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2. Sonderproblem: Berücksichtigung von Fernzielen im Rahmen der Verwerflichkeitsprüfung

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Hoch umstritten ist die Frage, ob bei der Zweck-Mittel-Prüfung nur das unmittelbare Nötigungsziel (z. B. Anhalten von Kfz) in die Prüfung miteinbezogen werden darf oder ob auch Fernziele (z. B. das Motiv der Demonstration wie Verringerung der Umweltverschmutzung oder Verhinderung von Krieg) berücksichtigt werden dürfen. Das zeigt folgender, auch noch einmal den Gewaltbegriff problematisierender

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Fall 11: A, der seinen Unmut über die zunehmende Umweltverschmutzung durch den Kfz-Verkehr kundtun möchte, beschließt, gemeinsam mit Gleichgesinnten ohne Vorwarnung die Autobahn A8 zur Hauptferien- und Reisezeit zu blockieren. Die Demonstranten, zu denen auch A gehört, verteilen sich absprachegemäß und trotz polizeilichen Einschreitens auf den Fahrbahnen, stellen sich den herannahenden Fahrzeugen in den Weg und sperren auf diese Weise die Straße, wodurch sich ein 25 km langer Stau bildet. Strafbarkeit des A gem. § 240 StGB? (Demonstrations-Fall nach BGHSt 41, 182[61])

Abwandlung: Wie ist die Strafbarkeit des A zu beurteilen, wenn er – wie zahlreiche andere Demonstranten – sein Auto zwecks Blockade auf der Autobahn geparkt hat?[62]

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Lösung:

In Betracht kommt eine Strafbarkeit wegen Nötigung nach § 240 StGB.

1. Tatbestandsmäßigkeit

a) Objektiver Tatbestand

aa) Fraglich ist, ob die Blockade der Fahrbahn den objektiven Tatbestand des § 240 StGB in Form der Gewaltanwendung verwirklicht hat. Dabei ist die Definition des Begriffs „Gewalt“ umstritten: – Nach der Rspr. des Reichsgerichts verstand man unter Gewalt die Anwendung physischer Kraft zur Überwindung eines geleisteten oder erwarteten Widerstands (sog. klassischer Gewaltbegriff).[63] Maßgebend waren dabei weniger die Auswirkungen auf Seiten des Opfers als vielmehr die Vorgehensweise des Täters, von dem ein gewisses Maß an körperlicher Kraftentfaltung ausgehen musste (sodass etwa die Beibringung eines Betäubungsmittels mangels hinreichender Kraftentfaltung auf Seiten des Täters nicht zur Annahme von Gewalt genügte). Das bloße Sitzen der Demonstranten auf der Fahrbahn genügte nach diesem Verständnis nicht für die Annahme von Gewalt.

– Der BGH reduzierte in der Folgezeit die Anforderungen an die körperliche Kraftentfaltung beim Täter und ließ genügen, dass überhaupt eine körperliche Tätigkeit ausgeübt wurde,[64] sodass bereits ein geringer körperlicher Aufwand von Seiten des Täters genügen konnte, sofern dieser widerstandshindernd eingesetzt wurde. Da selbst das bloße Verharren an einem bestimmten Ort eines gewissen körperlichen Aufwandes bedarf, konnte das Vorgehen der Demonstranten nach diesem Gewaltbegriff unter § 240 StGB subsumiert werden.

– Der Reduzierung der „Körperlichkeitsanforderungen“ auf Seiten des Täters folgte sodann eine Reduzierung der körperlichen Zwangswirkung auf Seiten des Opfers durch das sog. Laepple-Urteil.[65] Danach sollte auch rein psychisch vermittelter Zwang dem Anwendungsbereich des § 240 StGB unterfallen (sog. vergeistigter Gewaltbegriff). Demgemäß wäre vorliegend ohne Weiteres Gewalt anzunehmen, weil sich die herannahenden Autofahrer dem psychischen Zwang ausgesetzt sahen, anhalten zu müssen, wenn sie nicht die Demonstranten durch Überfahren verletzen oder gar töten wollten.

– Die Vergeistigung des Gewaltbegriffs durch das Laepple-Urteil wurde jedoch vom BVerfG in der sog. Zweiten Sitzblockade-Entscheidung[66] als Verstoß gegen Art. 103 II GG gewertet, da ein vergeistigter Gewaltbegriff die natürliche Wortlautgrenze überschreite (das BVerfG spricht ausdrücklich von einer Entgrenzung des Gewaltbegriffs), weil der Begriff der Gewalt eine körperliche Zwangswirkung auf Seiten des Opfers voraussetze (moderner Gewaltbegriff). Geistig-seelische Einflüsse könnten daher allenfalls die Alternative der Drohung erfüllen. Eine Nötigung durch Gewalt ist daher nach dieser Entscheidung jedenfalls im Hinblick auf die ersten herannahenden Fahrer zu verneinen.

