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Doreen drängelte sich an dem dicken Mann und seiner nicht minder fülligen Frau vorbei, ging bis dicht an die gläserne Begrenzung und klammerte sich an der Haltestange fest. Unter ihr tummelten sich die Menschen. Mit einem sanften Zischen schlossen sich die Türen und der Aufzug summte nach unten. Die scheinbar sinnlos durcheinanderwimmelnden Leute glitten näher. Einige waren vor den Fahrstuhltüren stehen geblieben und warteten nun, dass die Kabine in ihrer Etage ankam.

Ein unmerklicher Ruck und der Aufzug hielt. Der Dicke zwängte sich durch die wartende Menge, seine Frau watschelte hinterdrein. Doreen folgte den beiden in gebührendem Abstand. Die Leute vor dem Fahrstuhl schubsten und schoben, noch ehe sie ihn verlassen hatte, als gelte es, einen Preis zu gewinnen.

»Zuerst aussteigen, dann einsteigen. Das lernt doch jeder normale Mensch schon als Kind.« Keiner hörte Doreens dahingezischte Worte. Sie wiederholte ›normaler Mensch‹ etwas lauter, mit Betonung auf normal, aber niemand fühlte sich angesprochen. Sie hasste Gedränge. Es war ihr zutiefst zuwider, von Fremden berührt oder gar angerempelt zu werden. Manchmal ließ es sich nicht umgehen. Heute war so ein Tag.

In den Zwickau-Arcaden herrschte das übliche Freitagnachmittagsgetümmel. Die Zwickauer liebten ihre Arcaden. Genau wie die Bewohner der umliegenden Ortschaften. Alles unter einem Dach. Man konnte nett flanieren, ein bisschen einkaufen und anschließend noch ein Eis oder eine Pizza oder etwas Chinesisches essen, ohne auch nur einen Fuß auf die umliegenden Straßen gesetzt zu haben. Es waren die gleichen Geschäfte wie in allen Einkaufszentren. Das, was der Durchschnittsbürger gewöhnt war. Nur keine Experimente.

Doreen zog die Handtasche von der Schulter vor den Bauch und riss an dem widerspenstigen Reißverschluss. Sie musste nicht auf ihren Merkzettel schauen, um zu wissen was darauf stand, tat es aber trotzdem.

Brötchen, frisches Obst und ein paar Kosmetikartikel. Der Drogerie-Discounter war im Untergeschoss. Und diese Dinge waren auch nicht das Problem. Das Problem war ein Geschenk für ihre Mutter.

Doreen blieb stehen und starrte auf die Glaskrüge mit dem frisch gepressten Saft neben der Schüssel Obstsalat. Jedes Jahr das gleiche Theater. Es wäre doch ein Leichtes gewesen, im Vorfeld etwas Schönes für Mama auszusuchen. Ein wirklich passendes Geschenk, etwas, das die Mutter sich schon lange wünschte. Sie schaffte es nie.

»Möchten Sie was?« Die Verkäuferin hatte den Hals wie eine wachsame Eidechse nach vorn gereckt. Nun wartete sie mit schief gelegtem Kopf auf eine Antwort.

»Einen Exotic-Saft, bitte.« Doreen hatte nichts gewollt, aber ein paar Vitamine konnten nicht schaden. Der Winter stand vor der Tür. Die Echse nickte und griff nach einem Krug mit gelb-orangem Inhalt. Zäh floss der Saft in das schmale, hohe Glas.

»Ich nehme noch einen Becher Krautsalat mit.« Noch mehr Vitamine. Der Saft hinterließ säuerliche Spuren an den Zungenrändern.

»Bitte sehr.« Die Tüte wurde fein säuberlich verknotet und dann über die Theke gereicht. Im Gegenzug nahm die Verkäuferin das Geld entgegen und zwinkerte bestätigend.

»Danke.« Doreen stellte das Glas zurück, drehte sich um und spazierte in Richtung Marienstraßen-Ausgang davon. Sie würde jetzt systematisch alle Geschäfte abklappern und nach etwas Passendem Ausschau halten. Es gab genug zu kaufen. Irgendetwas würde sie schon finden.

Am Eingang des Schreibwarenladens wetteiferten grellbunte Karten um die Aufmerksamkeit der vorüberschlendernden Menschen. Mit abwesendem Gesichtsausdruck gab Doreen dem Ständer einen Stoß, ließ die farbige Vielfalt an sich vorüberdrehen und suchte nach dem Wort ›Geburtstag‹. Gab es etwas mit Blümchen oder mit putzigen Kätzchen? Das Gestell trudelte aus, als sie merkte, dass sie nichts mitbekommen hatte. Noch eine Runde Kartenkarussell.

