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Einleitung

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Leipzig, Buchmesse. Wie jedes Jahr stellen die Verlage ihre Neuheiten vor. Eines der aktuellen Bücher dieser Saison wird alle anderen nicht nur in puncto Verkaufszahlen in den Schatten stellen. Sein Titel: Biblia, das ist die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Wir schreiben das Jahr 1534. Der Wittenberger Theologe Martin Luther hat nach jahrelanger Arbeit seine Bibelübersetzung abgeschlossen und veröffentlicht. Schnell verbreitet sich das Werk in der lesekundigen Bevölkerung und über die Kanzeln überall dort, wo auf Deutsch gepredigt wird. Gemäß Luthers protestantischer Sendung bringt »seine« Bibel das Evangelium unters Volk und trägt zugleich zur Vereinheitlichung der deutschen Sprache bei, die damals in vielen Mundarten und Dialekten gesprochen wird. Szenenwechsel: Gut einhundert Kilometer von Leipzig entfernt und gut zweihundertvierzig Jahre später, Weimar 1775. Auf Einladung des gerade achtzehnjährigen Herzogs kommt der junge Johann Wolfgang Goethe in die provinzielle, aber aufstrebende Residenzstadt. Ein Jahr zuvor hatte er mit seinem Roman Die Leiden des jungen Werther einen Sensationserfolg gelandet, der einer ganzen Generation aus der Seele zu sprechen schien, weil er statt auf Nutzen zu setzen das Gefühl zu seinem Recht kommen ließ. Die Leser identifizierten sich mit Werther, was besonders augenfällig in dem aufkommenden Modetrend wurde: Blauer Frack und gelbe Weste drückten ein neues, freiheitliches Lebensgefühl aus. Goethe selbst reist in dieser Kluft nach Weimar, und kurze Zeit später trägt der ganze Hof die »Werther-Mode«. Dritte Szene, noch einmal gut einhundertsiebzig Jahre später: In der Nacht vom 23. auf den 24.Mai 1949 tritt das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft. Eine provisorische Verfassung für den westdeutschen Teilstaat, die nicht bei allen sogleich auf Gegenliebe stößt. Im Bayerischen Landtag fällt sie durch. Nach noch einmal gut vierzig Jahren wird das Grundgesetz zur Verfassung des wiedervereinigten Deutschland. Heute prägt es neben der Arbeit der Staatsorgane vor allem über seinen Grundrechtsteil das politische und gesellschaftliche Leben insgesamt. Von seinen »Vätern« und »Müttern« hat es sich längst emanzipiert. Es immer aufs Neue mit Leben zu füllen und an die Erfordernisse der jeweiligen Jetztzeit anzupassen, ist zur Aufgabe der staatlichen Institutionen und des gesellschaftlichen Diskurses selbst geworden.

Unsere Welt ist ständig in Veränderung. Und ihre Entwicklung verläuft beileibe nicht immer geradlinig. Sie wird geprägt von unvorhersehbaren Einflüssen, erfährt Brüche und Sprünge. Anders gesagt: Die Welt, wie wir sie heute kennen, ist das Ergebnis steten Wandels, in dem Denkweisen hinterfragt, Traditionen abgelöst, Staatswesen reformiert (oder revolutioniert), gesellschaftliche Strukturen umgestaltet werden. Fragt man nach Ursachen für diese Veränderungen, nach Motoren dieses Wandels, dann denken die meisten wohl spontan an historische Ereignisse wie Krönungen, Krisen oder Kriege. Es fallen ihnen technische Erfindungen oder handfeste weltanschauliche Auseinandersetzungen ein. Nur die wenigsten werden als Antwort bestimmte Buchtitel nennen. Dabei spielt die Literatur eine ganz herausragende Rolle, wenn es um Neuerungen im Denken, um kulturellen und gesellschaftlichen Wandel geht. Es waren eben häufig Bücher, die Veränderungen einleiteten oder ganz wesentlich verstärkten, indem sie revolutionäre Ideen und Gedanken propagierten, indem sie neue Weltsichten und Erkenntnisse verbreiteten, kulturelle Muster und Verhaltensregeln etablierten oder eine Stimmung, die in der Luft lag, so verdichteten, prägende Situationen und Zustände so pointiert auf den Punkt brachten, dass es die Leser ins Herz traf. Unsere drei Eingangsbeispiele führen das anschaulich vor Augen. Will man also verstehen, wie eine Gesellschaft entstanden ist, wodurch sie geformt wurde und was sie ausmacht, kommt man an Büchern nicht vorbei.

