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Feucht hafteten die Finger der linken Hand an den Innenseiten der dünnen Handschuhe. Christine Pfanns krallte die Nägel der Rechten um den eingerollten Rand und zerrte ihn in Richtung Handgelenk. Mit einem Schnappen rutschte auch der kleine Finger in sein vorgesehenes Fach.

Die weißen Latexhände schoben den Brieföffner in die Schutzhülle der Grußkarte, schlitzen sie auf und beförderten den durchsichtigen Umschlag in den Müllbeutel. Es war an der Zeit, dass Gerlind Erbstedt die erste Nachricht von ihrem unbekannten Verehrer bekam. Heute war Mittwoch. Der Plan sah vor, dass sie am Freitag eine Rosenknospe und am Sonntag eine kleine, unschuldige Schachtel Pralinen in ihrem Briefkasten vorfinden würde. Immer ein Tag Abstand dazwischen. Das würde ihr Zeit zum Nachdenken geben. Für kommenden Dienstag hatte die Rachegöttin eine weitere süße Aufmerksamkeit vorgesehen. Dann würde das Geschenk jedoch nicht mehr ganz so harmlos sein.

Christine Pfanns klappte den Taschenspiegel auf und musterte ihr Gesicht. Reine Sanftmut. Zufrieden legte sie den Spiegel zurück.

Die Karte wickelte sich mit jedem Rattern der Gummiwalze etwas tiefer in die Maschine, um dann auf der Vorderseite wieder hervorzukriechen.

Wie gut, dass sie die alte Reiseschreibmaschine aus DDR-Zeiten aufgehoben hatte! Die Botschaft an Frau Erbstedt mit der Hand zu schreiben, kam aus nachvollziehbaren Gründen nicht in Frage. Graphologen konnten jede noch so verstellte Schrift zuordnen. Und auch der Drucker war nicht sicher. Zum einen musste man dazu den Text am Computer schreiben, und dies hinterließ an irgendeiner Stelle im System Spuren, zum anderen hatte die Frau irgendwo gelesen, dass jeder Drucker mit hellgelber Farbe seine ID-Nummer in winzigen Buchstaben auf den Rand jeder Seite druckte. Für den Laien unsichtbar, für jeden Kriminologen, der davon Ahnung hatte, eine Möglichkeit, das Schreiben zum Verfasser oder wenigstens zum Besitzer des Druckers zurückzuverfolgen.

Und das wollen wir doch nicht.

Auch wenn es bloß ein harmloser Verehrerbrief war: Die Frau wollte alles richtig machen. Begleitet von rhythmischem Tackern erschienen die Buchstaben.

Christine Pfanns hatte lange an den Sätzen gefeilt. Es klang schwülstig, aber für Gerlind Erbstedt würde es genau das Richtige sein. Mochte sie dies noch als dummen Scherz abtun, die nachfolgende Rose und die Pralinen würden sie umstimmen.

Fertig. Mit der Rechten drehte sie an der Walze, während die Linke vorsichtig an dem festen Papier zog.

Schöne Frau,

fast jeden Morgen

sehe ich Sie von fern.

Sie wirken stolz und

gleichzeitig unnahbar.

Ihr Anblick erfreut

mein Herz.

Ein Verehrer

Die kleinen ›a‹ waren ein bisschen hochgerutscht. Auch anhand einer Schreibmaschinentype konnte man die Maschine identifizieren, aber die Frau hatte nicht vor, die alte ›Erika‹ nach diesem Brief lange zu behalten. Sie dachte noch ein paar Sekunden über den Text nach, fand ihn genau ausreichend antiquiert für die altbackene Nachbarin, klappte die Karte zusammen und schob sie in den Umschlag.

Jetzt bloß nicht anlecken, Christine. Speichel enthält Erbmaterial.

Es war Zeit.

Die Frau trat ans Fenster und blickte zu ihrem Auto hinunter, das im schmutzig gelben Schein der Straßenlampen fast schwarz wirkte. In den großen Pfützen spiegelte sich das Licht der Laternen und die Straße glänzte dunkelgrau. Genau das richtige Wetter, um eine kleine Ausfahrt zu machen. Außer ein paar bemitleidenswerten Hundebesitzern würde sich an diesem Mittwochabend niemand freiwillig draußen aufhalten.

Auf dem Weg nach unten strichen die Latexfinger zärtlich über den Briefumschlag. Gerlind Erbstedt würde die Karte ihres unbekannten Verehrers morgen Vormittag finden. Gedämpft klapperte der Deckel des Briefkastens. Christine Pfanns lächelte und zog die Handschuhe von den Fingern. Die konnte sie unterwegs entsorgen.

Eifrig schnurrte der Fiesta die Reichenbacher Straße hinaus. Nemesis war auf der Suche nach einem sicheren Ort. Es gab zahlreiche leer stehende Häuser und verfallende Gehöfte in der Umgebung. Abgelegene Bruchbuden, die monatelang von keiner Menschenseele beachtet wurden. Die Strafen, die die Schicksalsgöttin bestimmten Inquisiten zugedacht hatte, würden Abgeschiedenheit erfordern und zeitaufwendig sein. Es war nicht hinnehmbar, dass Eindringlinge die Andacht störten.

