Читать книгу Aufwachen im 21. Jahrhundert - Christian Meyer - Страница 8

Einleitung

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Die Idee zu diesem Buch bestand darin, die wesentlichen grundlegenden spirituellen Fragen zu behandeln. In den 1990er Jahren gab es in der Spiritualität im Westen eine wichtige Veränderung: Konnte man zuvor über das Aufwachen nur lesen, begannen jetzt die ersten erwachten spirituellen Lehrer im Westen zu lehren. Seither verbreitet sich das Wissen über das Aufwachen, und das Aufwachen als konkrete Erfahrung wie auch als grundlegende Veränderung des Seins tritt immer häufiger auf. Unter dem Aufwachen ist die grundlegende und radikale Transformation zu verstehen, die früher meistens mit „Erleuchtung“ oder „Befreiung“ bezeichnet wurde. Es ist weder eine bloße Bewusstseinserweiterung noch eine zeitliche Erfahrung, sondern eine grundlegende Veränderung der gesamten Seinsweise, die dauerhaft sein kann, wenn sie sich durch Achtsamkeit und Konsequenz kontinuierlich vertieft. Das heißt auch, dass jemand wieder „einschlafen“ kann, denn mit dem Aufwachen allein ist es nicht getan. Es ist vielmehr auch dann eine innere Arbeit nötig, um das Aufwachen zu vertiefen und zu integrieren. Immer wieder ist die Rede davon, dass sich durch das Aufwachen nichts ändere, dass es insofern auch gar nicht wichtig sei und dass der einzige Effekt die entlastende Erkenntnis sei, dass man nach gar nichts zu suchen brauche. Wir haben viele meiner Schülerinnen und Schüler, die aufgewacht sind, in Interviews befragt. Alle berichten von wesentlichen Veränderungen. Zehn von ihnen kommen in diesem Buch selber zu Wort.

Seitdem ich als spiritueller Lehrer zu arbeiten begann, sind nunmehr fast anderthalb Jahrzehnte vergangen. In dieser Zeit hat sich meine Arbeit unglaublich entwickelt und ist gewachsen, dies kommt in diesem Buch zum Ausdruck. Das war und ist auch ein für mich spannender Prozess. Ein wichtiger Grund für diese Entwicklung der Arbeit – das wurde mir in den Jahren langsam deutlich – lag darin, dass ich hauptsächlich in Berlin und Wien arbeitete und darüber hinaus nicht ständig von einem Ort zum anderen reiste. So hatte ich die Chance, mit denselben Menschen über lange Zeiträume hinweg zu arbeiten. Dadurch gab es mehr zu tun, als immer wieder Anfängern dieselben allgemeinen Grundlagen zu vermitteln. Mit dem Wachstum meiner Schülerinnen und Schüler entwickelte sich auch meine Arbeit. Deswegen empfinde ich allergrößte Dankbarkeit: für all jene, die sich mit ihrem Mut, ihrer Bereitschaft und Entschlossenheit auf den Weg machten und machen, durch radikale Selbsterforschung und Selbsterkenntnis die allzu engen Grenzen des normalen Daseins zu überwinden.

Dieses Buch spannt einen Bogen über die wesentlichen spirituellen Fragen: Worin besteht der Weg zum Aufwachen? Ein Weg, der natürlich kein Weg ist – das Aufwachen ist das vollständige Loslassen in den gegenwärtigen Augenblick, in die Tiefe des Hier und Jetzt. Wie soll es da einen Weg geben? Zudem ist Aufwachen etwas, das einem geschieht, nicht etwas, das man machen kann, Aufwachen ist eine Gnade. Und dennoch: Wer je die Sehnsucht nach der Unendlichkeit und Freiheit, nach wirklichem Glück und Ganzsein gefühlt hat, den bewegt nichts so sehr wie die Frage: „Was hilft wirklich, was kann mich wirksam unterstützen, um aufzuwachen?“ Dazu habe ich alle spirituellen Wege wie auch die psychologischen und psychotherapeutischen Wege erforscht und das „destilliert“, was wirklich wirkt, was die Fähigkeit des Loslassens und des Geschehenlassens entwickelt und die Möglichkeit erweitert, aufzuwachen. Das Ergebnis sind die „7 Schritte zum Aufwachen“, die ich Anfang 2000 entwickelt habe und die seitdem die Grundlage meiner Arbeit mit zahlreichen Schülerinnen und Schülern sind. Das Wichtigste dafür habe ich bei meinem Lehrer Eli Jaxon-Bear gelernt, für den ich voller Dankbarkeit bin, niemals endend. Elis Entdeckungen stellen ganz sicher einen Meilenstein in der Entwicklung der spirituellen Wege dar.

