Читать книгу Rachegöttin - Claudia Puhlfürst - Страница 17

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Der Blick der Frau glitt von oben nach unten über die meist grellbunt bedruckten Postkarten, während ihre oberen Schneidezähne die nach innen gezogene Unterlippe benagten.

Der Zeigefinger hakte sich zwischen die Metallstreben und gab dem drehbaren Ständer einen kleinen Stoß, sodass er leise quietschend nach links rotierte. Zum Geburtstag, zum Namenstag, zur bestandenen Prüfung, dem Jubilar, dem frischgebackenen Elternpaar – alle Varianten waren vertreten.

Christine Pfanns jedoch suchte nach einer neutralen Karte. ›Herzliches Beileid‹ wäre zwar ein kleiner Fingerzeig auf das, was Frau Erbstedt demnächst bevorstand, aber die Nachbarin würde die Ironie nicht erkennen. Der Plan sah vor, sie schrittweise von der Existenz eines heimlichen Verehrers zu überzeugen.

Leise schnarrend kam der Kartenständer zum Stehen. Direkt vor Nemesis’ Augen funkelte ein rubinrotes Herz. Sie trat einen halben Schritt zurück und ließ die weißen Lichtreflexe der durchsichtigen Schutzhülle in ihr Bewusstsein dringen. Dann nahmen ihre Finger die in Folie eingeschweißte Karte heraus und öffneten sie. Keine Inschrift, sehr gut. Das erste Utensil wanderte in den Einkaufswagen.

Hinter der Frau begann ein Kind zu kreischen und sie drehte sich auf dem Absatz um. Das widerwärtige Balg hockte im Klappsitz des fahrbaren Drahtkäfigs und strampelte mit den Beinen. Der mit Schokoladenresten verschmierte Mund war weit aufgerissen. Ein draller Finger zeigte anklagend auf das Regal mit den Süßigkeiten. Grell vermischte sich das wütende Heulen mit der Sonderangebote anpreisenden Lautsprecherstimme.

Christine Pfanns schob den Unterkiefer nach vorn und bedachte die Mutter mit einem strafenden Blick. Manche Eltern hatten ihre Brut einfach nicht im Griff. Im Vorübergehen ließ sie ihre rechte Handfläche gegen das Bein der Kreischmaschine prallen. Der Schreihals bemerkte es nicht einmal. Seine Aufmerksamkeit galt uneingeschränkt der Mutter, die noch immer zaudernd vor den Schokoriegeln stand.

Wenige Meter weiter wartete das Regal mit den Pralinenschachteln auf zuckersüchtige Kunden. Das Geschrei endete abrupt und Christine Pfanns wusste, dass das Balg seinen Willen durchgesetzt hatte. Das dominante Tier zwingt dem Unterlegenen seinen Willen auf. Sie grinste der vorbeifahrenden Mutter zu und betrachtete dann die Konfektparade.

Etwas mit Weinbrand. Die Füllung musste flüssig sein und durfte nicht zu süß schmecken. Sie dachte kurz an die Schilderung in ihrer Rachebibel. Ein likörgefüllter Schokoladenpilz hatte Anni Hamann den Garaus gemacht.

Nemesis würde erst einmal mit verschiedenen Pralinensorten üben. Das Insektenvertilgungsmittel hatte sie auch noch nicht ausgewählt.

Mehrere kleine Schachteln nahmen übereinander im Einkaufswagen Platz. Drei bräunliche und zwei rosafarbene. Alle waren in Klarsichtfolie verpackt.

Sie hatte ihre Handschuhe nicht dabei. Es hätte sicher auch seltsam gewirkt, wenn die Frau diese in dem Geschäft anbehalten hätte. Sämtliche benötigten Artikel mussten demnach eine zusätzliche Schutzhülle besitzen, sonst durften sie nicht in das Körbchen.

»Meine kleinen Spaßmacher!« Den merkwürdigen Blick, den der vorbeieilende Mann der mit ihren Einkäufen redenden Frau zuwarf, bemerkte diese nicht.

