten!
Möge dieser Entschluss nicht wankend gemacht werden, obgleich bedeutende Hindernisse in den Weg treten. Doch jetzt will ich anfangen: Wir leben jetzt inmitten von Weihnachtsfreuden. Wir warteten auf sie, sahen sie erfüllt, genossen jene und jetzt drohen sie uns nun schon wieder zu verlassen. Denn es ist schon der zweite Feiertag. Jedoch ein beglückendes Gefühl strahlt hell fast von dem einen Weihnachtsabend, bis der andre schon mit mächtigen Schritten seiner Bestimmung [zu entschwinden?] entgegeneilt ….. BAW1.375
Oder sollte N das glaubensinhaltlich mit Blick schon auf Ostern und Pfingsten geschrieben haben?
1857
Das Kugellager wurde patentiert. Der seit längerem bereits geisteskranke König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen übergab die Regentschaft an seine Bruder Wilhelm I. In Frankreich erschienen von Charles Baudelaire die mit vielen Erotismen durchzogenen Gedichte „Die Blumen des Bösen“. Auf dem Gebiet der Meteorologie gelangen mit neukonstruierten Teleskopen nennenswerte Fortschritte.
Ns Schülerleben lief so dahin; gebunden an pfarrhausübliche Gläubigkeit und Gottesgegenwart. Die in jeder Jugend auf mehr oder weniger ähnliche Weise ablaufenden, völlig normalen Ereignisse zu erörtern ist nicht Sinn und Zweck dieser Zusammenstellung bedenkenswert kritischer Lebensmomente in Ns Entwicklung und Wesen. Die Anforderungen der Schule standen im Vordergrund. Da musste N sich fügen und anstrengen, um mitzuhalten zu können bei fraglos bestehender Konkurrenz. Beim Spiel war er, vor allem mit der Schwester, der „große Bruder“ und auch gegenüber den Freunden derjenige der die Richtung vorgab und bestimmte, wie was wann vonstatten zu gehen und zu gelten hatte. Die Sommerferien wurden üblicherweise bei den sehr beliebten Großeltern in Pobles, „auf dem Lande“ verbracht.
Am 10. August 1857 schrieb die Mutter Franziska aus dem von Naumburg gut 90 km entfernten, gewissermaßen „auf der anderen Seite von Leipzig“ liegenden Eilenburg, wo sie, auch im Pfarrberuf tätige N’sche Verwandten besuchte, an ihren inzwischen fast 13-jährigen Sohn, der noch bei seinen Großeltern dabei war, seine Ferien zu verbringen, eine Fülle von bedenklich detaillierten Verhaltensregeln, die in Ns erreichtem Alter und in einem seit Jahren gewohnten Umfeld eigentlich als selbstverständlich zu gelten haben mussten:
Mein lieber Fritz, eigentlich ist der Brief gleichzeitig an die guten Großeltern und lieben Geschwister gerichtet aber ich dachte doch dass es Dir besonderes Vergnügen gewähren würde ein Briefchen von Deiner Mama zu erhalten, die sich so sehnt, Dich, mein guter Fritz, wieder zu sehen und zu sprechen. Gott sei Dank dass Du Dich wohl befindest bei den geliebten Großeltern [dieser Stoßseufzer war wegen der so leicht prekären Gesundheitslage von N wohl angebracht! - aber vielleicht gab es da noch weitere Gründe?] wie ich gestern durch Rosalchens Brief [von einer Schwester seines Vaters] erfahren habe. Gebe Gott dass Du Dich auch so wohl befindest, wenn mein Brief ankommt und wenn Deine Mutter und Schwester in eigner Person in Naumburg ankommen. Bis dahin sei hübsch vorsichtig mit Deiner Gesundheit [um die es so leicht sehr wackelig stand] nimm hübsch den Regenschirm mit wenn es regnet und solltest Du je einmal nass geworden sein so ziehe Dich gleich wenn Du zu Hause kommst um, denn Du weißt dass es Dir allemal nicht gut bekommt. Deine Sachen liegen alle auf dem Bett am Schrank, für täglich ziehst Du Deine alte Jacke und leichten grauen Hosen die Du in Pobles mit hast nebst Weste an, ist es sehr kühl die dickeren grauen Hosen und Sonntags die guten nebst Kutte welche Du Dir von Frau Ludwig mit einem wollenen Läppchen und heißen Wasser darnach wie vorher gut gebürstet, reine machen lassen kannst; ist etwas Besonderes so hast Du Dein gutes Jäckchen und Weste am Sonntag, tagtäglich zu etwas besonderem nur die Kutte und lässt Dir von irgend Jemand noch einen Kragen einstecken oder hebest das Vorhemdchen was Du ja wohl mithast und Idachen [eine Schwester der Mutter, die nur 11 Jahre älter war als N] so gut sein will und Dir Deine Wäsche machen, dazu auf.
