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um 1210 Das Nibelungenlied Der Mythos der Nation

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Das anonym in knapp zweitausendvierhundert vierzeiligen singbaren Strophen auf Mittelhochdeutsch verfasste Versepos zählt zu den wichtigsten Werken der deutschen Literatur des Hochmittelalters. Es verarbeitet in großer Kunstfertigkeit einen bis ins 5. Jahrhundert zurückgehenden, mündlich überlieferten germanisch-skandinavischen Sagenstoff, der historische Ereignisse aufgreift und mit mythischen Elementen verknüpft. Ende des 18. Jahrhunderts wiederentdeckt, stieg das Nibelungenlied im 19. Jahrhundert zum identitätsstiftenden Nationalepos der Deutschen auf und wurde vielfach ideologisch instrumentalisiert.

Der Aufklärer Friedrich der Große konnte mit dem Nibelungenlied nichts anfangen. In einem Brief an Christoph Heinrich Myller am 22. Februar 1784 bezeichnete es der Monarch als »elendes Zeug«, das nicht verdient hätte, »aus dem Staube der Vergessenheit gezogen zu werden«. Doch schon Jahrzehnte später war es im Rahmen der nationalen Selbstvergewisserung zum Manifest des deutschen Wesens geworden. Eine erstaunliche Karriere, wenn man bedenkt, wovon der Text in seinen neununddreißig »Aventüren« eigentlich handelt.

Siegfried, Königssohn aus Xanten, tötete einst einen Drachen, badete in dessen Blut, was ihn – mit Ausnahme einer kleinen Stelle am Rücken – unverwundbar machte, raubte den Schatz des Königs Nibelung und nahm dessen Wächter Alberich eine Tarnkappe ab, die unsichtbar machen kann. Er reitet nach Worms, um Kriemhild, die Schwester des Burgunderkönigs Gunther, zu heiraten. Gunther will der Ehe zustimmen, wenn Siegfried ihm dabei hilft, die übernatürlich starke isländische Königin Brünhild zu ehelichen. Nur durch Lüge und Betrug kommt Gunther ans Ziel: Um keinen Verdacht zu erwecken, gibt sich Siegfried als Untertan aus, und er ist es auch, der unter der Tarnkappe Brünhild besiegt. Brünhild willigt in der Annahme, von Gunther bezwungen worden zu sein, in die Ehe ein, doch nach der königlichen Doppelhochzeit, die Brünhild irritiert, da sie Siegfried als Vasallen sieht, verweigert sie sich Gunther, der sie nicht über Siegfrieds Stellung aufklären will. Nur der wieder getarnte Siegfried kann gewaltsam ihren Widerstand brechen und Gunther den Vollzug der Ehe ermöglichen. Täuschung und Betrug entfalten im Folgenden eine unheilvolle Eigendynamik, als es Jahre später zum Streit über die Rangfolge zwischen den beiden Königinnen kommt: Brünhild wirft Kriemhild daraufhin vor, mit einem Vasallen verheiratet zu sein, woraufhin Kriemhild sie mit Siegfrieds Rolle in der Hochzeitsnacht konfrontiert. Hagen von Tronje, Verwandter und Vertrauter Gunthers, will diese Beleidigung Brünhilds rächen und Siegfried ermorden. Unter dem Vorwand, Siegfrieds verwundbare Stelle besonders schützen zu wollen, erfährt Hagen deren genaue Position. Bei einem Jagdausflug tötet Hagen vor den Augen Gunthers Siegfried mit einem Speer in den Rücken. Kriemhild schenkt der Erklärung für den Tod ihres Mannes, dieser sei von Räubern ermordet worden, keinen Glauben, weshalb Hagen ihr aus Angst vor Racheplänen, die sie damit finanzieren könnte, den Nibelungenschatz raubt und im Rhein versenkt.

Dreizehn Jahre nach dem Tod ihres Mannes heiratet Kriemhild den mächtigen Hunnenkönig Etzel, den sie nach weiteren dreizehn Jahren davon überzeugen kann, die Burgunder zu einem Fest einzuladen. Kriemhilds Stunde der Rache ist damit gekommen: Sie provoziert einen Streit, dem ein wahres Gemetzel folgt. Am Schluss des Blutrauschs sind auf Seiten der Burgunder nur noch Gunther und Hagen übrig. Als Hagen ihr das Versteck des Nibelungenschatzes nicht verraten will, lässt Kriemhild zunächst ihren Bruder enthaupten und schlägt anschließend eigenhändig Hagen den Kopf ab. Daraufhin wird Kriemhild von Hildebrand, dem Waffenmeister des auf Etzels Seite kämpfenden Dietrich, geköpft. Die verbleibenden Ritter stehen schließlich fassungslos weinend am Ort der Gräueltat. »Die Raserei ist zu einem Ende gekommen, das darum eines ist, weil es nichts mehr zu erschlagen gibt« (Jan Philipp Reemtsma).