Schon länger ist ein grundlegendes Problem bekannt: Die Meditation, hier und im Folgenden im traditionellen Sinne, als wichtigstes Mittel des spirituellen Wegs, beinhaltet die Gefahr, dass sich der Meditierende aufgrund des „Beobachtens“ den Gefühlen und dem tatsächlichen Erleben noch weiter entfremdet und innerlich betäubt oder künstlich wird. Wenn in der Meditation mit dem Ziel, den Geist zu beruhigen, Körperprozesse beobachtet werden, so ist dies auch ein systematisches Training im Verdrängen von Gefühlen. Wenn Gefühle in der Meditation nur beobachtet werden, besteht die Gefahr der Dissoziation und Abspaltung der Gefühle und des Erlebens. Dieses Problem war wie der Gordische Knoten. Alle Versuche, die Meditation wegen dieser Gefahr der Entfremdung um psychologische und therapeutische Methoden zu ergänzen, waren und sind nicht überzeugend und in der Praxis wenig wirksam. Eli Jaxon-Bear löste dieses Problem durch folgende Entdeckung: Es geht darum, alles zu fühlen – weder Gefühle zu verdrängen, noch beobachtend zu dissoziieren – also alles ganz und gar zu fühlen, ohne irgendetwas zu tun, weder äußerlich noch innerlich, nichts auszuagieren. Es ist weder traditionelle Meditation noch therapeutische Arbeit. Es ist die konkrete und unglaublich wirksame Ausgestaltung dessen, was Ramana Maharshi auf den Punkt brachte: „Die ganze Methode lässt sich zusammenfassen in dem Satz: Sei still!“ Diese Lösung, alles zu fühlen und nichts zu tun, verändert die spirituelle Arbeit mehr als alles, was in den letzten Jahrzehnten entdeckt wurde. Viele, die heute und in Zukunft von dieser Entdeckung profitieren, werden Eli Jaxon-Bear, der durch seine konsequente und bedingungslose Hingabe und Arbeit diese Lösung fand, dankbar sein. Auch wenn es schon vollständig in der Arbeit Ramana Maharshis und seines Schülers Poonjaji, des Lehrers von Eli, angelegt war, wurde die konkrete Bedeutung und Struktur des „Anhaltens“ oder „Stillseins“ doch erst mit diesen Entdeckungen Eli Jaxon-Bears wirklich deutlich und für die konkrete Arbeit unglaublich fruchtbar.

Das zweite Problem des spirituellen Weges ist sehr viel jünger und ein Problem der Satsang-Szene: Da ein Ich gar nicht existiere, sei auch niemand da, der etwas tun könne. Oder in der platteren Version: „Du brauchst nichts – oder: Du kannst nichts – tun, um aufzuwachen.“ Oder auch, man brauche gar nichts zu tun, alle Menschen seien ohnehin schon aufgewacht. Ja, wenn man denn in der Lage wäre, nichts zu tun! Denn es kommt dabei nicht auf das äußere, sondern auf das innere Tun an. Das zu beenden und alles loszulassen, das gerade ist ja angesichts der Macht der konditionierten Verhaltensweisen und quasi automatischen Abläufe von Gedanken und Mustern, von Gefühlen und Verhalten so schwer.

Deshalb sind Übungen des Geschehenlassens und Loslassens nötig. Übungen, die eigentlich Nicht-Übungen sind, weil eben niemand da ist, der sie macht. Es geht gerade darum, dass das Ich so sehr zurücktritt, dass das Leben und die inneren Prozesse geschehen können, ohne getan zu werden. Eben auch der Prozess des Aufwachens. Natürlich ist da kein Ich, das etwas tun kann. Da ist auch kein Ich, das Französisch lernt, Brücken baut oder Brot backt. Trotzdem gibt es Brücken und Brot. Aus der Tatsache, dass es kein Ich gibt, folgt nicht, dass nichts getan wird oder werden kann. Wie der große Laotse sagte: „Der Meister tut nichts, und dennoch bleibt nichts ungetan.“

Aber weiter: Für das Aufwachen kann nichts getan werden, es kommt im Gegenteil darauf an, nichts zu tun, also alles Tun zu beenden, um sich für die Gnade zu öffnen. Das Beenden des Tuns, das das Loslassen ermöglicht, ist ein bewusster und aktiver Prozess, ein Prozess des Anhaltens und Stillseins – etwas ganz anderes, als „in die Stille zu gehen“. Da ist niemand, der irgendwohin hingehen könnte. Gemeint ist damit immer, dass alle Gefühle und der innere Aufruhr einfach beiseitegeschoben werden, statt dies lösend zu durchleben. Mit der merkwürdigen Vorstellung, dass beiseitegestellte Gefühle nicht mehr stören würden.

