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um 1205 Wolfram von Eschenbach Parzival Sittenbild und Utopie – der Suchende als Erlöser

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Der unbedarfte Parzival kommt aus dem Nichts und macht eine ritterliche Blitzkarriere am Artushof, die er gleich wieder aufgibt. Er wendet sich von Gott ab und begibt sich auf eine Suche, die am Ende mit dem Größten belohnt wird: dem Gralskönigtum. Das Versepos Parzival des Wolfram von Eschenbach wirkte, obwohl es die bekannte Artus- und Gralssage zum Stoff hatte, auf die Zeitgenossen revolutionär, weil es mit so vielen Konventionen brach und so viele Gewissheiten hinterfragte. In den politisch unruhigen Zeiten des deutschen Thronstreits zwischen Staufern und Welfen und vor dem Hintergrund der Glaubenskriege und Kreuzzüge präsentiert es ein utopisches Gesellschaftsmodell, das bis heute künstlerisch nachwirkt.

Der Titelheld muss warten. Zu Beginn steht erst einmal das Leben seines Vaters Gahmuret im Mittelpunkt, der aus königlicher Familie stammt. Dieser bereist den Orient und nimmt dort eine heidnische, dunkelhäutige Königin zur Frau, die er aber aus Abenteuerlust verlässt, bevor sie einen schwarz-weiß gefleckten Sohn mit Namen Feirefiz zur Welt bringt. Auch Parzivals Mutter Herzeloyde, die Gahmuret nach seiner Rückkehr in die Heimat geheiratet hat, muss sich um ihren Sohn allein kümmern, weil Gahmuret schon wieder zu einem Abenteuer aufgebrochen ist, in dem er umkommt. Parzival selbst, so erfahren wir nach dieser Vorgeschichte, wird von seiner Mutter im Wald aufgezogen, weil sie nicht auch noch ihn an die ritterliche Welt des Vaters verlieren will. Nach einer Begegnung mit durchreitenden Rittern bricht Parzival aber begeistert zum Artushof auf und stürzt sich ahnungslos in eine Welt, deren Regeln er nicht kennt, ja, deren Ordnung selbst in Auflösung begriffen zu sein scheint (so herrschen am Artushof Streit und Missgunst). Er bekommt bei dem alten Ritter Gurnemanz einen Schnellkurs in höfischem Benehmen und befreit auf der Suche nach Bewährungsabenteuern eine belagerte Königin. Sie heiratet Parzival, und obwohl er seine Frau liebt, zieht auch er noch vor der Geburt seines Stammhalters wieder los. Er gerät ein erstes Mal auf die Gralsburg, wo er wundersamen Vorgängen beiwohnt, die entscheidende Frage nach dem Grund des Leidens des Gralskönigs Anfortas aber nicht stellt. In seiner Irritation klammert er sich an Gurnemanz’ Rat, nicht zu viele Fragen zu stellen. Wo die ritterliche Etikette Zurückhaltung und Distanz vorgibt, wäre hier eine Grenzüberschreitung aus menschlichem Interesse gefragt gewesen. Als am nächsten Morgen die Gralsgesellschaft verschwunden ist, ahnt Parzival, dass er eine Chance verpasst hat.