Neunundneunzig solcher Bücher stellt der vorliegende Band vor. Neunundneunzig Bücher, die für unsere Welt von besonderer Bedeutung waren und sind. Sie alle haben Einfluss auf gesellschaftliche Veränderungen und auf die Herausbildung zentraler Vorstellungen genommen oder den Zeitgeist in besonders wirkmächtiger Weise eingefangen. »Unsere Welt«, das kann »unser aller Welt« heißen, denn in allen Erdteilen haben Bücher solche Wirkungen entfaltet. Es genügt etwa auf den Koran zu verweisen oder auf die Bedeutung, die Harriet Beecher Stowes Roman Onkel Toms Hütte für die Abschaffung der Sklaverei in den USA hatte. Neunundneunzig Bücher buchstäblich aus aller Welt vorzustellen, würde allerdings die Frage nach der Auswahl und der Vergleichbarkeit der Werke noch drängender stellen als im Falle des vorliegenden Bandes. Dessen Ansatz ist bescheidener: Er nimmt solche Bücher in den Blick, die auf besondere Weise in Deutschland ihre Wirkung entfaltet haben. Doch was heißt hier »Deutschland«? Als Nationalstaat ist Deutschland noch nicht einhundertfünfzig Jahre alt und existiert in seinen aktuellen Grenzen überhaupt erst seit wenigen Jahrzehnten. Für die Zwecke dieses Bandes kommt es auf solche letztlich politischen Organisationsfragen zum Glück nicht an. Entscheidend ist vielmehr jener vor allem durch die deutsche Sprache zusammengehaltene Kulturraum, den die nach staatlicher Einheit strebende politische Romantik des frühen 19. Jahrhunderts zur Kultur»nation« verklärte.

Dass dieser Kulturraum keineswegs isoliert steht, bedarf kaum der Betonung. Deutsche Kultur und Mentalität waren und sind immer Teil eines größeren, primär europäischen Zusammenhangs. Die Auswahl unserer Beispiele setzt daher an den Anfängen der Überlieferung von Texten ein. Sie nimmt – ausgehend von der Antike – naheliegenderweise zunächst vor allem Titel aus einem europäischen Kontext in den Blick, die entscheidenden Anteil daran hatten, dass Deutschland als Kultur- und Sozialraum geschaffen und geformt wurde. Ab dem 18. Jahrhundert sind es dann vor allem deutsche Autoren, deren Werke im Fokus stehen, wobei natürlich auch sie in vielfältiger Weise Impulse von außen empfangen haben.

Die Textauswahl will zum einen jene Titel vorstellen, die für bestimmte Neuerungen im Denken, für spezifische gesellschaftliche oder kulturelle Veränderungen entscheidend waren, die also Wandel einleiteten und mitgestalteten. Zum anderen aber werden immer wieder auch solche Bücher präsentiert, die bestimmte gesellschaftliche Zustände oder kulturelle Entwicklungen einfangen und abbilden. Es finden sich also neben Titeln, die Wandel initiierten, auch solche, die Wandel dokumentieren. »Zum einen, zum anderen« – das suggeriert, es ließe sich hier eine klare Grenze ziehen. Das indes ist kaum möglich. Ein »Kultbuch« wie Goethes Werther ist ebenso ein Kind des Zeitgeistes, wie es seine Zeit, die Werther-Zeit, prägte. Nichts anderes gilt für Darwins Über die Entstehung der Arten oder Sigmund Freuds psychoanalytisches Hauptwerk Das Ich und das Es. Denn die »creatio ex nihilo«, die Schöpfung aus dem Nichts, gibt es nicht.

