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um 1350 Giovanni Boccaccio Dekameron Die menschliche Komödie

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Zehn mal zehn Geschichten, die sich eine Gruppe junger Florentiner auf einem Landsitz erzählt, während um sie herum die Pest wütet – mit seinem »Zehn-Tage-Werk«, dem Dekameron, ist Giovanni Boccaccio zum Begründer der Erzählform der Novelle geworden. Sein Hauptwerk setzt Diesseitigkeit an die Stelle der mittelalterlichen Jenseitsfixierung und spielt lustvoll mit der Scheinmoral seiner Zeitgenossen. Ein Schlüsselwerk der italienischen Renaissance, das einen neuen Ton anschlägt und in Inhalt und Form die europäische Literatur bis hinein in die Gegenwart geprägt hat wie wenige andere.

»Lies italienisch was du willst, nur den Decameron vom Boccaccio nicht«, warnt der sechzehnjährige Goethe seine Schwester Cornelia in einem Brief vom Dezember 1765. Schließlich steht das Werk im Ruf des Frivolen und ziemt sich kaum als Lektüre für junge Damen. Nicht deshalb freilich wurde es 1559 auf den päpstlichen Index gesetzt, sondern weil Boccaccio darin genüsslich die Kirche aufs Korn nimmt. Und so wurden in späteren Ausgaben aus Mönchen und Nonnen, die im Original recht irdischen Gelüsten nachgeben, kurzerhand Soldaten und Mägde.

Die »menschliche Komödie« lautet ein Spitzname des Dekameron, in Anspielung auf Dantes Commedia, der übrigens erst der Dante-Verehrer Boccaccio den Zusatz »göttlich« verlieh. Dante, Petrarca und Boccaccio – das sind die sogenannten drei Kronen, die tre corone, die die Toskana im 14. Jahrhundert der Weltliteratur schenkte. Zeit seines Lebens sollte sich Giovanni Boccaccio, 1313 als unehelicher Sohn eines Bankiers geboren, 1375 in Certaldo bei Florenz gestorben, den beiden anderen unterlegen fühlen. Der Vater hatte Giovanni erst eine Banklehre, dann ein Studium des Kirchenrechts in Neapel verordnet, doch den jungen Mann zog es zur Dichtung. Neben Versepen und Romanen schrieb er auch gelehrte Werke auf Lateinisch. Reich wurde er damit nicht, fand aber Anerkennung bei den Zeitgenossen. Petrarca und Dante werden bis heute verehrt; geliebt aber wird vor allem Boccaccio – wegen seines Decamerone, das er zwischen 1349 und 1353 verfasste.

1348 wütet die Pest in Florenz, Boccaccio schildert die Umstände als Zeitzeuge eingangs mit drastischer Deutlichkeit. In der Fiktion des Werks beschließen sieben junge Damen und drei junge Herren aus bester Gesellschaft, dem Sterben in der Stadt zu entfliehen. Auf einem toskanischen Landsitz verbringen sie die Zeit damit, sich einander Geschichten zu erzählen, ganze zehn Tage lang. Jeden Morgen wird jemand aus ihrem Kreis bestimmt, der das Thema für den Erzählreigen des Tages wählen darf. Zehn mal zehn Geschichten enthält das Dekameron, genauso viele wie Dantes Göttliche Komödie Gesänge. Ihre Protagonisten entstammen sämtlichen Gesellschaftsschichten. »Wenn einer über die Beschäftigungen und Lebensweisen der verschiedensten Menschen und Stände zu jener Zeit Genaueres erfahren will«, schreibt Hermann Hesse, »der wird in den sämtlichen Werken der Gelehrten nicht so viel finden und lernen wie in diesem Buche, welches das Treiben und Gebaren der Menschen von damals treuer und deutlicher als ein Spiegel vor unsre Augen stellt.«

Das Neue, das Unerhörte, ist die offene Diesseitigkeit der Erzählungen. Während manche in der Pest eine göttliche Strafe sehen und sich geißelnd durch die Lande ziehen, legt Boccaccio seinen jungen Florentinern ein Bekenntnis zur irdischen Freude in den Mund: »Wir wollen unser Leben festlich gestalten. Deshalb allein sind wir der Traurigkeit entflohen.« Das Dekameron lässt die Konventionen der mittelalterlichen Moritaten ebenso hinter sich wie die des höfischen Minnesangs. Boccaccios Prosa ist Literatur für die »schöne Gesellschaft« der oberitalienischen Städte, vor allem für deren Damen, an die er sich in der Vorrede wendet. Und tatsächlich unterlaufen die Frauen im Dekameron – in der Rahmenhandlung wie in vielen der Erzählungen – gewitzt und elegant die Geschlechterrollen, die offenkundig in der florentinischen Oberschicht des Trecento so starr nicht mehr waren.

Boccaccio hat seine hundert Geschichten aus den unterschiedlichsten Quellen zusammengetragen. Manche sind antiken Ursprungs, manche folgen mündlichen Überlieferungen seiner Zeit, wieder andere mag er selbst erdacht haben. Wichtiger als der Ursprung der Geschichten ist, wie Boccaccio sie um einen Dreh- und Angelpunkt herum baut. Mit seinem Renaissance-Bestseller wurde er so nicht bloß zum Mitschöpfer der italienischen Hochsprache, sondern zum Begründer des modernen Erzählens in der europäischen Literatur. Vielen diente das Dekameron als Vorbild und Quelle. Nach seiner Vorlage entstanden Erzählzyklen wie die Canterbury-Erzählungen Geoffrey Chaucers, die Exemplarischen Novellen des Miguel de Cervantes oder die Tolldreisten Geschichten Honoré de Balzacs, Shakespeare entlehnte ihm Stoffe für Ende gut, alles gut und Cymbeline.

Auf Deutsch erscheint das Dekameron erstmals 1478 in Ulm (Hie hebt sich an das puch von seinem meister in greckisch genant decameron) und erlebt zahlreiche Auflagen. Hans Sachs verdankt ihm manche Inspiration für seine volkstümlichen Schwänke. Ging es zunächst vor allem um Boccaccios Stoffe, rückte mit der Romantik zunehmend seine Erzähltechnik ins Zentrum: Die Schilderung einer »unerhörten« Begebenheit, nicht selten verknüpft mit einer Rahmenhandlung, wurde zum Ausgangspunkt der Novellentheorie und stand Modell für Werke wie Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas, Annette von Droste-Hülshoffs Judenbuche oder Theodor Storms Schimmelreiter. Die berühmteste Leihgabe, die die deutsche Literatur vom Dekameron empfangen hat, ist aber wohl die Geschichte vom reichen Juden Melchisedech, der klug der Falle entgeht, die Sultan Saladin ihm stellt. Dessen Antwort auf die Frage des Sultans, ob das Judentum, das Christentum oder der Islam die wahre Religion sei, ist als »Ringparabel« in Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise ein zweites Mal unsterblich geworden.

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