Auf dem Rückweg zu den Rolltreppen blieb ihr linker Fuß an einer Unebenheit hängen. Sie machte einen Ausfallschritt, stieß mit dem rechten Bein an den Halbstiefel eines Teenagers und verlor die Balance. Im Fallen nahm sie noch die pinkfarbene Häkeltasche des Mädchens wahr, dann landete Doreen mit nach vorn gestreckten Händen auf dem Boden. Ihre Handballen prallten den Bruchteil einer Sekunde nach den Knien auf den glatten Untergrund. Direkt vor ihrem Kopf landete der Beutel mit dem Krautsalat.

Wie ein ungelenker Vierfüßer hockte die dunkelhaarige Frau neben der Rolltreppe und fühlte, wie die Röte ihr Gesicht erhitzte. Ganz toll, Doreen Graichen. Ein bühnenreifer Auftritt war das. Die Leute um sie herum schienen alle im gleichen Moment die Luft angehalten zu haben. Als die Kakophonie aus Geräuschen und Gemurmel wieder einsetzte, schien sie lauter zu sein als vorher.

Steh auf. Mach dich nicht noch lächerlicher, als du es schon bist. Erhebe dich und verschwinde ganz schnell.

Etwas zerrte an ihrem Ärmel. Dazu brabbelte eine Reibeisenstimme. »Hoppla. Haben Sie sich wehgetan?« Das Muster des Fußbodens brannte sich in Doreens Netzhaut, während sie versuchte, aufzustehen. Das Zerren am Ärmel verwandelte sich in einen Klammergriff um ihren Oberarm. »Na, kommen Sie.«

Doreen streckte die Hand nach dem Krautsalat aus, rappelte sich auf, klopfte die Knie ab und ließ den Blick erst danach von ihren Hosenbeinen zur Seite und nach oben schweifen.

Zu der Reibeisenstimme gehörte ein langer, dürrer Mann mit spitzer Nase. Er lächelte sie an. Das Weiße in seinen Augen war gelb. Gelbsucht. Oder etwas Ähnliches. Doreen sah grellrote Schlagzeilen vor ihren Augen flackern: Zwickauer Detektivin wirft sich vor die Füße eines Leberkranken.

Der ›Leberkranke‹ hielt noch immer ihren Arm umklammert. Doreen bewegte unwillig die Schultern und er ließ los. »Alles in Ordnung?« Als sie nickte, lächelte er breiter und machte dann einen Schritt zur Seite. Neben ihr huschten die Leute vorbei, als wäre nichts geschehen. Eine Frau war gestolpert, hingefallen und dann wieder aufgestanden. Nichts von Belang, nichts, weswegen man seinen Einkaufsbummel unterbrechen musste.

Doreen quetschte ein »Danke« heraus, schob den Riemen der Handtasche auf die Schulter, drehte sich um und prüfte im Davongehen die Blicke der Leute. Niemand schien von ihr Notiz zu nehmen.

Das schien nicht ihr Tag zu sein. Sie verbannte den unangenehmen Zwischenfall in eine fest verschlossene Schublade ihres Gehirns und drehte den Schlüssel zweimal herum. Nur die sanfte Röte in ihrem Gesicht erinnerte noch an den Sturz. Aber das zarte Purpur würde bald verschwinden.

Aus der Parfümerie quoll eine fast sichtbare Wolke synthetischer Duftkompositionen heraus und mischte sich mit den süßscharfen Gerüchen des daneben befindlichen China-Imbisses.

Doreen blieb stehen und begutachtete die riesigen Flakons im Schaufenster, während sie darüber nachdachte, ob der Wunsch, der Mutter eine Körperpflege oder ein Parfüm zu schenken, nicht eher ihr eigenes Bedürfnis ausdrückte. Schenkte man nicht immer Dinge, die einem selbst gefielen? Und bestand die Kunst des Schenkens nicht gerade darin, etwas zu finden, das dem anderen eine Freude machte?

»Guten Tag, schöne Frau!«

Die tiefe Männerstimme in ihrem Rücken ließ Doreens Nackenmuskeln verkrampfen. Mit hochgezogenen Schultern starrte sie auf die beiden Gestalten in der spiegelnden Glasscheibe. Eine große, schlanke Frau mit hellen Hosen und Pferdeschwanz. Der Mann dicht hinter ihr überragte sie um einiges. Er trug ein braunes Tweedjackett. Und er lächelte. Das war im unscharfen Spiegelbild nicht zu sehen, aber Doreen hatte es an der Stimme gehört.

Die Härchen auf ihren Unterarmen hatten sich aufgerichtet, ihr törichtes Herz blähte sich wie ein überdehnter Ballon in der Brust und fiel wieder zusammen, während sie noch immer wie eine Marmorstatue vor dem Geschäft stand und von blumigen Gerüchen umfächelt wurde.

Sie konnte nicht ewig mit glasigen Augen in diese Parfümerie hineinstarren. Irgendwann würde sie sich umdrehen und ihm guten Tag sagen müssen.

Doreen atmete tief aus, ließ die Schultern dabei heruntersacken, wandte sich mit einem Ruck von der Scheibe ab und streckte den rechten Arm aus. »Guten Tag, Paul. Wir haben uns ja ewig nicht gesehen!« Es klang ein bisschen schrill. Seine Handfläche fühlte sich warm und weich an. Erst jetzt wagte sie einen schnellen Blick in sein Gesicht. Die Fältchen um seine Augen schienen sich tiefer eingekerbt zu haben.

