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Schritt 2: Die Bereitwilligkeit, alles zu fühlen und zu erfahren.
ОглавлениеDer zweite Schritt heißt: Bereit sein, alles zu fühlen und zu erfahren, was auftaucht. Und das ist etwas, das in gewisser Hinsicht neu ist. Wir können bei der Meditation erleben, dass die Meditation und alle östlichen Wege die Gefahr beinhalten, dass ich nur der Zuschauer, nur der Beobachter meiner inneren Erfahrungen werde und mich auf diese Weise vom wirklichen Prozess des Erfahrens trenne. Es gibt immer wieder Menschen, die zehn Jahre meditieren (meistens die Vipassana-Meditation) und zu hundert Prozent in jedem Augenblick meditieren können. Aber diese Meditation hat bei ihnen dazu geführt, dass sie Gefühle nicht mehr wirklich fühlen, Erfahrung nicht mehr wirklich machen, sondern nur noch die Beobachter sind, nur noch außen stehen. Das macht nicht wirklich frei. In der Therapie, die sich im Westen etabliert hat, wird in der Weise mit Gefühlen gearbeitet, dass sie entweder innerlich durchgearbeitet, verstanden, erklärt oder gestalt- oder körpertherapeutisch nach außen ausgedrückt oder ausagiert werden. Osho hat gesagt: „Meditieren reicht nicht, Therapie reicht nicht, man soll beides machen.“ Ken Wilber sagt sinngemäß dasselbe. Aber das hat nicht funktioniert. Bei Osho waren mehr als hunderttausend Menschen, und es hat nicht funktioniert. Es kann nicht funktionieren. Aber es gibt einen anderen Weg der Befreiung, der weder das eine noch das andere tut. Er besteht darin, dass ich mich ganz in das Gefühl hineinfallen lasse, mich ganz von dem Gefühl erfassen lasse – und das wird dann richtig unangenehm, und zwar jedes Gefühl, nicht nur der Schmerz und die Angst, sondern auch die Freude wird unangenehm, wenn du dich vollkommen von ihr erfassen lässt, denn dann bekommst du Angst, dass du explodierst. Wohin mit dieser Angst? Viele sagen: „Oh, dann fange ich an zu tanzen.“ Aber das ist nur ein Ausagieren. Was passiert, wenn du diesem Gefühl von Freude, dieser ganzen Energie von Wut, wenn du die aushältst und innerlich in dir geschehen lässt? Dann zerreißt es dich. Dann bist du nicht mehr nur Beobachter: „Ah, meine Wut, die transformiere ich jetzt, daraus mache ich eine gute Energie.“ Damit hat das gar nichts zu tun, sondern es hat damit zu tun, die Wut zu fühlen und nichts, aber auch gar nichts zu machen. Ich habe das nicht selber erfunden. Johannes Tauler, ein Schüler von Meister Eckhart, der im 14. Jahrhundert lebte, formuliert es so: Man muss die Gefühle ausleiden, vor allem die Angst, die auftaucht, wenn es denn recht zugeht. Das heißt, wenn auf dem spirituellen Weg keine Angst hochkommt, dann geht es nicht mit rechten Dingen zu. In China, etwa im gleichen Jahrhundert, gab es offensichtlich ganz ähnliche Überlegungen. Sonst findet man das in dieser klaren, direkten Form nirgendwo.
Ich habe 20 Jahre lang Menschen mit Körpertherapie, Trancetherapie und Gestaltarbeit begleitet. Ich habe sie auf Kissen hauen lassen, sie aber auch nur sitzen und sprechen lassen, und ich habe tiefenpsychologisch gearbeitet, alle möglichen Varianten. Diese neue Art, mit Menschen zu arbeiten, erfordert eine innere Offenheit und das Ganze zielt nicht nur auf eine Persönlichkeitsveränderung hin, sondern auf das Aufwachen. Das gehört dazu. Wenn ich aufwachen will, habe ich keinen Grund, innerlich etwas zu verdrängen und abzuwehren. Dann öffnet sich sozusagen der ganze Deckel. Es ist eine ganz andere Haltung: bereit zu sein, alles zu fühlen, was da ist.