Christine Pfanns klappte ihr Portemonnaie auf und betrachtete nachdenklich die leicht nach links geneigten Buchstaben auf dem gelben Klebezettel. Chirurgenhandschuhe gab es in der Haushaltsabteilung. Eine Spritze war schon schwieriger zu besorgen. In diesen riesigen Einkaufstempeln existierte immer weniger Personal, das man nach speziellen Artikeln fragen konnte. Was nicht immer ein Nachteil sein musste. Der Käuferstrom war hoch, kein Verkäufer würde sich an persönliche Merkmale der Kunden erinnern. Sie würde selbst nach einer Einwegspritze Ausschau halten, Zeit war reichlich vorhanden.

Noch einmal rutschten ihre Augen über ihre Notizen. E 605. In Klammern dahinter: Parathion. Nemesis würde alle Pflanzenschutzmittel danach durchsehen.

Süßlich zäh tropfte die Musik aus den Lautsprechern auf die vorbeieilenden Menschen. Alle schienen in Eile zu sein. Sie wollten ihre Einkäufe erledigen und dann schnell in ihre schön geheizten Wohnungen zurückfahren.

Gemächlich schob die Frau ihren Wagen durch die Gänge. Das linke vordere Rad klackte an jeder Fuge der Bodenfliesen. Sie bog nach rechts ab.

In der Gartenabteilung war es still. Wer hatte auch schon Lust, sich im November um Pflanzen und Saatgut zu kümmern. Hinter den ziegelfarbenen Tontöpfen wehten feine Spinnweben im Luftzug des vorbeiratternden Wagens. Der Blick der Frau war auf das weiter vorn befindliche Regal mit den Schädlingsbekämpfungsmitteln gerichtet, als ein silbernes Blitzen in den Augenwinkeln sie anhalten ließ.

Der Stapel chromfarbener Gartenstühle war ein wenig schief. Sanft strichen ihre Finger über die Beinrohre. Das Material fühlte sich wie Metall an. Der Stuhl hatte eine durchbrochene Lehne und schön geschwungene Armlehnen.

... erfand kein Geringerer als Thomas Alva Edison ... wurde 1890 zum ersten Mal im Staat New York eingesetzt und im Laufe der Jahre immer weiter entwickelt und perfektioniert . . .

Metallene Rohre am Rücken, an den Armen und Beinen. Die Sitzmöbel sahen sehr stabil aus ... Als der erste Stromstoß durch seinen Körper fuhr, zuckten seine Beine und rissen den Stuhl mit den Fußfesseln auseinander . . . »Welch schöner Stuhl ... welch schöner Stuhl ... anmutig cool ... anmutig cool ...« Leise summte die Frau den Satz immer wieder vor sich hin. Ihr Kopf erfand ständig Melodien zu den Gedanken. Sie lächelte mild. Noch immer streichelten die Finger über die glatte, kühle Oberfläche, ehe ihre Beine sich wieder in Richtung der Spraydosen und Flaschen in Bewegung setzten.

Christine Pfanns rieb mit dem Geschirrtuch über die Handflächen, trocknete dann auch die Zwischenräume zwischen den Fingern gründlich ab, hängte das Leinentuch zurück und griff nach den Gummihandschuhen. Auf der obersten Pralinenschachtel glänzte die berühmte Piemontkirsche durch die Klarsichthülle. Schokoladenbraun auf rotem Hintergrund. Die Chirurgenfinger stapelten eine Reihe Fläschchen und Sprühdosen nebeneinander auf die Arbeitsfläche. Beim Anblick der Schädlingsbekämpfungsmittel kam die Verblüffung wieder aus ihrem Kämmerchen hervor, in das sie sich nach dem Besuch im Supermarkt zurückgezogen hatte. Zuerst war es bloße Verwunderung gewesen, dann Unglaube, der sich schließlich in Unmut ob der Schwierigkeit der Auswahl verwandelt hatte. Die auf dem Zettel notierten Begriffe ›E 605‹ und ›Parathion‹ fanden sich auf keiner der Verpackungen. Es wäre ja auch zu schön gewesen.