Er kommt zum zweiten Mal zum Artuslager, wo er mit allen Ehren empfangen und zum Mitglied der Tafelrunde geschlagen wird. Er hat damit das erreicht, was man als Ritter erreichen kann. Eine Gralsbotin zerstört jedoch die feierliche Stimmung und verflucht Parzival wegen der ausgebliebenen Frage auf der Gralsburg. Parzival gibt Gott die Schuld an seinem Versagen, denn dieser habe ihm die notwendige Unterstützung verweigert. Er sagt sich von Gott los und bricht zur Suche nach dem Gral auf, den er in Abenteuern erringen zu können glaubt. Nach vier Jahren – hier sind im Epos die Erlebnisse des Ritters Gawan zwischengeschaltet – kommt Parzival zu einem Einsiedler, der sich als sein Onkel herausstellt. In den folgenden erzieherischen Gesprächen erkennt Parzival die Missverständnisse, die seine Lage bestimmen: Weder lasse sich Gott zu etwas zwingen noch der Gral erobern. Parzival erfährt, dass er schuld am Tod seiner Mutter sei, die anlässlich seines Aufbruchs zum Artushof vor Verzweiflung starb, er bei seinem ersten Besuch am Artushof einen Verwandten getötet und Anfortas nicht erlöst habe, obwohl er dazu ausersehen sei. Von diesen drei Sünden ist er aber am Ende der Episode erlöst – ohne Zutun eines Priesters, was das Spannungsverhältnis des Textes zur kirchlichen Dogmatik andeutet –, worauf im Epos wieder die Abenteuer Gawans folgen. Anschließend begegnet Parzival zunächst Feirefiz, mit dem er hart und ebenbürtig kämpft, bis durch göttliches Eingreifen Parzivals Schwert zerspringt. Feirefiz bricht den Kampf daraufhin ab, und die beiden erkennen sich als Brüder. Der Halbbruder aus dem Orient, ein »Ungläubiger« zudem, wird in die Tafelrunde aufgenommen. Parzival reitet noch einmal zur Gralsburg und stellt Anfortas endlich die simple, aber entscheidende Frage: »Was tut dir weh?« Anfortas ist daraufhin sofort geheilt und die Gesellschaft von all ihren Leiden erlöst. Parzival wird zum Gralskönig ernannt. Das Mitleid wird zum Dreh- und Angelpunkt des ganzen Epos, und die Erlösung – bis dahin undenkbar im Ritterepos – erfolgt durch Worte, nicht durch Kampf.

Eine Gralsburg in Bayern

Es gibt noch heute in Deutschland einen Ort, an dem Millionen Menschen jedes Jahr Parzival begegnen. In Neuschwanstein hat Ludwig II. den zentralen Prunksaal mit Wandbildern verzieren lassen, die Szenen aus dem Mittelalter-Epos darstellen. Denn er identifizierte sich mit dem Gralskönig und sah in seiner Person die geschichtliche Erfüllung des Mythos. Dass die meisten Touristen in der Rückschau ihren Schlossbesuch eher im Bildprogramm von Disneyfilmen als dem der mittelalterlichen Sage verorten, hätte dem Parzival aus dem Hause Wittelsbach sicher nicht gefallen.

Der Parzival wurde in mittelhochdeutscher Sprache wohl zwischen 1200 und 1210 verfasst. Wolfram, der vermutlich zwischen 1170 und 1220 in Franken lebte, griff dabei als Hauptquelle auf das unvollendet gebliebene altfranzösische Epos Perceval von Chrétien de Troyes zurück, das zwischen 1180 und 1190 entstanden war, von Wolfram allerdings um das Dreifache erweitert und umgearbeitet wurde. Der Parzival gehört zu den am meisten rezipierten Texten des Mittelalters und ist in fast neunzig Handschriften überliefert, was für einen beeindruckenden Erfolg und eine enorme Popularität unter den Zeitgenossen spricht: »Der Parzival«, so der Germanist Joachim Bumke, »muss eine literarische Sensation gewesen sein. Im 13. Jh. ist keine andere Dichtung so oft zitiert und so häufig kopiert worden.« Eine Sensation war das Epos – mit über vierundzwanzigtausend Versen der längste Erzähltext seiner Zeit – zweifellos in verschiedener Hinsicht: aufgrund der Vielzahl der beschriebenen (auch exotischen) geografischen Räume, der Komplexität der Handlungsstruktur und nicht zuletzt aufgrund der Themenvielfalt und besonderen Akzentuierung.

Schon im sogenannten Elsterngleichnis des Prologs macht Wolfram deutlich, dass ihn der nur gute oder nur böse Mensch kaum interessiert, sondern im Wechselspiel, im Miteinander von Schwarz und Weiß (wie im Gefieder einer Elster) der Reiz liege. Entsprechend macht Parzival als gemischter Charakter verschiedene Krisen und Entwicklungen durch, lädt aus Unerfahrenheit oder aufgrund von Missverständnissen immer wieder Schuld auf sich. Dennoch oder gerade deswegen ist er es, der zum Gralskönig erwählt wird. Parzival und Feirefiz, dessen Haut »wie ein beschriebenes Stück Pergament, weiß und schwarz durcheinander« aussieht, sind letztlich zwei Teile eines Ganzen; »Rasse« oder Religion spielen am Ende keine Rolle – eine unerhörte Aussage im zeitgenössischen Kontext.