– Der BGH ist in einer späteren Entscheidung ebenfalls davon ausgegangen, dass sich ein für § 240 StGB ausreichender Zwang in Bezug auf jene Kraftfahrer verneinen lasse, die die Gruppe der Demonstranten als erste erreichten und möglicherweise durchbrechen könnten. Für alle weiteren Kraftfahrer sei jedoch – in Folge des Anhaltens der zuerst Eintreffenden – durch die jeweils vor ihnen befindlichen Fahrzeuge eine unüberwindbare und damit physische Barriere entstanden, die eine Annahme von Gewalt gegenüber diesen Personen rechtfertige (sog. „Zweite-Reihe-Rspr.“ des BGH).[67] Diese „Zweite-Reihe-Rspr.“ des BGH wurde durch das BVerfG als verfassungskonform bestätigt.[68]

– Stellungnahme: Unter Heranziehung des Wortsinns „Gewalt“ wird man mit dem BVerfG eine vom Opfer als physisch empfundene Barriere verlangen müssen, um dem Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 II GG gerecht zu werden.[69] Eine körperlich unüberwindbare Barriere ist nur für diejenigen Kraftfahrer zu bejahen, die nicht unmittelbar auf die Demonstranten, sondern auf bereits vor ihnen angehaltene Fahrzeuge stoßen. Psychische Beeinflussungen können allenfalls das Merkmal der Drohung erfüllen, wie das BVerfG zu Recht bemerkt.

bb) In der Literatur wurde deshalb teilweise vorgeschlagen, eine Sitzblockade als Drohung mit einem empfindlichen Übel zu erfassen (§ 240 I Alt. 2 StGB).[70] Die Sitzblockade stelle danach die Drohung mit einem empfindlichen Übel dar, weil sie einen besonnenen Menschen zu dem erstrebten Verhalten (Anhalten) bestimmen könne, zumal ein Weiterfahren mit unerträglichen tatsächlichen und rechtlichen Konsequenzen verbunden wäre.[71] Indessen trifft die Auffassung, Blockadefälle seien zwar nicht als Gewalt, jedoch als Drohung mit einem empfindlichen Übel zu erfassen, gerade nicht zu, weil die Täter nicht vorgeben, selbst auf den Eintritt des Übels (tatsächliche und rechtliche Konsequenzen des Überfahrens) Einfluss zu haben. Denn das Opfer muss Konsequenzen nur dann befürchten, wenn es sich selbst entsprechend verhält. Dies ist aber nicht der typische Anwendungsfall der Tatbegehung mittels einer Drohung. Insgesamt kann hier also nur Gewalt durch Aufbauen einer unüberwindbaren Barriere im Hinblick auf die in zweiter Reihe herannahenden Kraftfahrer angenommen werden.

cc) Zu fragen ist diesbezüglich jedoch, ob es sich dabei um eine Gewaltanwendung in unmittelbarer oder in mittelbarer Täterschaft durch Benutzung der in erster Reihe stehenden Kraftfahrer handelt.

Der BGH hat angenommen, dass die zuerst eingetroffenen Autofahrer von den Straßenblockierern „bewusst als Werkzeug zur tatsächlichen Behinderung der nachfolgenden benutzt“ werden, ohne jedoch explizit von mittelbarer Täterschaft zu sprechen.[72] Das BVerfG qualifiziert derartige Vorgänge jedoch in einer bedeutsamen Entscheidung eindeutig als Nötigung in mittelbarer Täterschaft, wobei es darauf abstellt, dass der Sitzblockierer für den ersten Kraftfahrer eine Rechtfertigungslage in Form eines rechtfertigenden Notstands erzeuge, da dieser zur Vermeidung der Tötung des Sitzblockierers gerechtfertigt anhalte und für den Autofahrer der zweiten Reihe eine physische Barriere schaffe (mittelbare Täterschaft durch Erzeugung einer Rechtfertigungslage).[73] Letzteres ist jedoch zu bezweifeln, da die wohl zutreffende Auffassung in der Literatur verlangt, dass die Rechtfertigungslage gerade kraft Irrtums oder Nötigung erzeugt worden sein muss, um mittelbare Täterschaft begründen zu können,[74] was vorliegend jedoch nicht der Fall ist. Man wird jedoch ohne Weiteres davon ausgehen können, dass sich die ersten Kraftfahrer in einem dem § 35 I StGB vergleichbaren Nötigungsdruck befinden, weil ihnen bei einem Weiterfahren ein Freiheitsentzug droht, da ihr Verhalten seinerseits den Tatbestand der strafbewehrten Nötigung, Körperverletzung oder gar Tötung erfüllen würde, und dass durch dieses Willensdefizit mittelbare Täterschaft begründet wird.[75]