Es liegt auf der Hand, dass der hier skizzierte Anspruch nur dann einzulösen ist, wenn die Auswahl der Beispiele möglichst breit angelegt ist und Texte aus allen denkbaren Wissens- und Themengebieten in den Fokus rückt. Auch muss der Begriff »Buch« in einem weiten Sinne ausgelegt werden. Und so stehen in diesem Band literarische Werke neben mathematischen Abhandlungen, es finden sich Berichte von Entdeckern und die Ergebnisse naturwissenschaftlicher Beobachtungen, es werden autobiografische Reflexionen, Reden, philosophische Traktate und politische Kampfschriften ebenso präsentiert wie Gesetzessammlungen oder Lexika. Denn es sind eben Bücher aus all diesen Bereichen, die bedeutsam waren für die Gesellschaft und das Denken in Deutschland – und es bis heute sind.

Eine gelegentlich knifflige Aufgabe war es, die Bücher zeitlich einzuordnen. Wo ein Werk nach und nach in mehreren Teilen publiziert wurde, haben wir das Veröffentlichungsjahr des ersten Bandes gewählt. In der Regel haben wir das Jahr der Erstveröffentlichung zugrunde gelegt. Wo Abweichungen von diesem Prinzip sinnvoll schienen, etwa weil der Autor große Überarbeitungen vorgenommen hat, die dazu führten, dass der Text erst in dieser neueren Fassung seine nachhaltige Wirkung entfaltete, wird das im jeweiligen Artikel erläutert. Und dann ist da noch das Phänomen, dass manche Bücher erst nach langem Dornröschenschlaf rezipiert wurden, zumindest in Deutschland. Das Nibelungenlied etwa erhielt erst im 19. Jahrhundert seinen Status als der Klassikertext des deutschen Mittelalters. Und auch der Diwān des Hafis wurde erst durch die Übersetzungen und Nachdichtungen aus der Feder Rückerts und Goethes zur Keimzelle der deutschen Orientbegeisterung. Weil sich aber die Rezeption meist schwer datieren lässt und auf eine Entdeckung nicht selten eine oder mehrere Wiederentdeckungen folgten, haben wir hier das Jahr der ersten Veröffentlichung zugrunde gelegt. Wo allerdings – vor allem im 20. Jahrhundert – die Übersetzung eines in einer anderen Sprache verfassten Buches der Erstveröffentlichung auf den Fuß folgte, fiel unsere Wahl auf das Jahr der deutschen Erstausgabe.

Die größte Herausforderung bestand in der Auswahl der vorgestellten Bücher. Mit ihr erheben wir zwar einen gewissen Anspruch auf Plausibilität, aber keinen auf Repräsentativität. Natürlich haben wir uns bei der Zusammenstellung der Titel etwas gedacht. Wir wissen aber sehr wohl, dass wir uns hier nicht im Bereich objektiver Maßstäbe bewegen, sondern zwar begründbare, aber letztlich subjektive Entscheidungen getroffen haben. Vermutlich könnte jede Leserin und jeder Leser spontan eine ganze Reihe weiterer Bücher nennen, deren Aufnahme man mit guten Gründen ebenso hätte erwägen können. Zu einem Band wie dem vorliegenden gehört unserer Meinung nach aber auch die eine oder andere Überraschung, Irritationen inklusive. So haben wir zum Beispiel auf die Aufnahme der Bibel verzichtet, was zu Stirnrunzeln Anlass geben mag. Sie taucht dann aber in Gestalt der eingangs erwähnten Lutherbibel in unserer Sammlung auf.

Unsere Auswahl versteht sich also weder als ein Beitrag zu Kanon-Debatten noch als ein Sinnstiftungsangebot in Fragen der kulturellen Identität. »Prodesse et delectare«, nützen und unterhalten, so ließe sich in Anlehnung an Horaz ebenso bescheiden wie unbescheiden die Absicht zusammenfassen, die wir mit diesem Band verfolgen. Wer sich darauf einlassen mag, den laden wir ein, mit uns auf dieser ganz besonderen Buchmesse von Stand zu Stand zu schlendern und einen Blick auf Bücher aus fast dreitausend Jahren zu werfen, um sich informieren, gelegentlich überraschen und vor allem gut unterhalten zu lassen!

Weil Bücher unsere Welt verändern

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