Ungeschickt tasteten die Handschuhfinger nach dem winzigen Metalltrichter, der eigentlich zum Abfüllen von Parfüm in Flakons gedacht war. Man konnte auch die Flüssigkeit aus Sprayflaschen in Gläschen abfüllen, wenn man oft genug in den Trichter sprühte. Die Frau hatte dies in der Parfümerie beobachtet, wenn sie dort keine Pröbchen für den gewünschten Duft hatten.

Sie lächelte ihr sanftes Lächeln. Manches Wissen erschien einem nutzlos, bis man es irgendwann doch brauchte.

Ihre Augen glitten über die Insektizid-Parade. Die Suche nach dem begehrten Parathion hatte fast eine halbe Stunde gedauert. Schließlich war sogar eine der wenigen Verkäuferinnen auf die scheinbar ratlose Kundin aufmerksam geworden, herbeigeschlurft und hatte mit unwillig verzogenem Mund ihre Standardfrage abgespult: ›Kann ich helfen?‹

Auf die Erklärung hin, man habe ihr geraten, dass gegen hartnäckige Schildläuse nur E 605 helfe, gab die Dame im maigrünen Kittel mit gelangweilter Stimme zum Besten, dass dieser Wirkstoff seit dem Jahr 2002 nicht mehr zugelassen sei, weil es zahlreiche Fälle von Vergiftungen und Tötungsdelikten damit gegeben habe.

Als die Verkäuferin die enttäuschte Miene der Frau sah, verwandelte sich ihre Mimik in ein Mal-sehn-was-ich-dennoch-für-Sie-tun-kann-Gesicht, sie griff in das Regal und begann zu erklären und zu zeigen.

Christine Pfanns grinste, stellte den kleinen Trichter umgedreht auf die Arbeitsplatte und nahm die größte der drei Sprayflaschen in die Hand.

Die Kundin hatte während der Erklärungsversuche der Verkäuferin entdeckt, dass sie wahrscheinlich noch weitere Schädlinge in ihrem großräumigen Haus hatte, darunter gefräßige Ameisen und böse Spinnmilben. Man benötigte demnach verschiedene Mittel. Wie es mit der Giftigkeit für Haustiere bestellt sei?

Die grün Bekittelte hatte erläutert und gezeigt. Schließlich war die zufriedene Kundin mit diversen Insektiziden davongezogen.

Christine Pfanns stellte die Spraydose zurück, begab sich ins Bad und studierte ihr Gesicht im weißen Licht der Neonröhre über dem Spiegel. Es wirkte stoisch. Genau richtig. Eine Rächerin durfte sich nie von ihren Emotionen hinreißen lassen. Es wird nun Zeit, ein paar Vorbereitungen zu treffen. Die rechte Hand, in weißes Latex gewandet, winkte ihr zum Abschied zu. Beginne mit den Vorarbeiten!

Wirkstoff: Dimethoat. Jeden unnötigen Kontakt mit dem Mittel vermeiden. Missbrauch kann zu Gesundheitsschäden führen. Für Kinder unzugänglich aufbewahren. Das Mittel wird als bienengefährlich eingestuft. Das Mittel ist giftig für Fische und Fischnährtiere.

Genau das Richtige. Die Frau nahm den kleinen Trichter in die linke Hand. Was für Bienen und Fische giftig war, würde für den Menschen zumindest nicht unschädlich sein. Es stand ja auch gar nicht in Nemesis’ Plan, dass die verblödete Gerlind Erbstedt das Zeitliche segnen sollte. Es reichte, wenn es ihr ein bisschen schlecht ging. Hirntot war sie ja schon.