Das Nibelungenlied muss zu seiner Entstehungszeit ein großer Publikumserfolg gewesen sein – dafür spricht zumindest die Tatsache, dass es in siebenunddreißig (Teil-)Abschriften überliefert ist. Auch wenn heute weitgehend Einigkeit darüber herrscht, dass es sich beim Nibelungenlied um das in sich geschlossene Werk eines Einzelautors handelt, so kann man über die konkrete Person des Verfassers nur ausgehend von Hinweisen aus dem Text spekulieren. Vermutlich wurde das Originalmanuskript in der bairischen Variante des Mittelhochdeutschen verfasst. Der Autor besaß außerdem auffallend detaillierte Kenntnisse der Region zwischen Passau und Wien und erwähnte den Passauer Bischof in besonders positiver Weise. Aufgrund von Querbezügen auf andere literarische Werke sowie der Erwähnung bestimmter politischer Ämter und Namen wird die Entstehung des Originalmanuskripts auf das erste Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts datiert. Bis 1204 hatte den Passauer Bischofsstuhl Wolfger von Erla inne, der bekannt für sein Mäzenatentum war. Ob man allerdings aus der Tatsache, dass Wolfger dem berühmtesten deutschsprachigen Minnesänger des Mittelalters, Walther von der Vogelweide, einen größeren Geldbetrag zukommen ließ, folgern kann, dass Walther selbst der Dichter des Nibelungenliedes ist, bleibt zweifelhaft. Sicher sind sich die meisten Forscher nur, dass der Verfasser des Nibelungenliedes ein gebildeter, belesener Mann war (der z.B. auf vorgängige schriftliche Texte Bezug nahm) und aus dem Umfeld des Passauer Bischofshofs stammte.

Ab dem Spätmittelalter war das Nibelungenlied in Vergessenheit geraten. 1755 wurde in der Bibliothek von Schloss Hohenems eine Niederschrift davon wiederentdeckt, doch erst nach dem Fund zweier weiterer Handschriften veröffentlichte Christoph Heinrich Myller 1782 eine vollständige Version des Nibelungenliedes, das in der mittelhochdeutschen Originalfassung aber kaum Beachtung fand. Letztlich konnte erst die 1807 von Friedrich Heinrich von der Hagen besorgte Ausgabe, die eine Art Übersetzung präsentiert und deren Vorwort die Rezeption des Textes im Sinne eines Nationalepos vorwegnehmen sollte, den Stoff popularisieren, der gerade Anfang des 19. Jahrhunderts auf fruchtbaren Boden fiel.

Im Grabe umgedreht …

1924 kam das Stummfilm-Epos Die Nibelungen als bis dahin teuerste deutsche Filmproduktion in die Kinos. Zum Filmstart überlegte man sich eine bemerkenswerte PR-Aktion: Am Grab Friedrichs des Großen wurde ein Kranz mit der Aufschrift »Zur Premiere des Nibelungenfilms. Fritz Lang« niedergelegt. Diese vorgebliche Verneigung des Regisseurs vor dem Preußenkönig markierte eigentlich dessen Indienstnahme, nutzte man die deutsche Identifikationsfigur Friedrich doch dazu, die Bedeutung des Films für das deutsche Nationalbewusstsein zu beglaubigen. Man mag sich vorstellen, was der nie um deutliche Worte verlegene König dazu gesagt hätte.

Denn als sich 1806 Preußen den napoleonischen Truppen geschlagen geben musste, sich sechzehn deutsche Fürsten mit Frankreich im Rheinbund zusammenschlossen und damit das Ende des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation besiegelten, gewann die Frage nach einer nationalen Identität jenseits der deutschen Kleinstaaterei für viele eine besondere Relevanz. Der Literatur kam in diesem Zusammenhang als gemeinschaftsstiftendem Fundament eine herausgehobene Bedeutung zu, denn »mitten unter den zerreißendsten Stürmen« der Gegenwart, so formuliert es von der Hagen, könne »einem Deutschen Gemüte wohl nichts mehr zum Trost und zur wahrhaften Erbauung vorgestellt« werden »als der unsterbliche alte Heldengesang«. Das Nibelungenlied, »eins der größten und wunderwürdigsten Werke aller Zeiten und Völker«, stelle »das erhabenste und vollkommenste Denkmal einer so lange verdunkelten Nationalpoesie« dar – und zwar in einem doppelten Sinne: Zum einen sei es »aus Deutschem Leben und Sinne erwachsen«. Zum anderen – und hier wird der Argumentationsaufwand deutlich, der nötig war, um eine Geschichte aus grauer Vorzeit, die vor allem an den Höfen der Burgunder und Hunnen spielte, zu einer originär deutschen zu machen – veranschauliche das Nibelungenlied die »herrlichsten männlichen Tugenden«, die hier eben als typisch deutsch gedeutet werden. Dazu zählen neben »Biederkeit, Redlichkeit, Treue und Freundschaft bis in den Tod« vor allem »Heldensinn, unerschütterlicher Standmut, übermenschliche Tapferkeit, Kühnheit, und willige Opferung für Ehre, Pflicht und Recht«. Das Beispiel dieser Tugenden, so Heinrich von der Hagen weiter, müsse den Leser »mit Stolz und Vertrauen auf Vaterland und Volk, mit Hoffnung auf dereinstige Wiederkehr Deutscher Glorie und Weltherrlichkeit« erfüllen. Aktuelle militärische und politische Niederlagen erscheinen in dieser Deutung als kleinere Stolpersteine auf Deutschlands Weg zum Platz an der Spitze.

