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um 300 v. Chr. Euklid Die Elemente Ein Weg zur reinen Erkenntnis
ОглавлениеEuklid wird von vielen als einflussreichster Mathematiker betrachtet, dessen wichtigste Abhandlung, Die Elemente, als eines der erfolgreichsten Lehrwerke aller Zeiten gilt. Mit über eintausend verschiedenen Editionen ist es nach der Bibel das in den meisten Ausgaben gedruckte Buch und wohl eines der meistrezipierten Werke der Menschheitsgeschichte. Euklid systematisiert darin die Summe des mathematischen Wissens seiner Zeit und führt beispielhaft vor, wie eine exakte Wissenschaft zu arbeiten habe. Kaum einem anderen Werk wird ein vergleichbar großer Einfluss auf die Methodik des wissenschaftlichen Denkens zugesprochen.
Auch diejenigen, die sich nicht unbedingt mit Freude an den Mathematikunterricht erinnern, können vermutlich einige Formeln noch immer auswendig. Doch weder der Satz des Pythagoras noch der Satz des Thales würde heute ohne Euklid zum Allgemeingut zählen. Denn auch wenn natürlich vor Euklid schon bedeutende Mathematiker wie eben Pythagoras oder Thales wirkten und vielen weitaus mehr mathematische Kreativität zugeschrieben wird, so standen deren Erkenntnisse doch vereinzelt und waren nicht in einem umfassenden Denksystem verbunden, das erst Euklid mit Die Elemente vorlegte. Euklid betritt darin nur zum Teil mathematisches Neuland, wie etwa mit dem Beweis dafür, dass es unendlich viele Primzahlen gibt. Seine Leistung liegt vor allem darin, das bereits Entdeckte auf den Gebieten der Geometrie, Arithmetik, Algebra und Zahlentheorie erstmals zu kartografieren und in eine zusammenhängende Ordnung zu bringen. Dabei greift er auf philosophische Konzepte Platons und methodologische Überlegungen von Aristoteles zurück.
Euklid formuliert ein System, in dem jede Erkenntnis auf bereits hergeleitetem, gesichertem Vorwissen aufbaut. Er setzt an den Anfang beschreibende Definitionen von Grundbegriffen wie »Punkt« (»Ein Punkt ist, was keine Teile hat.«) oder »Linie« (»Eine Linie ist eine breitenlose Länge.«), bevor er fünf Postulate formuliert, die geometrischen Festlegungen gleichkommen, wie die, dass alle rechten Winkel einander gleich seien. Darauf folgen mehrere logische Axiome, also eine Reihe von Aussagen, von denen auszugehen ist, dass sie jedermann aufgrund eigener Anschauung unmittelbar einleuchten und deren Richtigkeit nicht bewiesen werden muss (etwa: »Wenn Gleichem Gleiches hinzugefügt wird, sind die Ganzen gleich.«). Die Axiome sind das logische Fundament, auf dem ausgehend von den einführenden Beschreibungen (Definitionen) und Festlegungen (Postulaten) weitere Schlüsse gezogen werden können. Alle folgenden Sätze und Beweise verwenden nur die Definitionen, Postulate und Axiome beziehungsweise vorher Bewiesenes, alles muss deduktiv hergeleitet werden. Wie bei den Gliedern einer Kette reiht sich logische Schlussfolgerung an logische Schlussfolgerung. Damit hat Euklid ein Denkverfahren profiliert, das fortan als Vorbild für die wissenschaftliche Theoriebildung fungierte.
Der Zeitpunkt oder die Umstände der Entstehung und Niederschrift der Elemente liegen im Dunkeln. Einige meinen, Euklid müsse eher als eine Art Herausgeber denn als Verfasser betrachtet werden, andere gehen davon aus, dass es sich um Mitschriften seiner Schüler handele. Diese Unsicherheiten wundern nicht, denn auch über das Leben Euklids weiß man kaum etwas und auch das Wenige nur aus Aufzeichnungen, die Jahrhunderte nach seinem Tod angefertigt wurden. Einer Version seiner Biografie zufolge soll er um 325 v. Chr. in Athen geboren und an der Akademie Platons ausgebildet worden sein. Er sei dann von Ptolemaios I. an das Museion in Alexandria berufen worden, eine Akademie und Forschungsstätte für herausragende Denker, die oft als Vorbild der modernen Universitäten bezeichnet wird. Man geht davon aus, dass Euklid um 270 v. Chr. in Alexandria verstorben ist. Ungeachtet der dürftigen Faktenlage sind allerdings einige berühmte Anekdoten zu Euklid überliefert. Eine besagt, dass er König Ptolemaios I. auf dessen Frage, ob nicht ein einfacherer Zugang zum Verständnis der Geometrie existiere, geantwortet haben soll, dass es in diesem Falle keinen bequemen Königsweg gebe. Laut einer anderen soll Euklid von einem Schüler gefragt worden sein, was man denn mit mathematischen Einsichten einmal verdienen könne, woraufhin er diesem verächtlich ein paar Münzen habe zuwerfen lassen. Auch wenn sich diese Begebenheiten so nie zugetragen haben mögen, so sagen sie im Kern doch etwas über die Bedeutung der Mathematik im hellenistischen Denken: dass es nämlich nicht um einen anwendungsbezogenen oder gar materiellen Nutzen ging, sondern um das Streben nach reiner Erkenntnis und idealen Wahrheiten – und da musste sich dann eben ein König genauso anstrengen wie jeder andere.
Auch wenn Die Elemente über Jahrtausende hinweg erst in Handschriften und dann in Druckform für den Mathematikunterricht benutzt wurden, so sind sie doch kein Lehrwerk im engeren Sinne. Euklid verzichtet darauf, Schüler »mitzunehmen«, ihnen mit praktischen Beispielen das Verständnis zu erleichtern oder vertiefende Erläuterungen einzubauen. Damit steht die Abhandlung auch auf formaler Ebene für das ein, was vom Ansatz her das Zentrum markiert: Konzentration auf unverfälschten Erkenntnisgewinn. In seinem trockenen Stil und strengen Aufbau von Definition, Satz und Beweis steht das Werk für das zeittypische Verständnis von Mathematik. Goethe lobte Euklids Elemente »als ein unübertroffenes Muster eines guten Lehrvortrags«, das »in der größten Einfachheit und notwendigen Abstufung ihrer Probleme« vorführe, »wie Eingang und Zutritt zu allen Wissenschaften beschaffen sein sollten«. Doch auch wenn unzählige Schüler und auch vermutlich einige Lehrer an Euklid verzweifelten – seine historische Bedeutung für die Entwicklung der exakten Wissenschaften weit über die Grenzen der Mathematik hinaus ist kaum zu überschätzen.