Читать книгу Schuldenberatung und Schuldenprävention als Soziale Arbeit - Christoph Mattes - Страница 16
2.1 Schuldenberatung als Antwort auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse
ОглавлениеDass die Soziale Arbeit Hilfen bei Verschuldung anbietet, ist nicht nur dem sich langfristig abzeichnenden Trend der immer weiter ansteigenden Verschuldung privater Personen und Haushalte als Normalzustand geschuldet. Es ist in den Umbrüchen und Veränderungsprozessen der Industrialisierung begründet, die nicht nur neue Formen der Erwerbsarbeit etablierte, sondern in den neu entstandenen Formen des Zusammenlebens der Menschen zugleich auch neue Probleme und Unterstützungsbedarfe mit sich brachte. Ein von Beginn der Industrialisierung an spürbares Problem war das der Verschuldung der Arbeiter und deren Familien. (vgl. Schwarze 2019: 62). Nicht ohne Grund boten »Armenfürsorger*innen« in Wirtshäusern von Arbeitersiedlungen die erste Schuldenberatung an. Mit Hilfe von Haushaltsplänen und Haushaltsbüchern wurden die monatlichen Einnahmen und Ausgaben vor allem mit den Frauen aus den Arbeiterfamilien geplant. Grund war, dass der wöchentlich ausbezahlte Lohn nicht in den Familien der Arbeiter ankam, sondern vielfach zur Bezahlung der offenen Zechen in den Trinkstuben verwendet wurde (Sachße/Tennstedt 1986). Auch wenn dieses Bild der Konsument*innenverschuldung längst nicht mehr dem heutigen entspricht und die Lebenslage verschuldungsbetroffener Haushalte von modernen und komplexen Finanzdienstleistungen, juristischen Grundlagen der Rechtsverfolgung bis hin zu digitalen Bewertungsverfahren der Zahlungsfähigkeit (Scoring) geprägt ist, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die im Alltag der Privathaushalte auftretenden Schulden immer aktuelle gesellschaftliche Umbrüche abbilden und die Beratung von Menschen in Notsituationen stetig vor neue Herausforderungen stellt.
So führte der Übergang von der Vorratswirtschaft hin zur Dienstleistungsgesellschaft dazu, dass den Menschen nicht nur eine Vielzahl neuer Produkte und Dienstleistungen zur Konsumtion angeboten wurden. Es entstanden auch Finanzierungsmodelle und Verschuldungsmöglichkeiten, die aus diesem oft als Massenkonsum bezeichneten Phänomen der Arbeitsteilung erst das machte, was der Name eigentlich besagt. Die breite Masse der Gesellschaft, unabhängig von der aktuellen wirtschaftlichen Situation, findet Zugang zu diesen Konsummöglichkeiten. Der Konsum in einer Dienstleistungsgesellschaft stiftet nicht nur objektiven Nutzen, sondern vermittelt vielmehr auch Modernität und das Gefühl von Freiheit und Fortschritt.
Ein weiterer Unterschied zwischen der Vorratswirtschaft und einer Dienstleistungsgesellschaft ist der, dass Dienstleistungen situativ sind. Sie stiften nur gegenwärtig den gewünschten Nutzen und können nicht aufgespart werden. Waren die Menschen über Jahrhunderte hinweg gewohnt, durch gegenwärtigen Konsumverzicht und Sparverhalten zu einem späteren Zeitpunkt eine Belohnung zu bekommen, wurden plötzlich Konsumgüter und Dienstleistungen angeboten, die ihr Optimum an Nutzen dann stiften, wenn sie sofort verzehrt oder beansprucht werden. Aus dem tradierten Konsumverzicht und Belohnungsaufschub, mit dem Menschen versuchten Jahreszeiten, Naturkatastrophen oder Erkrankungen zu bewältigen, wurde ein höchst inflationäres und Krisenanfälliges Konstrukt der Konsum- und Dienstleistungsgesellschaft.
Schuldenberatung ist daher nicht nur ein Hilfeangebot für den Einzelfall. Sie ist Akteurin und Teil der Antwort auf diese gesellschaftlichen Veränderungsprozesse, indem sie im öffentlichen Auftrag die negativen Folgen der privaten Verschuldung bekämpft. Aus der Perspektive der Theorien sozialer Probleme heraus bedeutet dies, dass ein gesellschaftlicher Konsens besteht, dass überhöhte Verschuldungssituationen verhindert werden sollen (Groenemeyer 2010). Dies beruht auf der Annahme, dass es durch die objektiven finanziellen und subjektiv im Alltag anzutreffenden psychischen Belastungen durch Schulden zu weiteren Beeinträchtigungen der Betroffenen kommt. Schuldenberatung ist somit ein Bekenntnis einer Konsum- und Finanzdienstleistungsgesellschaft, dass individualisierte Risiken und Folgeprobleme von Verschuldung abgemildert und im sozialstaatlichen Verständnis bearbeitet werden müssen.
Schuldenberatung ist zugleich aber auch Akteurin in der sozialpolitischen Diskussion darüber, Verschuldung als soziales Problem zu thematisieren und fachlich zu rahmen, den jeweiligen Veränderungsbedarf zu definieren und Überzeugungsarbeit im Zusammenhang von politischen Entscheidungen zu leisten. Im Rahmen ihrer Fachverbände versteht sie sich als sozialpolitische Akteurin, zugleich aber auch als Anbieterin von Lösungen, um dem Problem der privaten Verschuldung entgegenzuwirken (vgl. Ebli 2003: 127).