Mache noch mal die Augen zu4. Atme jetzt am besten mit einem hörbaren Seufzer aus – vielleicht zwei, drei Mal. Und jetzt wieder anhalten, zurücktreten, den Körper atmen lassen, am besten durch den offenen Mund, denn der Körper hat es dann leichter, den Atem zu verändern. Jetzt gibt es wieder bestimmte Körperempfindungen. Die Körperempfindungen sind unwichtig. Sie sind wie beim Autofahren: Ich höre nur, wenn die Benzinpumpe stottert, dann kümmere ich mich darum, damit es weiterfährt. Und dann kümmere ich mich um den Weg, nicht um den Motor oder die Zylinder. Solange sie gut laufen, dürfen sie im Hintergrund bleiben. Die Körperempfindungen sind ebenfalls nicht wichtig. Wichtig ist das, was du fühlst, jetzt in diesem Augenblick. Welche Stimmung ist da? Ist da Ruhe oder Unruhe? Und ein Gefühl kann ganz zart sein, ganz wenig. Dann stelle dir die Frage: „Wie reagiere ich auf das Gefühl? Gehe ich dagegen an, gehe ich davon weg oder renne ich da hin? Oder darf es einfach da sein und ich überlasse mich dem?“ Alle Gedanken, alle Erklärungsversuche sind ein Weggehen. Werde du zu dem Gefühl. Lass dich so sehr in das Gefühl hineinfallen, dass du zu dem Gefühl wirst. Dann kannst du entdecken: „Was macht das Gefühl mit mir?“ Dann die Augen wieder aufmachen.
Man kann, wenn man die Augen wieder aufmacht, weiter darauf achten, in der inneren Erfahrung zu bleiben und nicht völlig daraus wegzugehen. Wenn man entdeckt, wie man auf ein Gefühl reagiert, kann Veränderung geschehen. Veränderung bedeutet hierbei, dass ich aufhöre, auf die Gefühle zu reagieren – weder wegschieben noch dagegen angehen, weder weggehen noch hinrennen. Aufhören, auf die Gefühle zu reagieren. Dann falle ich durch verschiedene Schichten von Gefühlen. Es kommen zuerst die oberflächlichen Gefühle, dann kommen tiefere Gefühle, dann die existenziellen Gefühle von Angst, Schmerz, Verzweiflung und schließlich kommt der Abgrund von allein. Zwischendurch taucht immer wieder Angst vor dem Abgrund und der Auflösung auf, Angst vor dem Sterben. Eine kleine Anmerkung: Viele Menschen, spirituelle Menschen, haben Angst, sich mit Gefühlen zu identifizieren, aber das ist ein ganz großes Missverständnis. Wenn man von außen als Beobachter dasteht, dann denkt man: „Oh, das Gefühl ist da, damit identifiziere ich mich nicht.“ Doch das stimmt nicht. Selbst das Beobachten, das Wegschieben ist schon ein Tun, und dieses Tun ist bereits Identifizierung. Ich identifiziere mich nur dann nicht mit dem Gefühl, wenn ich nicht sage, dass es mein Gefühl ist und dass ich etwas mit ihm tun muss, sondern wenn ich in mir die Gefühle hochkommen und auftauchen lasse, mich ganz davon erfassen lasse. Dann ist da nur ein Gefühl und niemand, der sich identifiziert. Das ist ein absolut wichtiger Aspekt dieser Angelegenheit. Das ist der zweite Schritt: einen Weg zu finden zwischen der Meditation, der Gefahr der Dissoziation und der Therapie, bei der es darum geht, Gefühle auszudrücken und auszuagieren. Dazwischen einen Weg zu finden ist ein Meilenstein in der spirituellen Entwicklung. Ich denke, dass viele sagen: „Oh, das kenne ich, das mache ich auch so“ oder: „Mein Therapeut macht das auch so.“ Das wird zwar immer wieder so empfunden, ist aber das ein Irrtum. Man muss das wirklich tief und gründlich erforschen, um herauszufinden, dass es sich dabei um etwas Neues handelt. Das war der zweite Schritt.