Diese Maßregeln, Mahnungen, Empfehlungen an einen fast 13-jährigen lässt hinsichtlich von Ns Selbständigkeit tief blicken, wird aber bei dem von seinem Wesen her sehr unselbständigen N für die Mutter gewohnheitsgemäß nötig gewesen sein und war nun schriftlich „nachzuholen“. Dadurch hatten sich zwangsläufig gewisse Mängel in Ns Selbstverwaltungsfähigkeiten aufgetan und die Mutter war in Sorge, diese ausgleichen zu wollen, - was eine dauerhaften „Überversorgung“ durch die Mutter offenbarte, - aber wohl nötig war, weil sie Ns Selbständigkeit beeinträchtigt fand. Sicher wurde der Brief von der Mutter geschrieben, um diese Unselbständigkeit Ns nicht sonderlich auffällig werden zu lassen.
Außerdem nimm so wenig als möglich Hilfe in Anspruch sowohl bei der guten Frau Pastorin [der Großmutter] als [nach der zum Schulbeginn notwendigen Rückkehr nach Naumburg] bei Rosalchen [die unverheiratete Tante, die jetzt in einer eigenen Wohnung in Naumburg lebte] und Dächsels [in Naumburg lebende Verwandte Ns], denn Alle fühlen sich angegriffen und Du bist ja ein großer Mensch welcher sich selbst helfen muss und sich auch die zehn Tage selbst beschäftigen kann, Du kannst ja das Klavierspielen die Tage recht exerzieren, besonders Abends und gegen Abend, aber ja nicht da von Noten [wegen der schwachen Augen bei schlechter Beleuchtung!]. Zieh Deine Uhr täglich auf, steh jetzt um 5 Uhr auf weil Du Dir früher die Augen verdirbst und arbeite nie hinter zugemachtem Roulaux [Rollo], auch in der Stube [wegen der Lichtempfindlichkeit seiner Augen, die ihm leicht Kopfschmerzen verursachten]. Schließe allemal zu was Du aufgeschlossen und täglich die Stube ab wenn Du in die Schule gehst und gib der Frau Pastorin den Schlüssel oder lege ihn hinter den Saalvorhang ins Fenster. So lebe wohl mein teures Kind und erfülle die Wünsche Deiner Dich innig liebenden Mutter. [Das war an Reglement noch nicht alles, denn nun folgte das Schlimmste, eine Ermahnung die noch tiefer blicken lässt als das Vorangegangene: nämlich] Nimm das Blatt [diese Seite des Briefes von der Mutter!] mit Dir nach Naumburg lege es in Dein Pult und lies es von Zeit zu Zeit einmal oder sieh einmal mit darauf ob Du alles tust es sind „Verhaltensregeln“ [extra und zu persönlichem Gebrach erlassene „Schulgesetze“!!]. An Rosalchen wo Du wahrscheinlich öfter essen wirst werde ich Dir noch ein Briefchen mitgeben, sei da so wie bei den guten Tanten immer recht hübsch freundlich und artig …..