Artushof und Gralsgesellschaft stehen für unterschiedliche Konzeptionen von Gemeinschaft. Während die Tafelrunde politisch agiert und auf die höfischen Werte von Kampf, Minne und Ehre fokussiert ist, stellt die Gralsgesellschaft Spiritualität und Geistlichkeit ins Zentrum (Minne ist sogar weitgehend verboten). Parzival als Suchender, als Scheiternder, als Erkennender findet im Mitleid schließlich den Weg, die weltliche und die spirituelle Sphäre in idealer Weise zu verbinden. Angesichts all des Elends, in das rücksichtslose Machtkämpfe und Religionskriege die Gesellschaften des frühen 13. Jahrhunderts gestürzt hatten, konnten die Zeitgenossen in Parzival damit leicht den utopischen Entwurf eines vorbildhaften Herrschers erkennen. Während Gawan als Abbild des perfekten Ritters darum bemüht ist, die ritterliche Ordnung zu (re-)stabilisieren, lässt Parzival auf dem Höhepunkt seiner Karriere als Artusritter diese Ordnung hinter sich. Erst die anspruchsvolle Erzählstruktur, die die Abenteuer von Gawan und Parzival immer wieder einander gegenüberstellt, lässt diese Unterschiede besonders deutlich hervortreten.

Bereits 1477 erschien der Parzival in Druckform, was für seine Bedeutung noch im 15. Jahrhundert spricht, doch dann wird die Wirkungsgeschichte für einige Jahrhunderte unterbrochen. Erst Johann Jacob Bodmer entdeckt den Parzival in der Mitte des 18. Jahrhunderts wieder und legt eine neue Übersetzung vor. Den eigentlichen Durchbruch bewirkt dann die von Karl Lachmann verantwortete kritische Neuausgabe 1833. Seitdem ist der Parzival eines der am intensivsten erforschten und diskutierten Bücher des deutschen Mittelalters. Es verarbeitet die theologischen, politischen und gesellschaftlichen Probleme seiner Zeit, ermöglicht Einblicke in die ritterliche Welt und stellt einen Spiegel mittelalterlicher Bildung dar. Dabei ist es so vielschichtig, dass sich bei jeder neuen Lektüre neue Deutungsansätze ergeben. Der Gral und Parzival scheinen ferner prädestiniert dafür zu sein, losgelöst von der Entstehungszeit Ideologien zu transportieren. So präsentiert Richard Wagner in seiner 1882 uraufgeführten Oper Parsifal eine Art christlichen Erlösermythos, der sich in vielen Aspekten von der Vorlage entfernt, für die Rezeption des Mythos aber eine entscheidende Rolle spielte. Insbesondere an der Wende zum 20. Jahrhundert werden Motive aus dem Parzival dann im Sinne der aktuellen antirationalistischen Strömungen instrumentalisiert – Parzival erschien wahlweise als Übermensch, Verfechter eines deutschen Christentums oder entmythologisiertes Abbild eines Jedermanns. Thomas Mann legt den Helden seines 1924 erschienenen Epochenromans Der Zauberberg als eine Art Nachfolger Parzivals an: Wie dieser bricht Hans Castorp als naiver junger Mensch in eine neue Welt auf, scheitert, wächst und erkennt schließlich, dass der Mensch der »Herr der Gegensätze« ist. Ende des 20. Jahrhunderts erlebt Parzival eine neuerliche Renaissance in Werken Tankred Dorsts, Peter Handkes oder Adolf Muschgs, was die andauernde Aktualität des Stoffes und der Themen belegt. Fest steht: Wolframs Epos hat den Spielraum der Literatur erweitert und der Kulturgeschichte eine Reihe universeller Typen und Handlungsmuster eingeprägt. Es präsentiert die Summe der literarischen und kulturellen Bildung seiner Zeit und weist gleichzeitig weit darüber hinaus.

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