dd) Bestreiten ließe sich schließlich noch, dass der Nötigungserfolg (Anhalten der nachfolgenden Kraftfahrer) überhaupt noch vom Schutzzweck des § 240 StGB erfasst wird. Hoyer verneint dies, weil der Sinn des § 240 StGB nicht darin bestehe, „genötigten Autofahrern einen Platz in der ersten Reihe, direkt vor den Straßenblockierern zu sichern“ (gemeint ist damit, dass die Kraftfahrer in der zweiten Reihe ohne das Anhalten der Kraftfahrer in der ersten Reihe allenfalls noch die Möglichkeit gehabt hätten, wenige Meter weiterzufahren und dies zu ermöglichen, sei nicht der Sinn des § 240 StGB). Jedoch überzeugt dies deshalb nicht, weil die Kraftfahrer in der ersten Reihe – zumindest nach Auffassung des BVerfG – nicht genötigt sind. Und da § 240 StGB unumstritten dem Zweck dient, Nötigungen zu verhindern, kann man nicht davon ausgehen, dass das verhinderte Nach-vorne-Fahren in die erste Reihe nicht mehr vom Schutzzweck der Norm erfasst wäre.

ee) Zwischenergebnis: Vorliegend ist daher Gewalt in mittelbarer Täterschaft gegenüber den Kraftfahrern in zweiter Reihe und den nachfolgenden Reihen zu bejahen.

b) Subjektiv handelte A auch vorsätzlich. Zu Recht hat der BGH darauf hingewiesen, dass die Täter die von ihnen nur durch psychischen Zwang angehaltenen Wagen als Mittel zur Bildung einer Barriere benutzten und gerade dieser Aufbau von tatsächlich nicht mehr zu überwindenden Hindernissen der Vorstellung der Täter als notwendiger und gewollter Folge ihres Verhaltens entsprochen habe.

2. Rechtswidrigkeit

Nach § 240 II StGB ist die Nötigung rechtswidrig, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist.

a) Dies wäre von vornherein nicht der Fall, wenn Rechtfertigungsgründe eingreifen.

aa) Rechtfertigender Notstand nach § 34 StGB würde eine gegenwärtige, nicht anders abwendbare Gefahr voraussetzen. Schon dies ist fraglich, da die allgemeine Befürchtung von Umweltverschmutzungen hierfür wohl nicht genügt. Selbst wenn man jedoch eine solche annehmen würde, so fehlt es jedenfalls an der Geeignetheit des Mittels, da mit einer Verringerung des Straßenverkehrs durch die Aktion nicht zu rechnen ist.

bb) Auch eine Rechtfertigung nach Art. 8 GG scheidet aus, da dadurch allenfalls unvermeidliche Beeinträchtigungen aufgrund der Versammlung gedeckt sind, nicht jedoch gewollte Nötigungen.

cc) Ebenso gibt Art. 5 GG nur ein Recht auf Meinungsäußerung, nicht aber auf Einschränkung der Rechte anderer.

dd) Auch der allgemeine zivile Ungehorsam kann keinen Rechtfertigungsgrund bilden, da dieser gerade eine Gesetzesverletzung voraussetzt und dadurch gekennzeichnet ist, dass sich der Ungehorsam Übende den gesetzlichen Folgen stellen will. Der zivile Ungehorsam macht also nur Sinn, wenn die Tat als rechtswidrig betrachtet wird.[76]

Rechtfertigungsgründe sind damit nicht ersichtlich.

b) Darüber hinaus muss aber auch eine Verwerflichkeit i. S. d. Zweck-Mittel-Relation gegeben sein.

Dies ist der Fall, wenn die Gesamtwürdigung im konkreten Fall zu dem Ergebnis führt, dass die Tat sozialethisch in hohem Maße missbilligenswert und daher als „sozial unerträglich“ zu werten ist.[77]

Umstritten ist dabei, ob für die sozialethische Beurteilung des Nahziels (hier: Bereiten eines Hindernisses zur Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit) auch die Fernziele (hier möglicherweise Naturschutz u. ä.) zu berücksichtigen sind.