Diesem Brief nach muss N ein bemerkenswert unangepasster Schussel gewesen sein, weswegen dieser Brief der Mutter unbedingt nötig war! Es mag dahingestellt bleiben, ob diese Flut von „Verhaltensregeln“ dem fast Dreizehnjährigen wie beabsichtig tatsächlich ein „besonderes Vergnügen gewährte“. Die vielen Maßregeln verraten zum einen ein besonderes Achtgeben auf die Gesundheit, die - entgegen den ewigen Beteuerungen der Schwester! - doch recht schwächlich und unzuverlässig war. Zum anderen verrät sich darin ein übertriebener, aber hinsichtlich der praktischen Seite von Franziska N wohl nötig gewesener Ordnungs- und Regelungstrieb der Mutter; - dies aus der Erfahrung heraus, dass bei dem Sohn „sonst nichts richtig klappte“? Wusste die Mutter, wie notwendig ein solcher bis in die Einzelheiten gehender Vorschriftenwust bei Ns Unfähigkeit, in lebenspraktischen Dingen sich in ausreichender Weise selbst um das Notwendige zu kümmern, war? Gar noch mit der Empfehlung, das „Richtlinienblatt“ gewissermaßen stets „bei Fuß“ zu halten, aufzubewahren und immer wieder mal durchzulesen? Weil die Mutter wusste, wie oft sie dem Sohn dasselbe immer wieder sagen musste? Sicher war es Gewohnheit, aus der heraus dieser Brief entstand! - Der Inhalt „passt“ nämlich zum N auch ansonsten anzumerkendem autistischem Naturell! - wie er es bei vielen Gelegenheiten zeigte, was der Mutter als das eigentliche „Problem“ nicht bewusst zu sein brauchte, wenn und weil sie sich ausreichend kümmerte, - denn dann lief soweit mit N alles recht „glatt“, auch wenn es mit ihm nicht einfach war, was die Mutter sicherlich gemeint hatte, als sie dem Vater gegenüber klagte, „dass ihr Fritz so [spürbar offensichtlich auf seine das Autistische streifende unselbständige Art] anders sei, als andere Jungen“. BmN.8
Dieser wahrhaft sonderbar wirkende Brief demonstriert, was recht dauerhaft auf N eingestürmt sein mag und für ihn als Normalität anzusehen war; - auch wenn dieser zum angeblich so genialen N in der überaus meinungsbildenden „Biographie“ der Schwester nicht vorgekommen war! Ob nun aus Angst um seine schwache Gesundheit oder wegen dem darin deutlich werdenden mütterlich überschäumendem Versorgungstrieb oder aufgrund ihrer Erfahrung, dass es so eben notwendig war, weil er diese Art „Schulgesetze“ dringend nötig hatte? Das ist im Nachhinein schwer zu entscheiden. Für die letztere Version allerdings spricht die Versorgungsbedürftigkeit des Schussels N, wie wenig er sich im kommenden Jahr aus eigenem Antrieb auf die Übersiedlung ins Internat vorzubereiten in der Lage fand. Ns gesamte Entwicklung, die ohne wirklich innerliche Abnabelung von „zu Hause“ verlief - von Mutter und Schwester! - legt Letzteres nahe. Dafür spricht auch die - trotz der in der Zukunft eintretenden schwersten Zerwürfnisse - die danach doch ziemlich widerspruchslos erfolgte „Rückkehr“ in die gewohnte Obhut der sich um alles kümmernden Mutter, insbesondere auch nach seinem „geistigen“ Zusammenbruch im Alter von etwas über 44 Jahren. Im kommenden Jahr sollte N in das nahe bei Naumburg gelegene Internat Schulpforta übersiedeln. Anlässlich dieses Umzuges - und auch danach! - wird N sich hinsichtlich seiner Unfähigkeit, sich aus eigenem Antrieb in ausreichendem Umfang selbständig um seine unmittelbarsten Belange zu kümmern, nachträglich als würdiger Adressat dieses Kümmerer-Briefes seiner Mutter erweisen.
