Читать книгу Aufwachen im 21. Jahrhundert - Christian Meyer - Страница 15
Wie erfahre ich diese tiefere Wirklichkeit?
ОглавлениеZuerst lade ich dich zu einer Übung3 in Form einer Innenreise ein.
Mach die Augen zu. Atme aus. Und jetzt nimm wahr, was gerade für Körperempfindungen wahrnehmbar sind. Und dann nimmst du wahr, was du fühlst. Du kannst hier fragen: „Welche Stimmung ist da jetzt gerade? Fühle ich mehr Ruhe oder Unruhe?“ Dann kann ich fragen: „Mit welchem Gefühl ist es verbunden?“ Und wenn du jetzt irgendwas entdeckst, eine Stimmung, ein Gefühl oder eine tiefere Erfahrung, die im Augenblick im Vordergrund ist, dann kannst du dich in dieses Gefühl oder diese Erfahrung hineinfallen lassen und entdecken, wie tief dieses Gefühl oder diese Erfahrung ist. Im buchstäblichen Sinne hineinfallen lassen mit der Frage: „Wie tief ist es?“ Und wenn du dabei dieses Erleben von Tieferfallen hast, dann kannst du entdecken, was dieses Tieferfallen auslöst. Du kannst auch sehen, ob dieses Tieferfallen entspannend oder beunruhigend wirkt oder unheimlich ist. Danach die Augen wieder öffnen.
Wenn man nach innen geht und diese verschiedenen Schichten von Körperempfindungen und Gefühlen durchschreitet, kommt jeder an einen inneren Abgrund. Die Existenzialisten haben diesen Abgrund beschrieben und uns aufgefordert, im Angesicht dieses Abgrundes nicht wegzulaufen, sondern freier zu werden, indem wir in den Abgrund hineinblicken. Die Mystiker, insbesondere die christlichen Mystiker, waren sich über diesen Abgrund sehr im Klaren und haben den Menschen geraten, sich in diesen Abgrund hineinfallen zu lassen. Und das ist der springende Punkt: Wenn ich mich in diesen Abgrund hineinfallen lasse, geschieht typischerweise, dass der Mensch sich nicht nur versenkt, sondern dass der Atem weniger wird. Wenn man das zulassen kann und die Angst vor der Bodenlosigkeit fühlen kann und trotzdem dabeibleibt, fällt man tiefer und erlebt eine Enge – es sind keine Bilder, sondern es ist eine innere Erfahrung –, als fiele man plötzlich durch eine Enge. Wenn man dann weiter aushält, dass der Körper fast gar nicht mehr atmet – viele Menschen bekommen dann Angst und holen Luft, weil sie fürchten zu ersticken –, wenn man es aushält und sich weiter fallen lässt, dann wird diese Enge plötzlich weiter und es findet eine wirkliche Veränderung statt. Man hat das Gefühl, zu schweben und zu fliegen. Da ist gar kein Grund und braucht auch gar kein Grund zu sein, weil man plötzlich fliegen kann. Das ist eine wesentliche Erfahrung, die zum Aufwachen führen oder das Aufwachen bedeuten kann, denn plötzlich fliegt man nicht mehr in einem Raum, sondern man nimmt sich als diese Unendlichkeit selbst wahr. Und so wird der Verstand still.
Ich habe das selbst, aber auch mit Schülern in den letzten zehn Jahren dutzendfach erlebt. Viele wachen auf diese Weise auf. Es ist eine Gnade. Man hat es nicht in der Hand, man kann es nicht machen, aber man kann sehr viel tun, um dahinzukommen.
Das Hineinfallen in den Abgrund und sich diesen existenziellen Ängsten zu stellen – der Angst vor der Bodenlosigkeit, der Angst vor der Auflösung in der Leere, der Angst vor dem Alleinsein, dem existenziellen Alleinsein, der Gottverlassenheit, der Angst vor dem Tod –, das sind die existenziellen Ängste, die durchschritten werden müssen. Das Ganze kann nur dann geschehen, wenn man alles mit sich geschehen lässt, ohne dass man selbst noch etwas tun will. Solange dabei noch irgendetwas von „Ich will“, „Ich brauche“, „Ich möchte“ da ist, funktioniert es nicht. Es ist gewissermaßen so, wie Meister Eckhart sagte: „Wenn du nichts mehr willst und wenn du nichts hast – und dabei meine ich nicht den äußeren Besitz, sondern die inneren Dinge – und wenn du nichts weißt, und das bedeutet, dass du dir keine Erwartungen machst, was als Nächstes passieren könnte, wenn du kein Urteil mehr hast über den Augenblick, wie er jetzt ist, wenn du nicht mehr erwartest, wie der Augenblick sein soll, wenn du in diesem Sinne nichts mehr weiß; wenn du also nichts willst, nichts hast, nichts weißt, dann kannst du aufwachen, noch bevor die Messe zu Ende ist.“ Und dann sprach er: „Du kannst sogar aufwachen, bevor meine Predigt zu Ende ist.“