Die wohl h. M.[78] geht davon aus, dass unter dem „angestrebten Zweck“ nur das abgenötigte Verhalten des Opfers zu verstehen ist, sodass Fernziele von der Bewertung des § 240 II StGB ausgenommen sind. Dafür spricht immerhin, dass § 240 StGB dem Schutz des Freiheitsraums des Opfers dient und der Täter andere nicht zum Werkzeug seiner Überzeugungen machen darf.[79] Fernziele können sodann im Rahmen der Strafzumessung angemessen berücksichtigt werden. Aus der Rechtsprechung des BVerfG wird jedoch deutlich, dass nicht nur unmittelbare, sondern auch mittelbare Nahziele im Rahmen der Zweck-Mittel-Relation von Bedeutung sind. Fernziele bleiben jedoch auch hiernach weiter außer Betracht, weil deren Kriterien wie Nützlichkeit oder Missbilligung nicht der richterlichen Würdigung unterliegen sollen.[80]

Achtung Klausur: In der Klausur ist daher im Rahmen der Zweck-Mittel-Relation zwischen beachtlichen unmittelbaren Nahzielen (bspw.: Anhalten der Autofahrer), beachtlichen mittelbaren Nahzielen (bspw.: Aufmerksamkeit erregen) und unbeachtlichen Fernzielen (bspw.: Umweltschutz) zu unterscheiden. Darüber hinaus richtet das BVerfG in seiner Entscheidung sein Augenmerk wieder verstärkt auf die Verwerflichkeitsprüfung. Sofern das Täterverhalten beispielsweise grundsätzlich vom Schutzbereich des Art. 8 GG erfasst wird, ist, auch wenn Art. 8 GG nicht direkt rechtfertigend wirkt (s. o.), insbesondere die Dauer und Intensität der Aktion, deren vorherige Bekanntgabe, Ausweichmöglichkeiten über andere Zufahrten, die Dringlichkeit des blockierten Transports, aber auch der Sachbezug zwischen den in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen sowie den blockierten Orten und dem Protestgegenstand in den Erwägungen zu berücksichtigen, um eine Verletzung des Art. 8 GG durch eine Bejahung der Verwerflichkeit im Rahmen des § 240 II StGB auszuschließen.[81] Daher sollte auch in der Klausur hierauf umfangreicher eingegangen werden. Da das BVerfG im Rahmen der Verwerflichkeitsprüfung unter anderem auf den Sachbezug abstellt, findet das Fernziel insoweit doch Berücksichtigung. Allerdings ist nicht das Fernziel wertend in die Abwägung einzustellen, sondern es ist zu fragen, ob das (nicht gewertete) Fernziel einen Zusammenhang mit den blockierten Orten und/oder Personen aufweist. Ist dies der Fall, ist der Sachbezug als ein Anhaltspunkt gegen die Verwerflichkeit zu bejahen (demnach wird die Blockade einer Autobahn durch eine Anti-Walfang-Demonstration eher verwerflich sein als die Sitzblockade einer AKW-Zufahrt durch Atomkraftgegner).

Vorliegend war das Blockieren der Autobahn durch A als verwerflich i. S. v. § 240 II StGB anzusehen. Zwar ist ein Sachbezug nicht von der Hand zu weisen, indessen erfolgte die Blockade der A8 ohne Vorwarnung und in der Hauptreisezeit, was die Intensität der Beeinträchtigung gewollt steigerte. Auch können die bereits hinter der letzten Ausfahrt stehenden PKW keine andere Strecke mehr wählen. Dadurch, dass sich ein 25 km langer Stau bildete, war die Beeinträchtigung auch nicht von unerheblicher Dauer und Intensität.

A handelte daher rechtswidrig.

3. Entschuldigungsgründe sind nicht ersichtlich.

4. Ergebnis: A hat sich gem. § 240 StGB strafbar gemacht.

Lösung der Abwandlung:

Auch hier kommt eine Strafbarkeit gem. § 240 StGB in Betracht.