Ns am 20. August 1857 aus Naumburg geschriebene Antwort auf den „Richtlinienbrief“ der Mutter, die noch in Eilenburg weilte, beweist - durch „Nichterwähnen“, dass die Verhaltenslitanei als „nichts Besonderes“ hingenommen worden war:
Liebe Mama! Lange schon habe ich Dir für deinen ersten lieben Brief danken wollen; da bekam ich gestern noch einen zweiten. Nun will ich aber auch heute gleich schreiben. Ich denke recht oft an Dich und freue mich sehr, dass Du am Montag [also in 4 Tagen] kommst. Doch ich habe es sehr gut bei der Tante und Frau Pastorin. Bei Rosalien esse ich jetzt sowohl Mittag als Abend. - Mittwoch vor 8 Tagen bin ich hier [in Naumburg] angekommen ganz wohl und gesund und es war in Pobles sehr hübsch. Ein sehr starkes Gewitter haben wir dort erlebt. In Selau [nahebei] brannte eine Wohnung, Scheune und Stall ab. Wir konnten das ganze Feuer sehen. Hier haben wir noch keines erlebt, aber haben jetzt recht nasse Tage. Ich wünsche Dir zu Deiner Ankunft recht gutes Wetter ….. Gebadet habe ich erst zweimal und ich werde auch wohl nicht mehr: Es ist zu kühl. Du befindest Dich nach Deinem Brief recht wohl und Elisabeth auch ….. Ich habe nun nicht mehr lange zu warten, dass ich meine liebe Mama und Elisabeth wiedersehe und deswegen will ich nicht mehr schreiben ….. (14)
Starke Regenfälle, Gewitterwolken, Blitz und Donner haben immer wieder Ns ansonsten der Umwelt nicht sonderlich zugewandte Aufmerksamkeit erregt. Da fühlte er über sich „höhere Mächte“ am Werk, Abenteuer und Gefahr und ein kleines bisschen praktisches Heldentum, nicht davonzulaufen. Es gibt eine Reihe von Textstellen von N, die das Thema genussvoll behandeln.
An weiteren Dokumenten gibt das Jahr kaum etwas her. Die Monate liefen ohne dass Besonderes passierte. Ns letzter überlieferter Brief des Jahres stammt vom 1. November 1857. Darin schrieb er aus Naumburg an die Großeltern in Pobles:
Liebe Großeltern! Für Euer schönes Geschenk [bares Geld zum Geburtstag] Euch besonders zu danken, lasse ich mir nicht nehmen. Ich habe mich sehr darüber gefreut, bin aber noch im Zweifel, ob ich es in die Sparbüchse tue, oder für einen Lieblingswunsch [den er nicht verriet, aber er hatte immer welche] anwende ….. Meinen Geburtstag habe ich sehr hübsch verlebt, nur etwas ruhiger als gewöhnlich. Wir hatten nämlich die Feier aufgeschoben, weil Wilhelm Pinder noch unwohl war, jetzt aber sich schon sehr gebessert hat. Auch wurde der Tag wegen Krankheit unseres lieben Königs [der am 14. Juli 1857 den ersten von mehreren Schlaganfällen erlitten hatte] auch so stiller gefeiert. Doch habe ich aber sehr viel bekommen. Die Mama beschenkte mich mit einem Bilde Eilenburgs (welches in meinem kleinen Kabinett über dem Pult hängt), einer Weste, einem Schirm, Schreibebüchern in großem und kleinem Format, Elisabeth mit Notenpapier, Wilhelm [Pinder] und Gustav [Krug] mit Sonaten von Beethoven, Tante Rosalchen mit Kuchen, Weintrauben, Nüssen, Birnen, Äpfeln, die Tanten Dächsels mit zwei Talern, Torte und Weintrauben. Zu Mittag war Tante Rosalchen bei uns und wir verzehrten mein Leibgericht, tranken Wein auf mein und des Königs wohl und waren sehr froh ….. (16)