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um 700 v. Chr. Homer Ilias Der Beginn der europäischen Literatur

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Das Versepos Ilias wird heute oft an den Anfang der europäischen Literaturgeschichte gestellt, unbestreitbar ist es eines der ältesten und bedeutendsten Werke der Weltliteratur. In vierundzwanzig Gesängen schildert der Dichter Homer eine kurze Phase aus dem Trojanischen Krieg, wofür er auf frühzeitliche Lieder und mündlich überlieferte Sagen zurückgreift. Seine Darstellung der mythologischen Götter- und Heldenwelt prägt seit der Antike die gesamte europäische Geistes- und Kulturgeschichte.

Am Anfang steht der Zorn. Weil Agamemnon, der Anführer des griechischen Heeres, seine Beute, die Tochter eines Apollon-Priesters, zurückgeben muss, um den Gott zu besänftigen, nimmt er sich stattdessen das Beutemädchen des Achilleus, was diesen schwer erzürnt. Von dem »unnennbaren Jammer«, der auf diesen »bitteren Zank« folgt, handelt die Ilias. Sie schildert einundfünfzig Tage im letzten Jahr des Krieges der Griechen gegen die Trojaner, in denen die zehnjährige Belagerung der Stadt Troja (griech. Ilios) eine entscheidende Wendung erfährt. Kunstvoll wird dabei die Endphase des Konflikts mit Rückblenden auf Szenen aus früheren Kriegsjahren verknüpft. Der Auslöser des Krieges, der Raub der Helena, konnte beim Publikum vorausgesetzt werden und wird daher nur kurz erwähnt: Die Gattin des spartanischen Königs Menelaos war von Paris, dem Sohn des trojanischen Königs Priamos, nach Troja mitgenommen worden, woraufhin die vereinten Griechen gegen Troja zogen. Auch der eigentliche Kriegsverlauf galt als bekannt, und entsprechend konzentriert sich die Ilias auf die inneren Regungen der Menschen und Götter.

Im Mittelpunkt steht jener Held Achilleus, der bis auf seine Ferse (die sprichwörtliche Achillesferse) unverwundbar ist und der durch Agamemnon in seiner Ehre verletzt beschließt, nicht mehr unter diesem zu kämpfen. Obwohl die Griechen in der Folge keine Schlacht mehr gewinnen und fast vor der Niederlage stehen, bleibt Achilleus stur. Sein Freund und Vertrauter Patroklos jedoch zieht in die Schlacht und wird von Hektor, dem älteren Bruder von Paris und Heerführer der Trojaner, getötet. Außer sich vor Trauer über dessen Tod wütet Achilleus auf dem Schlachtfeld und kann schließlich Hektor besiegen. In blindem Zorn schleift er dessen Leichnam um die Mauern Trojas und anschließend über zehn Tage lang immer wieder um das Grabmal des Patroklos. Erst als sich König Priamos als Bittsteller ins Lager der Griechen schleicht und um die Leiche seines Sohnes fleht, zeigt Achilleus Gefühl: Beide weinen gemeinsam um die Menschen, die sie verloren haben. So wird mit der Auslösung von Hektors Leichnam auch das Ausgangsproblem im ersten Vers der Ilias, der Zorn des Achilleus, aufgelöst. Die ehrenvolle Bestattung Hektors, für die ein elftägiger Waffenstillstand eingehalten wird, beschließt die Ilias. Die letzte der drei Totenansprachen hält seine Schwägerin, sodass am Ende der Ilias noch einmal jene Frau das Wort hat, die am Ausgangspunkt des ganzen Krieges stand: Helena. Damit kommt die ins Zentrum gerückte Etappe zu einem Abschluss, und gleichzeitig rückt der große Rahmen des Krieges wieder in den Blick. Denn nach der kurzen Waffenruhe wird dieser fortgesetzt, aber das Publikum weiß: Mit dem Tod Hektors ist der Untergang Trojas eingeleitet.

Auch wenn über das Leben Homers kaum etwas bekannt ist – man geht davon aus, dass er wohl in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts v. Chr. gelebt hat –, so betrachtet man es aufgrund der künstlerischen Gesamtkomposition des Textes heute weitgehend als gesichert, dass die mehr als fünfzehntausend in Hexameter verfassten Verse der Ilias in schriftlicher Form fixiert wurden. Damit gelten sie als eines der ersten Zeugnisse der europäischen Literatur. Seit der Antike haben sich bildende Künstler produktiv mit der Ilias auseinandergesetzt, und von Dichtern wurde sie (sowie ihre jüngere Schwester, die Odyssee, die die Irrfahrten des Odysseus auf dem Rückweg von Troja zum Thema hat) jahrtausendelang als eine Art Steinbruch genutzt, indem sie einzelne Episoden oder Motive verarbeiteten. Kaum ein Autor, der etwas auf sich hielt, hat sich nicht mit Homer auseinandergesetzt. Auch die Historiker orientierten sich auf der Suche nach Informationen zum Trojanischen Krieg lange an Homers Ausführungen, die das Bild der griechischen Mythologie definierten und damit die kulturelle Identität Europas bis heute mitbestimmen.

Doch die Rolle des Werkes für die europäische Kulturgeschichte geht weit über seine historische Bedeutung oder motivische Anleihen hinaus, denn die Ilias zeigt idealtypisch, was Literatur alles leisten kann – und zwar im Hinblick auf Form, Charaktere, Sprache und Relevanz. Die kunstvolle, dramatische Handlungsstruktur, die Individuen, Heere und Götter ineinanderwebt, sowie die Komplexität von Achilleus’ Charakter, der zwischen Wut, Stolz, Rache, Trauer und Mitleid changiert, bieten schon all das auf, was ab dem 18. Jahrhundert den Roman so populär werden lassen sollte. Das Ganze wird in einer eigenen intensiven Diktion festgehalten, die wesentlichen Anteil an der Wirkung des Werkes gehabt haben dürfte. Einzelschicksal und Gesamtsystem sind bei Homer unlösbar verquickt, denn Achilleus setzt zur persönlichen Genugtuung die Gemeinschaft aufs Spiel, die zwar am Ende siegreich, aber auch im Innersten verunsichert bleibt. Hinter dem abwechslungsreichen Plot wird damit eine drängende gesellschaftspolitische Frage verhandelt, die die Griechen der damaligen Zeit umtrieb: Wie sind als allgemeingültig angenommene Normen im Lichte einer sich wandelnden Gesellschaft neu auszulegen? So geht es zunächst scheinbar um wenig, nämlich um den Zorn eines einzelnen jungen Mannes, im Grunde aber von Anfang an um alles: um das Verhältnis zu den Göttern, die Fragilität der Existenz und die Konsequenzen des individuellen Handelns – letztlich um die conditio humana. Was für ein Auftakt für die europäische Literatur!

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