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Die Frau drückte die gespreizten Finger der Linken auf das Papier. Das Buch wollte sich immer wieder schließen, als sei es ihm unangenehm, seine Geheimnisse zu offenbaren. Sie nahm es mit beiden Händen und drückte die beiden Hälften nach hinten. Jetzt blieb der dicke Wälzer aufgeschlagen auf dem Schreibtisch liegen.

Die Tabelle auf dem Bildschirm wartete geduldig darauf, mit Inhalten gefüllt zu werden. Mit der Mouse scrollte die Frau nach unten und überflog dabei Ziffern und Delikte.

Höhnisch flackerte ein Name, die Buchstaben tanzten verschwommen auf dem Bildschirm auf und ab: Thoralf Pfanns. Das ›T‹ und das ›P‹ ätzten purpurn die Netzhaut. Die Frau schloss die Augen. Ein orangefarbenes Nachbild der Buchstaben verblich nur zäh. Ihre Augäpfel brannten.

»Du kommst auch noch dran.« Stoßweise verließen die Worte den Mund. Es klang gehetzt. Bevor sie ihre Augen wieder öffnete, ließ die Frau den Zeigefinger über das Mouse-Rädchen rutschen, sodass die Tabelle nach oben gleiten und den Namen des Unholds verbergen konnte. Vielleicht wäre es hilfreich, für ›TP‹ gleich eine passende Bestrafung aus dem dicken Buch zu suchen. Möglicherweise würde das ihre Nerven beruhigen und eventuell gelänge es ihr so, den Namen des Schurken in Zukunft gelassener zu betrachten.

»Gar keine schlechte Idee, Frau Rächerin. Tun Sie das.«

Ein kurzer Blick in den Spiegel, ein unmerkliches Hochziehen des rechten Mundwinkels, ein kleines Lächeln. Die Frau atmete tief aus und ließ die Schultern herabsacken, ehe sie das Buch heranzog, den gesamten Papierblock mit der Linken hochnahm und die Seiten über den Daumen rutschen ließ. Zuerst zum ›P‹. Fände sich dort nichts, konnte man auch den Anfangsbuchstaben des Vornamens verwenden. Nemesis war nicht engstirnig.

Ihr Kopf neigte sich über das gelblich schimmernde Papier und sie begann zu lesen.

»Patiententötungen –

Die Tötung schwerstkranker Patienten gehöre zum Alltag in den Krankenhäusern der westlichen Welt [...] Von 275 Klinikmitarbeitern hatten 12 Prozent eigenmächtig und fünf Prozent in Kooperation mit Ärzten das Leben von Patienten direkt verkürzt. [...]

In einer vom STERN in Auftrag gegebenen Repräsentativerhebung des Berliner Instituts für Epidemiologische Forschung vermuteten 17 Prozent von 184 befragten Krankenhaus- und 40 Prozent von 282 niedergelassenen Ärzten, daß das Pflegepersonal in Kliniken und Heimen ›gelegentlich‹ beim Sterben nachhilft. In Deutschland ohnehin ein heikles Thema, wird dies zum kriminellen Akt, wenn es ohne Einverständnis oder ausdrücklichen Wunsch der Patienten geschieht. [...]«

Die Frau ließ ihren T Zeigefinger auf dem Wort ›Patienten‹ ruhen und betrachtete ihr Spiegelbild. Die Augenbrauen waren nachdenklich nach unten gezogen. Ihr Blick wanderte nach rechts und verlor sich in den kleinen Unebenheiten der Raufasertapete. Patienten ...

›TP‹ lag ihres Wissens nach derzeit nicht in irgendeinem der Krankenhäuser. Aber generell war es eine nette Idee, jemanden in einem Krankenhaus sterben zu lassen. Sie hob den Zeigefinger und las weiter.

»[...] Die 27jährige Krankenschwester Michaela R. wurde verhaftet und gestand im Verhör, zwischen 1984 und 1986 insgesamt sechs Schwerstkranke per Injektion getötet zu haben. Nach sorgfältigen Ermittlungen gegen den ›Todesengel von Wuppertal‹ und 28 Exhumierungen klagte die Staatsanwaltschaft die junge Frau an, in mindestens 17 Fällen den zumeist betagten, teilweise schwerkranken und frischoperierten Patienten kurz nach deren Verlegung auf die Intensivstation blutdrucksenkende Mittel, in mindestens fünf Fällen den herzlähmenden Wirkstoff Kaliumchlorid verabreicht zu haben. [...] «

Erneut sank der Zeigefinger herab und schabte über das Ende des Absatzes. Der Todesengel von Wuppertal war noch jung gewesen. Oberschwester Ursel dagegen war ein alter Drachen. Dafür hatte sie auch keine Patienten ins Jenseits befördert. Jedenfalls nicht nachweislich. Die alte Schreckschraube hatte ihre Strafe bekommen. Und es war eine für ihre eher marginalen Delikte angemessene Strafe gewesen. Schließlich hatte der Stationszerberus die gerade frisch am Blinddarm operierte Christine Pfanns damals nicht persönlich geschädigt. Die Oberschwester war stets und zu allen unhöflich, barsch und lieblos gewesen; so, als seien die Patienten lästige Simulanten. Am zweiten Tag nach der Operation war die Frau ein bisschen über die Gänge gehumpelt, um den Kreislauf in Schwung zu bringen und hatte dabei am Fenster stehend zufällig beobachtet, wie der Zerberus auf dem Parkplatz in einen älteren rostfarbenen Skoda eingestiegen war.

