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1. Grundsätzliches

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Der Rechtswidrigkeit kommt im Rahmen der Nötigung besondere Bedeutung zu. Dabei ist das Rechtswidrigkeitsmerkmal ein sog. offenes Tatbestandsmerkmal, sodass ein strafrechtlich beachtliches Verhalten nicht ohne Weiteres vorliegt, wenn jemand zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung genötigt wird. Vielmehr müssen weitere Umstände hinzukommen[53], die das Nötigungsmittel als verwerflich erscheinen lassen. Erst wenn dies der Fall ist, kann von einem strafrechtlich beachtlichen, d. h. tatbestandsmäßigen Verhalten gesprochen werden. D. h.: Eine Nötigung ist erst dann Nötigungsunrecht, wenn Tatumstände vorliegen, die das Vorgehen im Einzelfall als verwerflich erscheinen lassen. Die besonderen Tatumstände sind Merkmale, auf die sich der Vorsatz des Täters erstrecken muss. Der Vorsatz bleibt dabei bestehen, wenn der Täter in Kenntnis aller Tatumstände lediglich eine falsche rechtliche Würdigung vornimmt. In einem solchen Fall liegt nur ein das Unrechtsbewusstsein betreffender Verbotsirrtum vor.

Rechtswidrig nach § 240 II StGB ist die Tat nicht schon dann, wenn der Täter sich auf keinen der anerkannten gesetzlichen oder übergesetzlichen Rechtfertigungsgründe berufen kann. Strafwürdiges Unrecht liegt vielmehr erst dann vor, wenn das Vorgehen des Täters unter Berücksichtigung aller Umstände eindeutig so anstößig ist, dass es als grober Angriff auf die Entschlussfreiheit einen erhöhten Grad sittlicher Missbilligung aufweist.[54]

Vor allem für die anwaltliche Tätigkeit ist dabei eine jüngere Entscheidung des BGH von Interesse, die verdeutlicht wird durch folgendes

Beispiel:[55] Anwalt A war für einen anderweitig verfolgten Mandanten tätig geworden. Der Mandant hatte gegenüber seinen Kunden vorgegeben, sie gegen Bezahlung bei zahlreichen Gewinnspielen als Teilnehmer einzutragen, was er aber tatsächlich nicht getan hatte. A erhielt dennoch den Auftrag, an diejenigen Kunden, die nicht gezahlt oder die die Zahlung ihrer Beiträge im Lastschriftverfahren rückgängig gemacht hatten, Mahnschreiben zu verfassen, in welchen, für den Fall der Nichtzahlung eine Strafanzeige angedroht wurde. Der Mandant erklärte zudem gegenüber dem Anwalt, er solle zum einen, ohne weitere Rücksprache, denjenigen Kunden, die sich beschwerten, „kündigten“ oder Strafanzeige erstatteten, bereits früher geleistete Zahlungen sofort zurückerstatten. Des Weiteren sollten Kunden, die nicht zahlten, keinesfalls verklagt oder angezeigt werden. Die von A verfassten Schreiben wurden von dem Mandanten schließlich selbst verschickt. Durch diese Abmahnaktionen wurden mehrere hunderttausend Euro eingetrieben, wobei A davon ca. 140 000 € erhielt. Strafbarkeit des A? § 241 StGB ist nicht zu prüfen.

Lösung: A hat sich hier wegen versuchter Nötigung strafbar gemacht. Eine Strafbarkeit wegen vollendeter Nötigung scheidet aus, weil laut BGH nicht sicher nachzuweisen war, ob die Zahlungen im Einzelfall tatsächlich aufgrund der Anzeigedrohung im Abmahnschreiben erfolgten. Eine versuchte Nötigung liegt jedoch vor, da die Androhung einer Strafanzeige im Grundsatz dazu geeignet ist, die Bedrohten zur Begleichung geltend gemachter Geldforderungen zu motivieren und im vorliegenden Fall keine Besonderheiten ersichtlich sind, die dazu führten, dass die Empfindlichkeit des Übels – auch unter Berücksichtigung normativer Gesichtspunkte – gleichwohl zu verneinen wäre. Im Rahmen der Verwerflichkeitsprüfung gemäß § 240 II StGB unterstellte der BGH zwar zugunsten des A, dass dieser keine Kenntnis davon hatte, dass sein Mandant die Forderungen betrügerisch geltend machte. Allerdings sei dennoch die Verwerflichkeit der Androhung einer Strafanzeige zu bejahen, da ausschlaggebend sei, dass A und sein Mandant vereinbart hatten, weder die Staatsanwaltschaft noch ein Gericht mit der Angelegenheit zu befassen, eigene Ansprüche nicht gerichtlich geltend zu machen und geltend gemachte Ansprüche von Kunden umgehend voll zu erfüllen. Aus diesen Umständen lasse sich schließen, dass dem Anwalt die zivilrechtlichen Beziehungen zwischen seinem Mandanten und dessen Kunden jedenfalls gleichgültig waren und er sich dennoch als Anwalt und damit als Organ der Rechtspflege zur Durchsetzung von ihm nicht geprüfter Forderungen betätigte. Dies begründe die Verwerflichkeit des Vorgehens.