1. Tatbestandsmäßigkeit

a) Objektiver Tatbestand

Unter Zugrundelegung der oben dargestellten Entwicklung versteht man nach dem modernen Gewaltbegriff unter Gewalt jede körperliche Tätigkeit, durch die körperlich wirkender Zwang ausgeübt wird, um geleisteten oder erwarteten Widerstand zu überwinden. Das Hinstellen der Autos stellt eine körperliche Tätigkeit von Seiten des A dar, die im Hinblick auf potenzielle Opfer auch physische Auswirkungen hat, weil die Barrieren nicht ohne eigene Einbußen an der körperlichen Integrität durchbrochen werden können.[82] Anders als im Ausgangsfall sehen sich hier die ersten heranfahrenden Kraftfahrer einer unüberwindbaren physischen Blockade ausgesetzt, sodass der objektive Tatbestand erfüllt ist.[83]

b) Subjektiv handelte A auch vorsätzlich.

2. Rechtfertigungsgründe sind wie im Ausgangsfall (s. dort) nicht einschlägig.

3. Entschuldigungsgründe sind nicht ersichtlich.

4. Ergebnis: A hat sich hier nach § 240 StGB in unmittelbarer Täterschaft strafbar gemacht.

Vor dem Hintergrund des modernen Gewaltbegriffs ergeben sich im Übrigen komplizierte Abgrenzungsprobleme. Dies zeigt auch das folgende viel diskutierte

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Beispiel: A und seine Kommilitonen beschließen, Prof. P zu boykottieren. Sie nehmen daher Trillerpfeifen mit in die Vorlesung und beginnen zu pfeifen und mit den Füßen zu trampeln, sobald P anhebt zu reden. Da P keine Chance hat, sich gegen den Lärm durchzusetzen, muss er – wie von den Studenten geplant – die Vorlesung ausfallen lassen. Strafbarkeit des A?

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Lösung: In Betracht kommt eine Strafbarkeit wegen Nötigung gem. § 240 StGB, wenn das Pfeifen und Trampeln des A Gewalt i. S. d. § 240 I StGB darstellt. Gewalt bedeutet nach dem modernen Gewaltbegriff – wie gesehen – jede körperliche Tätigkeit, durch die körperlich wirkender Zwang ausgeübt wird, um geleisteten oder erwarteten Widerstand zu überwinden. Ausgehend hiervon ist eine körperliche Tätigkeit des A unproblematisch zu bejahen. Fraglich ist hingegen die körperliche Zwangswirkung auf Opferseite: Nach einer Entscheidung des BGH aus dem Jahre 1982[84] soll eine „Lärmkulisse“ dann physisch auf das Opfer einwirken, wenn der Betroffene der Einwirkung nicht oder nur mit erheblichem Kraftaufwand begegnen kann.[85] Vorliegend könnte man demzufolge das Merkmal der Gewaltanwendung bejahen, weil sich P akustisch nicht mehr gegen die Studenten durchsetzen konnte. Nach einer einschränkenden Ansicht liegt eine körperliche Zwangswirkung bei Vorlesungsstörungen nur dann vor, wenn Beeinträchtigungen der physischen Integrität des Dozenten zum Abbruch der Vorlesung führen.[86] Da P vorliegend die Vorlesung nach wie vor ohne körperliche Risiken hätte fortsetzen können, verneint diese Auffassung eine physisch wirkende Zwangslage.

Stellungnahme: Die besseren Gründe sprechen wohl für die Verneinung einer Gewaltanwendung i. S. d. § 240 I StGB. Die Auffassung des BGH ist mit dem modernen Gewaltbegriff des BVerfG unvereinbar. Die Tatsache allein, dass die Fortsetzung der Vorlesung sinnlos geworden ist, kann die Annahme von Gewalt nicht rechtfertigen, weil dadurch wieder eine unzulässige Vergeistigung des Gewaltbegriffs herbeigeführt würde. Entscheidend ist nämlich, dass die Fortsetzung des Vortrags (ebenso wie das Weiterfahren in den Blockadefällen) physisch noch ohne eigene körperliche Auswirkungen möglich ist. (Die Sinnlosigkeit einer solchen Fortsetzung ist für den Gewaltbegriff ein unbeachtliches Motiv.) Es fehlt daher bereits am Merkmal der Gewalt. A hat sich nicht gem. § 240 StGB strafbar gemacht.

Hinweis: Eine Strafbarkeit kann sich jedoch wegen Hausfriedensbruchs nach § 123 StGB ergeben, etwa wenn der Prof. als Hausrechtsinhaber die störenden Studenten des Saales verweist. Im Übrigen besteht für derartige Fälle wohl auch kein echtes Strafbedürfnis, weil das Lehrangebot in erster Linie dem Interesse der Studenten dient, sodass ein Abbruch der Vorlesung in Wahrheit zu ihrem Schaden gereicht.

Examens-Repetitorium Strafrecht Besonderer Teil, eBook

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