Die Frau lehnte sich zurück und schloss die Lider.

Vor ihrem inneren Auge huschte eine grauhaarige Gestalt im knöchellangen dunklen Mantel über einen Krankenhausparkplatz. In der Rechten hielt sie einen stabähnlichen Gegenstand. Über ihr schwangen die papiernen Blätter der Bäume leise tuschelnd hin und her. Die Gestalt hob das Kinn und schaute in den gleichförmig schwarzgrauen Himmel. Von oben betrachtet, wirkte ihr Gesicht wie eine fahle Scheibe.

Jetzt eilte das Wesen über den Parkplatz, dicht an den Autos vorbei. Ein leises Quietschen verklang in der Dunkelheit, dann verschwand die Schattenfrau in der Schwärze hinter dem quer abzweigenden Laubengang.

Nach einer Minute tauchte die Gestalt wieder auf. Mit forschen Schritten näherte sie sich erneut den parkenden Autos. Ihr Kopf zuckte nach rechts und links. Nur zwei nachtmüde Spatzen sahen von ihrem skelettfingrigen Zweig herab, wie die Schattenfrau auf der Fahrerseite des Skodas, an dem sie eben noch vorbeigelaufen war, stehenblieb und sich nach vorn beugte, um dann nach wenigen Sekunden endgültig davonzuhasten.

Die Frau ließ ihre Augenlider nach oben gleiten und betrachtete den schläfrigen Gesichtsausdruck im Spiegel gegenüber. Er glich einer Katze, die gerade einen Berg Schlagsahne verdrückt hatte. Jeder konnte einem Widersacher das Auto zerkratzen. Schöne tiefe Schrammen von ganz vorn bis nach hinten zum Kofferraum. Ein Schraubenzieher eignete sich sehr gut für diesen Zweck. Aber die Idee mit dem Sekundenkleber war einmalig. Das Spiegelgesicht nickte bestätigend. Es würde schier unmöglich sein, den Klebstoff wieder aus dem Türschloss zu entfernen. Das alles war kein Totalschaden, das Auto blieb trotzdem fahrbereit. Da jedoch der Skoda des Stationsdrachens weder eine Fernbedienung, noch eine Zentralverriegelung hatte, würde sie zum Ein- und Aussteigen die Beifahrerseite benutzen müssen. Eine lächerliche Vorstellung. Nicht schlimm, aber unangenehm. Und die Beseitigung der Lackschäden würde Geld kosten. Das war aber auch schon alles. Niemand war zu Schaden gekommen. Und damit war Oberschwester Ursel erledigt.

Die Frau hob die Hände in Brusthöhe und schlug die Handflächen einmal zusammen. Der Nächste bitte!

Ihr Blick verließ den Spiegel, senkte sich auf das geduldig wartende ›Lexikon merkwürdiger Todesarten‹ herab und glitt noch einmal über den Absatz mit den Patiententötungen.

Hätte man den trotz ihrer ruppigen Art achtbaren Ruf von Oberschwester Ursel durch falsche Behauptungen beeinträchtigen können?

Was würde geschehen, wenn man jemandem einfach etwas Unappetitliches oder Ungesetzliches unterstellte? Einen Verdacht zu wecken, war nicht strafbar. Und die Leute glaubten doch sowieso an das alte Sprichwort, dass es keinen Rauch ohne Feuer gäbe. Es musste nur zum Charakter des Delinquenten passen.

Die Frau hämmerte den Mittelfinger auf die Entertaste, sodass der Bildschirm zum Leben erwachte, fügte den aufgelisteten Maßnahmen unter der Tabelle einen weiteren Anstrich hinzu und trommelte das Wort ›Rufmord‹ in die Tasten. Die Liste der Strafen wuchs allmählich. Es würde einen Riesenspaß machen, die Sanktionen zuzuordnen.

Gleichmäßig rutschte das Dokument auf dem Bildschirm nach oben, bis die Spalte mit Herrn Pfanns wieder zum Vorschein kam. Seine Exfrau löste die Handfläche von der Mouse und erhob sich, um sich ein Glas Mineralwasser zu holen. Auf dem Rückweg versuchte sie, ihren wilden Zorn mit gemurmelten Floskeln zur Räson zu bringen. »Wir finden jetzt eine Strafe für dich ›TP‹, das verspreche ich dir. Und dann wird alles gleich viel leichter sein.«

Auf dem Monitor war der Bildschirmschoner zu sehen.

Christine Pfanns setzte sich, nahm einen Schluck und betrachtete das noch immer aufgeschlagene Buch. ›Patiententötungen‹ war nicht geeignet für den Unhold. Ihre Augen glitten noch einmal über die letzten Sätze und blieben an den Worten ›blutdrucksenkende Mittel‹ und ›herzlähmender Wirkstoff Kaliumchlorid‹ hängen. Das schienen Medikamente zu sein, die kaum Spuren hinterließen. Sie würde diese prophylaktisch in ihre Liste aufnehmen.

Und nun voran im Text. Nemesis hatte die schwierige Aufgabe, eine Strafe für ›TP‹ auszuwählen.

Rachegöttin

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