Die oben genannten Grundsätze sind im Übrigen auch in Fällen der Nötigung im Straßenverkehr zu beachten. So hat der BGH[56] entschieden, dass nicht jede absichtliche Behinderung anderer Verkehrsteilnehmer sozial so unerträglich ist, dass sie als verwerflich angesehen werden muss. Nicht jedes Blockieren der Überholspur ist daher als Nötigung strafbar. Wer also nur ganz kurzfristig nicht überholen lässt oder auf schmaler Fahrbahn nicht ganz rechts fährt, begeht noch keine Nötigung (vgl. auch Fußgänger-Fall u. Rn. 689), sondern verhält sich allenfalls nach § 1 StVO ordnungswidrig. Anders kann es sein, wenn der Täter auf breiter, übersichtlicher Straße absichtlich langsam fährt und ohne erkennbaren Grund den Hintermann schneidet. Nötigung liegt selbst dann vor, wenn keine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ersichtlich ist.[57] Auch ist es grundsätzlich – und nicht nur bei einer Gefährdung einer Person – als verwerflich anzusehen, wenn ein Kraftfahrer sich mit seinem PKW gewaltsam die Einfahrt in eine Parklücke erzwingt, die vom Beifahrer eines anderen Fahrzeugs freigehalten wird (vgl. dazu wieder die klausurmäßige Lösung in Jäger, AT, Rn. 128 f.).[58]

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Achtung Klausur: Im Prüfungsaufbau sind im Rahmen der Rechtswidrigkeit nach § 240 II StGB zunächst die gängigen Rechtfertigungsgründe zu prüfen[59], weil gerechtfertigtes Verhalten niemals verwerflich sein kann.

Erst danach ist – immer noch im Rahmen der Rechtswidrigkeit nach § 240 II StGB – die allgemeine Verwerflichkeit im Sinne einer Zweck-Mittel-Relation zu prüfen:

Ist entweder das Nötigungsmittel oder der Nötigungszweck schon für sich gesehen Unrecht, so ist die Verwerflichkeit grundsätzlich zu bejahen (z. B. Drohung mit Straftat = rechtswidriges Mittel; Drohung, um Ausführung einer Straftat durch den Genötigten zu erzwingen = rechtswidriger Zweck).

Die Drohung mit einem empfindlichen Übel kann aber selbst dann rechtswidrig sein, wenn ihre Realisierung für sich allein nicht rechtswidrig wäre. Dies ist dann der Fall, wenn gerade die willkürliche Verknüpfung von Mittel und Zweck den eigentlichen Unrechtsgehalt begründet. [60]

Vor allem gilt dies für die Drohung mit Strafanzeigen, sodass es hier auf die Gesamtwürdigung ankommt.

Beispiel 1: A droht dem Hausangestellten H mit Anzeige wegen Diebstahls, falls dieser ihm nicht die gestohlene Uhr zurückgibt.

Lösung: Hier ist Verwerflichkeit und damit eine rechtswidrige Nötigung abzulehnen, da konnexe Sachverhalte miteinander verbunden werden und eine Strafanzeige nach der Gesamtrechtsordnung bedenkenlos ist.

Beispiel 2: A erklärt der B, sie anzuzeigen, wenn die B sich ihm nicht geschlechtlich hingebe.

Lösung: Hier ist Verwerflichkeit anzunehmen, weil Zweck und Mittel in keinem Zusammenhang stehen.

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