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Sie würden alle dafür büßen.

Einer nach dem anderen, schön der Reihe nach. Es hatte keine Eile. Für jeden würde es eine passende Methode geben. In dem Buch waren genau einhundertfünfundneunzig verschiedene Möglichkeiten, alphabetisch geordnet, beschrieben. Nicht alle eigneten sich für ihre Zwecke, aber für die ersten Kandidaten auf der Liste würde es allemal reichen.

Die Frau lächelte und hob das Kinn, während ihr Blick aus dem Fenster schweifte und sich im Steingrau des Himmels zu den Mauerseglern gesellte.

Rache war süß.

Nur ehrliche Vergebung bringe Seelenfrieden, hatte die Psychotherapeutin gepredigt. Nur, wenn man im Innersten bereit war, Nachsicht zu üben, den anderen von seiner Schuld freizusprechen, wurde man selbst erlöst. Groll auf andere lege sich auf die eigene Seele. Der Geist könne nicht zwischen Zorn auf andere und Zorn auf sich selbst unterscheiden, Verbitterung war Verbitterung.

Hanebüchener Blödsinn war das. Alle predigten Nachsicht, loslassen können, Verzeihung üben. Die Frau war sich nicht im Klaren darüber, ob die Ärzte bewusst logen, oder tatsächlich an ihr eigenes Geschwafel glaubten. Was, wenn man einem von ihnen kräftig ins Gesicht schlüge? Hielten sie dann, um Gnade heischend, die andere Gesichtshälfte hin?

Wieder lächelte sie. So ein Versuch würde den Weißkitteln schnell den Widersinn solch abgedroschener Phrasen vor Augen führen.

Auge um Auge, Zahn um Zahn. Dem Gegner auch die andere Wange anzubieten, war Humbug. Irgendwann lag man dann nachts in seinem Bett und knirschte mit den Zähnen, weil die Sanftmut einen um den Verstand gebracht hatte.

Wer hatte sie von ihren Sünden losgesprochen? Vergaben andere ihr?

Ihr Blick löste sich von der mächtigen Kastanie, deren letzte Blätter braun und schrumpelig an den verdorrten Ästen hingen, schweifte ins Zimmer zurück und fing sich in dem Spiegel hinter dem Schreibtisch. Erst gestern hatte sie ihn dort aufgehängt. Es war wichtig, sich stets zu kontrollieren. Die Fratze des glühenden Jähzorns musste, sobald sie hervortreten wollte, gebändigt werden. Rage führte zu unbedachten Handlungen. Sie ließ die Schultern herabsinken. Das sanfte Lächeln war aus ihrem Gesicht verschwunden.

In der griechischen Mythologie existierten außer Zeus und Hera viele Götter. Nyx, Thanatos, Aidos, Themis, Hybris oder Nemesis. Die Frau verehrte Nemesis, die Göttin des ›gerechten Zorns‹, Tochter der Nacht Nyx und des Okeanos und Schwester von Thanatos.

Thanatos, der Gott des Todes, war ihr großer Bruder. Das passte alles wunderbar zusammen. RACHE und TOD.

Die Rachegöttin Nemesis bestrafte vor allem die menschliche Selbstüberschätzung und die Missachtung von Themis – der griechischen Göttin des Rechts und der Sittlichkeit. Hatte sie nicht genau das Gleiche vor? Der Blick der Frau glitt zum Spiegel.

Gleichmütig betrachtete Nemesis ihr Antlitz. Um den Mund lag ein Zug milder Güte. Die zart violetten Verfärbungen unter den Augen waren verschwunden. Seit die Frau sich zur Vendetta entschieden hatte, hatte sie jede Nacht durchgeschlafen, tief und fest, wie ein behütetes Kind. Das war der eindeutige Beweis, dass Rachegelüste das Gemüt nicht belasteten, sondern befreiten.

All diese nutzlosen Therapien. All die Jahre. Und was hatte es ihr gebracht? Nichts als schlaflose Nächte, schmerzende Muskeln und einen nervösen Magen. Aber jetzt war Schluss damit. Die Frau wollte nicht ihr restliches Leben damit verbringen, vertanen Chancen nachzutrauern. Jetzt war es Zeit, zu handeln.

Die Augen verließen das Spiegelgesicht und schwenkten zur Schreibtischplatte. Der Schutzumschlag des Buches war an den Rändern schon eingerissen. Auf dem Titelbild kippte eine Person über eine Mauer. Nur die Unterschenkel und die Schuhe waren zu sehen. Rot schrie die Schrift den Betrachter an: ›Lexikon merkwürdiger Todesarten‹.

Sie legte die linke Handfläche auf den Wälzer. Der Einband war glatt und kühl. Im Spiegel wirkte das Ganze wie eine Szene aus einem amerikanischen Gerichtssaal, bei der ein Zeuge auf die Bibel schwor.

Lange hatte sie nachgedacht und nun war es soweit.

Die Frau schob das dicke Buch beiseite und lehnte sich zurück. Die Spiegelgestalt überkreuzte die Arme und zwinkerte ihrem Ebenbild zu. Morgen würden die konkreten Planungen beginnen.

Einer nach dem anderen.

Sie würden büßen.

Rachegöttin

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