Immer mehr Menschen wachen in meiner Arbeit auf. Praktisch in jedem Seminar geschieht es. Manchmal geschieht es so häufig, dass es mich fassungslos und sprachlos macht, staunend und ehrfürchtig. Vor einigen Monaten gab ich ein Retreat in Wien über fünf Tage mit gut 50 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. In diesen fünf Tagen wachten sechs (!) Menschen auf, sechs Menschen mit sehr verschiedenen Vorerfahrungen. Zwei waren erst kurz bei mir und waren vorher Jahrzehnte mit den verschiedensten spirituellen Lehren unterwegs gewesen; sie brauchten nur noch wenige, aber entscheidende Hinweise und eine energetische Unterstützung, die direkt auf das tatsächliche Aufwachen abzielt. Zwei weitere waren neu auf ihrem spirituellen Weg und völlig offen für meine Arbeit, wie ein Schwamm sogen sie alles Wichtige auf. Zwei weitere schließlich waren schon lange bei mir und profitierten von dem regelmäßigen Üben und dem roten Faden, den das Aufwachen durch regelmäßige Teilnahme an meinen Seminaren und Retreats für sie bekommen hatte. Auch wenn die Vorerfahrungen so verschieden sind, so stellt doch das Aufwachen im Wesentlichen denselben Prozess dar.

Über diesen Prozess des Aufwachens, die konkrete Form und Bedeutung der Hingabe und des Loslassens, das Fallen in die eigene innere Tiefe und den unendlichen Grund und die Transformation der Wahrnehmung, das Stillwerden des Verstandes und die grenzenlose Weite wird man kaum mehr und Klareres finden als in diesem Buch. Sowohl darüber, was wirklich zum Aufwachen führt, als auch worin die innere Struktur des Aufwachens besteht. Im 5. Kapitel ist der Prozess des Aufwachens am Beispiel von drei Schülerinnen und Schülern als wörtliche Interaktion zwischen mir als Lehrer und dem Schüler oder der Schülerin mit allen Anweisungen, Anleitungen, allen Rückmeldungen, allen Darstellungen des inneren Erlebens bis hin zur Beschreibung der Erfahrung der Unendlichkeit protokolliert. Diese Prozesse, die jeweils zwischen einer halben und einer ganzen Stunde dauerten, sind natürlich aufgrund der langen Pausen wesentlich schneller zu lesen. Diese empirischen und so detaillierten konkreten Berichte des Aufwachens im Augenblick des Aufwachens selbst sind einmalig.

Des Weiteren kommen zehn meiner aufgewachten Schülerinnen und Schüler selbst zu Wort. Sie beschreiben Monate oder Jahre nach dem Aufwachen die Veränderungen in ihrem Leben und Erleben. Dies ist auch Teil eines umfangreichen Forschungsprojektes, in dem wir genauer untersuchen, welche dauerhaften Veränderungen das Aufwachen bewirkt, wenn es sich vertieft.

Da das Aufwachen in meinen Seminaren und Retreats immer häufiger geschieht, nimmt auch die Arbeit nach dem Aufwachen einen immer größeren Raum ein. Es gibt mehr Erfahrungen mit der Vertiefung des Aufwachens und seinen Hindernissen. Was muss nach dem Aufwachen beachtet werden? Was bleibt gleich und was verändert sich in der inneren Arbeit? Welche Stolpersteine, welche Klippen, welche Prüfungen gibt es? Wodurch kann sich das Aufwachen im Leben ausweiten, integrieren und vertiefen? Nach dem Aufwachen beginnt die Realisation. Wenn jemand glaubt, mit dem Aufwachen sei es getan, dann wird es so gut wie sicher wieder versanden. Inzwischen wissen wir so viel über den Prozess nach dem Aufwachen, dass es konkrete Anleitungen gibt. Mehr darüber in Kapitel 5.

Das letzte Kapitel schließlich ist ein Interview über verschiedene kritische Fragen des Aufwachens, das der Journalist Christian Salvesen für dieses Buch mit mir geführt hat. Den Abschluss bildet ein Anhang mit den wichtigsten praktischen Übungen.

Dieses Buch ist gleich doppelt mit dem Benediktushof verbunden, dem spirituellen Zentrum von Willigis Jäger. Das Interview des 1. Kapitels führte Christian Salvesen mit mir auf dem Benediktushof, dabei gab es auch ein gemeinsames Interview mit Willigis Jäger und mir. Zum anderen ist das 2. Kapitel über die „7 Schritte zum Aufwachen“ die überarbeitete Fassung eines Vortrags, den ich auf einer Tagung im Benediktushof hielt. So freue ich mich, dass Willigis Jäger ein Vorwort zu meinem Buch geschrieben hat. Dafür vielen Dank.