Heute wollte die Frau in Richtung Westen fahren. Schon von fern glühte das rote Auge der Ampel an der von den Einheimischen ›nackter Arsch‹ genannten Hügelkuppe. Christine Pfanns drosselte die Geschwindigkeit und verscheuchte die Stimmen in ihrem Kopf. Zwickaus Ampel-Connection schien überall die Finger im Spiel zu haben.

An der Kreuzung in Lichtentanne hielt sie kurz an und entschied sich dann, weiter geradeaus zu fahren. Vergammelte Anwesen gab es genug in Sachsen. Nemesis stellte jedoch bestimmte Mindestanforderungen. So sollte das Haus möglichst allein stehen, um hellhörige Nachbarn auszuschließen, und die Anfahrt musste unbeobachtet möglich sein.

Trotz der Abgeschiedenheit durfte das Objekt jedoch gleichzeitig auch kein reizvoller Anziehungspunkt für Liebespärchen oder nichtsnutzige Teenager auf der Suche nach Abenteuern sein. Die an den Hauptverkehrsstraßen gelegenen Bruchbuden waren ungeeignet.

Aus dem grauen Nebelschleier irrlichterten in der Ferne die verwaschenen Umrisse der Burg Schönfels hervor und sie hielt am Straßenrand und sah hinüber in die Dunkelheit.

Als Kind hatte Christine Pfanns Ausflüge hierher unternommen. Heutzutage las sie manchmal in der Freien Presse von wechselnden Ausstellungen auf der Burg. Sie schloss die Augen, lehnte dann den Hinterkopf an die Nackenstütze und versuchte, aus den Tiefen ihres Gedächtnisses Bilder von den Innenräumen der Burg hervorzuholen.

Altertümliche Küchengeräte, viel zu kleine Holzbetten, blau kariertes Tuch, rußbeschmierte Wände. Ein Wandelgang an einer meterdicken Natursteinmauer. Die feuchte Toilette, in der es beißend nach Ammoniak gerochen hatte. Wie von einem Magnesiumblitz erhellt, traten Gegenstände hervor und verblassten sofort wieder. Hirschgeweihe und missgebildet aussehende Köpfe unbekannter Tiere an einer gekalkten Wand. In einem Raum Bilder, historische Dokumente und ein Modell der Burganlage in gläsernen Käfigen. An der Wand darüber eisenschwarze Werkzeuge.

Die Frau versuchte, das vage Erinnerungsbild schärfer zu stellen, aber das Einzige, was sie klar erkennen konnte, war eine mächtige, schwarze Stachelkugel, die mit einer kurzen Kette an einem Holzgriff befestigt war.

Ein Morgenstern.

Ruckartig öffnete sie die Augen und stierte durch die sich über die Windschutzscheibe schlängelnden Rinnsale zur Burg hinüber. Gab es da drüben noch mehr solche Geräte? Hinter der Stirn der Frau begann es zu pulsieren, so als dehnten sich die Blutgefäße aus und zögen sich wieder zusammen. Sie versuchte, ihre Gedanken tiefer in das Gebäude hineinkriechen zu lassen, aber die Erinnerung förderte keine zusätzlichen Einzelheiten zutage.

Du wirst dich morgen über die Öffnungszeiten informieren und dann die Burg besuchen. Kindheitserlebnisse auffrischen.

Das Wort Kindheitserlebnisse verstärkte das ruckartige Hämmern hinter der Stirn. Christine Pfanns drehte die Heizung auf volle Leistung und machte das Licht wieder an. Genug getrödelt. Der Fiesta blinkte und fuhr in Richtung Schönfels davon.

Die Bremslichter des vor ihr fahrenden Autos leuchteten mehrmals hintereinander auf und verloschen wieder. In der alles verschluckenden Finsternis sah es aus, als zwinkere ein rundäugiger Drache dem kleinen Ford zu, ihm zu folgen. Das rot glühende Blinzeln spiegelte sich rhythmisch in der regennassen Fahrbahn. Die Straße schlängelte sich in Spitzkehren einen Berg hinab. Die Drachenaugen schwenkten nach rechts und verschwanden.

Christine Pfanns starrte, den Fuß auf der Bremse, in die Nacht, bemüht, die rechte Fahrbahnhälfte nicht zu verlassen. Die Dunkelheit verfälschte vieles, aber hier war sie noch nie in ihrem Leben gewesen.

Der rechte Fuß trat das Pedal stärker durch, als die Scheinwerfer das verhuschte Gelb eines Ortseingangsschildes anstrahlten und der Fiesta kroch im Schritttempo vorbei.

Mühlwand.

Definitiv. Hier war Christine Pfanns noch nie in ihrem Leben vorbeigekommen. Mitten im Wald, umgeben von dicht bewachsenen Hügeln, hätte dies das Ende der Welt sein können und doch war der Furcht einflößende Ort höchstens dreißig Kilometer von Zwickau entfernt.

Das Auto fuhr durch die Nacht, bog dann auf einen schotterbestreuten Parkplatz ein und hielt an. Die Lichter erloschen und nach einer kurzen Pause öffnete sich die Fahrertür, eine dunkel gekleidete Frau stieg aus, sah sich um, schlug die Tür ins Schloss und tappte, ohne abzuschließen, durch den Regen in die Nacht.

Rachegöttin

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