Eine so ideologische Lesart war zwangsläufig einseitig, sah in Hagen von Tronje den hinterlistigen Meuchelmörder und in Siegfried den strahlenden Helden, der verraten wird. Dabei entwirft der Text differenziertere Figuren: Hagen ist eben auch der politisch denkende Ratgeber, der treu und rational handelt und bereit ist, für die Ehre seiner Königin das eigene Leben zu geben. Siegfried hingegen ist auch eitel und aggressiv, aufbrausend und gefährlich, denn seine Überlegenheit nutzt er, um seinen Willen egoistisch durchzusetzen. Seine Mischung aus Naivität und Selbstüberschätzung kostet ihn, der nicht strategisch denkt, das Leben. Auch das ist nämlich eine Moral der Geschichte: Kraft allein nützt wenig, wenn sie nicht mit Klugheit einhergeht. Doch solche interpretatorischen Feinheiten spielten allenfalls am Rande eine Rolle, galt das Nibelungenlied fortan doch als »deutsche Ilias« und »lebendige Urkunde des unvertilgbaren Deutschen Charakters« (von der Hagen). Es hatte enormen künstlerischen Einfluss, wurde vielfach bearbeitet und je nach den Zeiterfordernissen gedeutet – wahlweise wurden die heroischen Qualitäten des Stoffes betont oder die vermeintlich bürgerlichen Werte (Treue und Loyalität) akzentuiert. Besonders die Dramen- und Opernversionen des Nibelungenstoffes von Friedrich de la Motte Fouqué (Der Held des Nordens, 1808–1810) und Richard Wagner (Der Ring des Nibelungen, 1848–1874) oder auch Friedrich Hebbel (der 1862 sein Werk Die Nibelungen als eine christliche Opfergeschichte präsentiert) trugen erheblich zur Popularisierung bei.

Nie indes war es ein gutes Omen, wenn sich Politiker dezidiert auf das Nibelungenlied beriefen, wie 1909 Reichskanzler von Bülow, als er die unverbrüchliche Treue im Sinne einer vermeintlich urdeutschen Eigenschaft auf dem politischen Parkett etablierte und versprach: »Aber die Nibelungentreue wollen wir aus unserem Verhältnis zu Österreich-Ungarn nicht ausschalten.« Man weiß, wohin das führte: zum Blankoscheck von 1914 und in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs. Es liegt auf der Hand, dass Deutschland in diesem Denkzusammenhang 1918 allein durch Verrat um den Sieg gebracht worden sein konnte: Im Felde unbesiegt sei das deutsche Militär aus der Heimat hinterrücks gemeuchelt worden. Hindenburg, prominenter Vertreter dieser Verschwörungstheorie, fabulierte in seinen Memoiren davon, dass die »ermattete Front« gestürzt sei »wie Siegfried unter dem hinterlistigen Speerwurf des grimmigen Hagen«, und auch Hitler behauptete in Mein Kampf, dass »der kämpfende Siegfried dem hinterhältigen Dolchstoß erlag«. In einer besonders abstoßenden politischen Instrumentalisierung versuchte Göring 1943 die deutschen Soldaten in Stalingrad mit einem Verweis auf das Nibelungenlied zum Durchhalten zu motivieren.

Ungeachtet dieser Ideologisierungen gilt das Nibelungenlied heute als ein herausragendes Kunstwerk des Mittelalters, das mit bewundernswerter Detailfülle atmosphärische Einblicke in die höfische Gesellschaft seiner Zeit erlaubt und deutlich macht, wohin Lüge, Verrat und Hass führen können. Als Zeugnisse eines Meisterwerks der menschlichen Kreativität fanden die drei wichtigsten Handschriften, in denen das Nibelungenlied überliefert ist, im Jahr 2009 Aufnahme in das UNESCO-Weltkulturerbe. Damit wurde dem Text, der vom Stoff und seiner Überlieferung her schon immer international war, auch offiziell der Status zugewiesen, der ihm eigentlich gebührt: jenseits nationalistischer Vereinnahmungen Teil des »Gedächtnisses der Menschheit« zu sein.

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