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1494 Sebastian Brant Das Narrenschiff Der Narr als Spiegel der Gesellschaft

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Sebastian Brants Moralsatire Das Narrenschiff zählt zu den Schlüsselwerken der Frühen Neuzeit. Am Ende des Mittelalters hält es seinen Zeitgenossen angesichts großer Umbrüche und grundlegenden Wandels den Spiegel vor. In einer Welt, die er voll von Narren sieht, bemüht sich Brant um die Durchsetzung eines gültigen Ordnungsschemas, das dem Einzelnen Orientierung bieten soll, indem es ihm Negativbeispiele vorführt. In diesem Sinne sind die gesammelten Narreteien in der Summe auch diagnostische Bestandsaufnahme und Sammlung von Krisenphänomenen der Zeit.

Wollte man Sebastian Brant und den Erfolg seines Werks Das Narrenschiff in heutiger Diktion beschreiben, so würde man ihn vermutlich einen Literaturstar und sein Werk einen Megaseller nennen müssen. Zu Lebzeiten war Brant, der 1457 in Straßburg geboren wurde und dort 1521 als Stadtschreiber und oberster Verwaltungsbeamter starb, jedenfalls der bekannteste deutschsprachige Autor, der vielen Zeitgenossen als größter deutscher Dichter galt.

Das Narrenschiff mit zahlreichen Illustrationen, von denen man viele Albrecht Dürer zuschreibt, erschien 1494 in Basel, und schon kurze Zeit später kamen sechs weitere Ausgaben und eine große Menge unautorisierter Nachdrucke auf den Markt. 1497 brachte ein Schüler Brants eine lateinische Übersetzung heraus, die die internationale Verbreitung des Werks in der gelehrten Welt maßgeblich beförderte und zur Grundlage weiterer Übersetzungen etwa ins Englische und Französische wurde. Damit avancierte Brants Narrenschiff als erstes Werk der deutschen Literatur zu einem europäischen Phänomen. Es führte die Figur des Narren zwar nicht erstmalig in die Literatur ein, sicherte ihr dort aber einen festen Platz und wurde damit zum Ausgangspunkt einer ganzen literarischen Gattung, die in der Folge dann etwa durch die Geschichten um Till Eulenspiegel oder die Schildbürger im 16. Jahrhundert weiter popularisiert wurde. Die Beliebtheit des Narrenschiffs scheint das noch befördert zu haben: Bis zum Ende des 16. Jahrhunderts waren bereits siebenundsiebzig Ausgaben gedruckt worden.

Der Erfolg von Brants Werk dürfte wohl darin begründet liegen, dass es sich gleichermaßen an gelehrte wie weniger gebildete Leser richtete, dass ein dichtes Netz von philosophischen und literarischen Bezügen geknüpft wird, das Buch aber gleichzeitig unterhaltsam und sehr komisch ist. Neu war auch die enge Verzahnung von Text und Bild, die dem Werk gerade für nicht ganz so geübte Leser einen besonderen Reiz verlieh. Das Narrenschiff reiht sich ein in die Tradition moralisch-didaktischer Schriften in Versform, die ihre Leser in satirischem Gewand belehren, bessern und zu Weisheit führen wollen: Im Lachen soll Erkenntnis reifen. In hundertzwölf Kapiteln präsentiert es jeweils eine »Narrheit«, eine menschliche Schwäche, ein Laster oder ein Beispiel falschen Verhaltens, um so eine Art Narren-Katalog zu erstellen. Der gespannte Bogen der Narrheiten reicht dabei von Privatem (Erziehung der Kinder, Ehe, körperliche Reize), Fragen des gesellschaftlichen und sozialen Miteinanders bis zur Politik, zum Rechtsleben und zur Religion. Die wenig systematische Abfolge der einzelnen Kapitel, die wohl dem Prinzip der Abwechslung verpflichtet ist, wird durch das titelgebende Bild zusammengehalten – denn all die Narren haben sich auf einem Schiff versammelt, um gemeinsam nach »Narragonien« zu reisen.

Die individuellen Narrheiten werden in der Zusammenschau als Symptome einer Krise erkennbar, sie stehen für eine Zeit, die aus den Fugen geraten scheint. Der Narr ist bei Brant nicht mehr die Ausnahme, sondern der Standardfall in einer Welt, die zu einem Narrenschiff verkommen ist. Das Schiff als geläufiges Bild für das menschliche Dasein fungiert hier gleichzeitig als Gegenmodell zum Schiff des Glaubens. Auf dem Narrenschiff versammelt man sich eben nicht, um das Heil zu erlangen, sondern um in den Untergang zu segeln. Brants Ziel ist es, die Menschen wieder auf den richtigen Weg zu bringen, der für den Einzelnen immer schwerer zu finden sei.

Seine Zeitkritik verknüpft Brant ganz explizit mit der zentralen Medienrevolution, wenn er am Anfang seiner Vorrede den Buchdruck erwähnt, der zu einer Fülle an Publikationen und dadurch zu einer Unübersichtlichkeit und Entwertung der Schrift geführt habe: »Ja, Schrift und Lehre sind veracht’t,/Es lebt die Welt in finstrer Nacht/Und tut in Sünden blind verharren;/Alle Gassen und Straßen sind voll Narren.« Aus Brants Perspektive geht mit dem Zuwachs an Druckerzeugnissen nicht automatisch eine Besserung der Menschen einher, sondern sie bedürfen nach wie vor der Anleitung – die aber nun glücklicherweise mit dem Narrenschiff vorliege. Derjenige, der also in den chaotischen Zeiten die Übersicht behält und den Weg zur gültigen Ordnung und zum guten Leben weisen kann, ist eben nicht derjenige, der Bücher anhäufe (auch ein Narr in Brants Typologie), sondern eben der »echte« Gelehrte, wodurch dem Werk in gewisser Hinsicht auch der Versuch einer Rechtfertigung des eigenen Tuns und einer Absicherung des eigenen Status eingeschrieben ist.

Brant gilt ungeachtet seiner pessimistischen Weltsicht und konservativen Einstellung als zentraler Vertreter einer humanistischen Erneuerung des geistigen Lebens in Deutschland. Der Erfolg unter Frühhumanisten war jedenfalls von Anfang an groß, weil das Narrenschiff als eine Art Heilmittel für die närrische Menschheit gelesen wurde. Man lobte, dass Brant den Stil Ovids für die deutsche Literatur fruchtbar gemacht habe, und verglich ihn in seiner Bedeutung für die Begründung einer Nationalpoesie mit Dante. In Brants Werk sah man die erste deutsche Satire in antiker Tradition und adelte es schon bald zu einem Klassiker. Es gilt noch heute als eines der wichtigsten Bücher seiner Zeit und blieb bis zum Triumph von Goethes Werther das erfolgreichste literarische Werk in deutscher Sprache.

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