Paul behielt ihre Hand einen Augenblick länger als nötig in seiner und Doreen spürte sofort das altvertraute Lodern des glühenden Feuerrades, das durch ihren Bauch rollte.

Verschwand das denn nie? Dies schien ganz entschieden nicht ihr Tag zu sein. Sie hatte Paul jetzt – Doreen rechnete kurz nach, während sie ihre Rechte aus seinem Griff löste – fast zwei Jahre nicht gesehen. Nichts von ihm gehört, nichts von ihm gelesen. Kein Anruf, keine Karte, keine E-Mail. Er war verschwunden. Aus Zwickau, aus Sachsen, aus ihrem Leben. Ein Journalist, der Reiseberichte schrieb. Paul war ständig auf Achse. Paul hatte kein Interesse mehr an Doreen. Sonst hätte er sich doch zwischendurch bei ihr gemeldet.

»Wie geht es dir?«

Doreen musste nicht hinschauen, um zu wissen, dass die Ellenbogen seines altmodischen Tweedjacketts mit braunem Wildleder abgesetzt waren, das schon reichlich abgewetzt wirkte.

»Gut, alles bestens. Und dir?« Bedeutungslose Floskeln.

»Auch. Ich bin viel unterwegs.« Wieder wanderten seine Mundwinkel nach oben. Doreen dachte darüber nach, dass sie hier standen und wie zwei flüchtige Bekannte müßigen Small-Talk machten und registrierte gleichzeitig die kleine Stelle an seinem Mund, die er beim Rasieren vergessen hatte.

»Und jetzt bist du wieder in Zwickau?«

»Die nächsten Wochen ja.« Seine Hand berührte ihren Unterarm. »Komm, trinken wir einen Kaffee zusammen.«

Die Hand schien ein Loch in ihren Ärmel zu brennen. Doreen sah nach unten und bemerkte an ihren Knien zwei dunkle Flecken. Sie mochte nicht mit Paul Kaffee trinken. Schon gar nicht hier in den Arcaden, in aller Öffentlichkeit, auf dem Präsentierteller, wo jeder jeden begaffen konnte. Ihr Mund öffnete sich zu einer Antwort. »Gern. Gehen wir nach unten?«

Paul nickte und ging in Richtung Rolltreppe voran. »Ich habe übrigens von euch gelesen. Detektivbüro Löwe – ihr habt euch in mehreren Vermisstenfällen engagiert.« Doreen betrachtete seinen breiten Rücken. Sie konnte ihn grinsen hören. Der Handlauf der Rolltreppe glitt schneller nach unten als die Stufen. So zog es den Arm nach vorn, bis man loslassen und weiter oben anfassen musste.

Das Eiscafé befand sich genau in der Mitte des Einkaufszentrums, vor dem hinauf- und herunterschwebenden Aufzug. Und auch hier wimmelte es von Leuten. Paul hielt nach einem Tisch am Rand Ausschau, zog einen Stuhl hervor und wartete höflich, bis seine Begleiterin sich gesetzt hatte, ehe er selbst Platz nahm.

Doreen zog die Beine unter den Sitz und sah sich um. Am Nachbartisch saß eine grimmig dreinschauende junge Mutter, neben sich einen Kinderwagen, in dem ein kleiner Junge mit schokoladenverschmiertem Gesicht saß. Auf dem Sitz daneben hockte ein etwa dreijähriges Mädchen und löffelte Eis aus einer flachen blauen Glasschale. Das bezopfte Kind erinnerte Doreen an den Fall Lamm. Norbert und sie hatten Material von Herrn Lamms Tochter für einen Vaterschaftstest besorgen müssen. Genau hier, in diesem Café, hatte sie ein paar feuerrote Haare des Mädchens ergattert.

»Doreen?« Pauls Stimme holte sie aus ihren Erinnerungen. »Kaffee oder Cappuccino?«

»Ich nehme einen Cappuccino.«

»Fein. Ich hätte gern ein Kännchen Kaffee.« Die Bedienung nickte und verschwand. Er sah ihr noch einen Moment hinterher, dann kehrte sein Blick zu Doreen zurück. »Bearbeitet ihr eigentlich außer Vermisstenfällen auch andere Sachen?«

»Wir machen alles: Ehebruch, Ladendiebstahl, Beschattung von Schwarzarbeitern. In die Fälle mit den vermissten Kindern sind wir eher zufällig hineingeraten.« Wir machen alles. Das hörte sich an, als seien sie und Norbert die Übeltäter.

»Dann könnte ich vielleicht eure Hilfe gebrauchen.« Paul atmete mit einem kleinen Schnaufen aus und legte den Kopf kurz in den Nacken. Doreen dachte zum dritten Mal, dass dies nicht ihr Tag war.

Rachegöttin

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