Christine Pfanns grinste und sprühte dann das Schildlausspray einmal in die Luft. Es stank. Was stank, würde sicher auch widerlich schmecken. Das bedeutete, derjenige, der das Konfekt aß, würde schnell merken, dass damit etwas nicht stimmte. Mit Flüssigkeit gefüllte Süßigkeiten jedoch verschwanden immer ganz im Mund. Abbeißen konnte man schlecht, wenn man nicht riskieren wollte, dass der Likör herauslief.

Die Weinbrandpralinen waren für ihre Zwecke am besten geeignet. Weinbrand war von Natur aus eher scharf als süß. Sie würde auch nicht alle Pralinen in der Schachtel füllen. Ein Exemplar pro Packung reichte vollkommen. So konnte der Betroffene – falls er dazu hinterher noch in der Lage war – zwar die restliche Schachtel zur Überprüfung weiterleiten, man würde aber nichts finden.

Und es war auch nicht anzunehmen, dass gleich der erste Genuss ein schädlicher sein würde. So wurde der Delinquent in trügerischer Sicherheit gewiegt.

Nemesis lächelte jetzt stärker. Die Kanten ihrer oberen Schneidezähne waren zu sehen, während die stählerne Spitze der Spritze sich in die glatte Unterseite des ›Edlen Tropfens‹ bohrte. Zuerst einen Teil des Kognaks heraus, dann die neue Füllung hinein. Mit heißem Messer den Schokoladenboden wieder glätten, fertig. Ging ganz leicht.

Der Racheengel würde mehrere Packungen vorbereiten, man konnte nie wissen, ob nicht später noch weitere gebraucht wurden.

Irgendeine Möglichkeit, die Schachteln am Ende wieder mit Klarsichtfolie zu überziehen, würde ihr in den nächsten Tagen schon einfallen. Christine Pfanns Zunge kam hervor, leckte über die Lippen und blieb als rosa Spitze zwischen den Zähnen stecken.

Zuerst würde Gerlind Erbstedt die Karte erhalten. Ein, zwei Tage später Blumen, rote Rosen. Und danach die Pralinen. Vielleicht anfangs nur eine kleine Schachtel. Ohne besondere Inhaltsstoffe. Dann die ›Edlen Tropfen‹. Edle Tropfen. Das war genau die richtige Bezeichnung dafür. Die Zunge schlüpfte zurück.

Die Nachbarin würde schon bald ihre gerechte Strafe erhalten. In der Zwischenzeit konnten die Planungen für die nächsten Delinquenten weitergehen. Das Wichtigste war, bald einen sicheren Ort für die Bestrafungen zu finden. Kleine Hitzefinger kribbelten über ihr Rückgrat.

Sie brauchte eine Wirkungsstätte, die vor neugierigen Augen und zufälligen Besuchern geschützt war, wo die Bestraften eine Weile – wenn es sein musste, auch mehrere Tage – bleiben konnten, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, und ohne ausbrechen zu können. Gleichzeitig musste dieser Ort so sicher sein, dass Nemesis’ Anwesenheit nicht ständig erforderlich war.

Das Spiegelgesicht schaute grüblerisch drein. Denk darüber gründlich nach, Christine Pfanns. Dies ist ein wichtiger, vielleicht der entscheidende Teil des Plans.

Was hatte Katja Doubek aus mittelalterlichen Schriften zitiert:

»[...] Der Orth, wo die Tortur vorgenommen wird, soll abgelegen seyn, da die Leuthe nicht hinkommen oder zulauffen können, aus Neugierigkeit zu hören, was die Gefangenen bekennen [...] damit der Inquisiten Geschrey und Winseley den darumherum wohnenden Leuthen und Nachbarn nicht beschwer- und verdrießlich sey. [...]«

So war es damals schon gewesen und so würde es auch dieses Mal sein. Und endlich hatte die Rachegöttin auch den zur Inquisition passenden Begriff gefunden: Inquisiten. Die Frau sprach das Wort in vier Silben laut aus und lauschte dem Klang. Es hörte sich genau richtig an.

Rachegöttin

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