Zum Abschluss möchte ich noch aus einem Brief zitieren, den mir eine Schülerin nach der Teilnahme an einem meiner Sommer-Retreats geschrieben hat:

„Ich kam wirklich wie von einem anderen Stern heim, und wenn ich auf das Retreat zurückschaute, dachte ich, ich spinne. Ich kann das, was mir widerfahren ist, nur ansatzweise einordnen, weiß nur, dass es sich sehr real angefühlt hat, dass ich ergriffen wurde von etwas Größerem, dass sich mein Herz in die Endlosigkeit ausweitete, dass mir mehrere Male große Gnade widerfuhr und dass ich in diesen 12 Tagen mehr erlebt und begriffen habe als in den über 30 Jahren spiritueller Suche und Praxis vorher. Deine Arbeit ist von einer Feinheit, Differenziertheit und Wirksamkeit, die alles, was mir bisher begegnet ist, bei weitem übersteigt. Auch kann ich bestätigen, dass gerade die Körperarbeit ganz wesentlich zum Prozess beigetragen hat.

Als ich in Berlin im Hauptbahnhof saß und alles betrachtete, was rund um mich herum geschah, sah ich, dass die Menschen auf dem Bahnsteig und in den Cafés genauso leer und unwirklich waren wie die Bäume in Alt-Rehse. Alles bewegte sich wie in einem Traum, und alles geschah in völliger Stille. Ich schaute nicht von außen darauf, sondern wie von innen heraus. Auch wurde mir bewusst, wie alle diese Menschen auf der Suche nach Glück sind und wie sie am falschen Ort suchen. Wenn Schmerz um mich herum war, nahm ich den ganz unmittelbar wahr. Ich war erschüttert und konnte es nicht fassen.

Dass alles, was mir in dem Retreat geschenkt worden ist, mit mir als A. N. rein gar nichts zu tun hatte, war mir sofort klar. Ich fand es daher gegen Ende hin immer schwieriger, von mir selber als „Ich“ zu denken. Die Identifizierung mit A. N. war weitgehend weg. Wenn ich um mich schaute, war es, als ob ein Filter von meinen Augen weg wäre, ich schaute direkt in die Welt mit einem viel weiteren Blickfeld – es war, als gäbe es einfach nur die Augen und das Wahrgenommene, ohne Filter. Besser kann ich das nicht beschreiben. Das Ich hatte sich verschoben in die Weite hin, und A. N. erschien mir als eine beliebige Geschichte, die an diesen bestimmten Körper gebunden war.

Jetzt, wo ich das schreibe, ist die Wahrnehmung nicht mehr so offen, aber ich weiß, dass ich das alles so erlebt habe. Und ich weiß auch, dass mein ganzes Sein weiterhin auf diesem Weg sich entfalten möchte, dass mein ganzes Wesen auf das Aufwachen hin ausgerichtet bleibt, dass das alles erst der Anfang ist.

Zum Schluss bleibt noch das Wichtigste: der Dank. Ohne die Gnade der Stille, die durch Dich wirkt, wäre mir nie so viel geschenkt worden. Auch wenn Du nichts dafür kannst (wie Du sagst), bist Du dennoch ein außergewöhnlicher und ganz wunderbarer Lehrer. Mein Herz strömt über vor Dankbarkeit und Freude.“

Es bleibt mir allen zu danken, die bei der Entstehung dieses Buchs mit vielen Anregungen und konkreter Unterstützung geholfen haben. Insbesondere danke ich Christine Brekenfeld und Tabea Reuter für die redaktionelle Bearbeitung des Manuskripts. Ohne sie wäre das Buch jetzt noch nicht fertig und sicherlich auch nicht so rund geworden. Bei Kathrin Lachner und Harachi B. Stein bedanke ich mich fürs Lektorat und Korrekturlesen. Danken möchte ich auch Christian Salvesen, sowohl für die beiden Interviews mit seinen intelligenten Fragen als auch für viele Anregungen zur Konzeption des Buches.

Und ich danke dem Verleger Joachim Kamphausen, der schon seit über 20 Jahren der wichtigste Pionier und Verleger für ernsthafte spirituelle Literatur im deutschsprachigen Raum ist, für seine Weitsicht und seinen Mut.

Für mich ist es selbstverständlich, dass mit der männlichen Form ebenso die weibliche gemeint ist und auch umgekehrt, trotzdem möchte ich dies hier nicht unerwähnt lassen.

Aufwachen im 21. Jahrhundert

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