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»Einen Unbekannten hätten wir hier schon mal.« Norbert hatte den Kopf dicht über die Fingerabdrücke gebeugt und verglich sie miteinander. In der erhobenen Rechten hielt er einen roten Fineliner. Mit der Lupe in der linken Hand, einen wachsamen Ausdruck im geröteten Bartgesicht, erinnerte er an ein Abbild von Dr. Watson.

»So?«

»Das ist jedenfalls nicht der Daumen von Herrn Freiberger.« Er blickte auf. »Wir bräuchten so ein Vergleichssystem, wie es die Polizei hat. Du scannst den Abdruck ein und der Computer nimmt dir die Arbeit ab.«

»Das wäre nicht schlecht.« Doreen holte tief Luft.

»Aber leider muss ich alles selbst machen.« Er grinste kurz, senkte dann die Lupe wieder und bewegte sie zwischen den Kästchen in dem Papier und dem Klebeband mit den Abdrücken von Vorhängeschloss und Kellertür hin und her. »Ich bin gespannt, ob Herr Freiberger Fingerabdrücke von den verdächtigen Hausbewohnern besorgen kann. Dann könnte ich diesen hier damit vergleichen.«

Sie werden nicht übereinstimmen, mein Lieber. Doreen zog den Ordner mit der Aufschrift ›Oktober‹ heraus und klappte ihn auf.

»Du hast also keine Lust, mit mir noch ein Gläschen Wein zu trinken?« Norberts Unterlippe bewegte sich nach vorn.

»Heute nicht, sei nicht böse.« Doreen neigte den Kopf zur Seite und lächelte kurz. Der Motor summte im Leerlauf. Von Zeit zu Zeit kratzten die Wischerblätter über die Frontscheibe und klärten das blind gewordene Glas.

»Na gut. Schade. Was hältst du davon, wenn wir mal wieder ins Kino gingen?«

»Ins Kino.«

»Wäre mal wieder an der Zeit, oder?« Norbert war sich nicht ganz sicher, aber es hatte den Anschein gehabt, als sei Doreen bei seiner Frage leicht zusammengezuckt. Und wieso war sie so wortkarg?

»Das können wir machen. So, ich muss jetzt aber wirklich los.« Sie drehte das linke Handgelenk, um auf die Uhr zu schauen und suchte dann in der Handtasche nach dem Schlüssel. »Es ist schon fast achtzehn Uhr. Danke fürs Heimfahren.«

»Das ist doch selbstverständlich, Doro. Bei dem Wetter kann ich dich doch nicht zu Fuß gehen lassen!« Die Frage danach, ob sie über ein neues Auto nachgedacht hatte, stellte Norbert nicht. Sie würde es ihm sagen, wenn sie eine Entscheidung getroffen hatte.

»Also dann. Morgen um acht im Büro?« Er nickte und sie stieß ihre Tür nach außen, klappte den Schirm auf und stieg aus. An der Haustür hob sie kurz die Linke, schloss auf und verschwand in der Dunkelheit des Flurs.

Betrübt betrachtete Norbert die Fassade des ehemaligen ›Levantes‹ auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Jetzt ›zierte‹ ein grelles Schild, das einer amerikanischen Flagge glich, den Eingang. Und sie waren seitdem nie wieder in dem Lokal gewesen. Auf der Bahnhofstraße hatten auch einige neue Kneipen eröffnet. Vielleicht sollte er Doreen vorschlagen, diese an den nächsten Abenden eine nach der anderen zu erkunden. Zu Recherchezwecken natürlich. Das konnte sie ihm schlecht abschlagen. Und sie würde ja nicht jeden Abend etwas vorhaben. Was ihn wieder auf die Idee zurückbrachte, warum sie heute keine Zeit für ihn und ein Glas Rotwein gehabt hatte. Irgendwie war in ihm der Eindruck entstanden, Doreen habe es eilig, nach Hause zu kommen. Weil sie schon eine Verabredung hatte?

Wieder schoben sich die Lippen nach vorn. Das war paranoid. Kaum tauchte dieser ›Exlover‹ wieder auf, wallte Eifersucht wie ein altvertrautes Seebeben in Norbert auf und legte sich als feiner Sprühnebel über all seine Gedanken. Doreen war einfach müde, basta.

Er schloss kurz die Augen und rief ihr Bild zurück. Wie sie im Halbdunkel des Autos neben ihm gesessen hatte. Die Wangen leicht gerötet, das Kinn erhoben. So sah keine erschöpfte Frau aus.

Hör jetzt auf damit, Norbert Löwe. Scher dich heim, hau dir ein großes Steak in die Pfanne, trink ein, zwei Flaschen Bier dazu und denk nicht mehr an Paul Freiberger.

Der Detektiv musterte seine Augen im Rückspiegel. Die Pupillen waren weit geöffnet, sodass der blaue Ring darum kaum zu sehen war. Dann legte er den Gang ein, blinkte und fuhr los.

»Mensch, Mensch, mach doch das Getöse ein bisschen leiser.« Bemüht, sein Schnaufen unter Kontrolle zu bekommen, tappte Norbert die Stufen nach oben. Der junge Bursche über ihm liebte es, hämmernde Technorhythmen so laut zu hören, dass es anderen das Trommelfell zerfetzte. Und er würde es nie lernen, dass man Rücksicht auf die Hausbewohner zu nehmen hatte. Sonst war Gerald Unger ganz in Ordnung, aber der Krawall nervte. Norbert dachte einen Augenblick lang darüber nach, noch eine Treppe höher zu kraxeln, um bei dem Burschen zu klingeln und ihn darauf hinzuweisen, entschied sich dann aber dagegen. In seiner Küche war der Lärm fast nicht zu hören.

Die Flurlampe leuchtete einen Sekundenbruchteil lang auf, gab dann ein knisterndes Geräusch von sich, puffte und erlosch. »Auch das noch!« Norbert balancierte die rote Stehleiter vom Arbeitszimmer in den Flur, baute sie unter der Lampe auf, ging zum Lichtschalter, stellte auf ›Aus‹ und begann vorsichtig, die Stufen zu erklimmen. Das dumpfe Wummern der Musik über ihm war verstummt. Der Junge war schon in Ordnung. Er grüßte immer nett und benahm sich anständig.

Und einen Ziegenbart trug er auch nicht.

Norbert stieg fünf Stufen abwärts.

Ganz

Eins

im

Zwei

Gegensatz

Drei

zu

Vier

Nils

Unten.

Die neue Lampe hinterließ hinter seinen geschlossenen Lidern einen grellen Kreis. Er stellte die zusammengeklappte Leiter wieder hinter den Vorhang im Arbeitszimmer und näherte sich zögernd seinem Schreibtisch. Nils, sein missratener Sohn. Vielleicht war es auch gar nicht sein Sohn.

Die oberste Schublade kam mit einem schabenden Geräusch herausgefahren. Norbert legte die Hand auf die Papiere und betrachtete die Falten auf seinem Handrücken. An ihnen sah man das Alter am meisten. Die Haut wurde auch fleckig. Fast fünfzig Jahre Leben hatten Spuren hinterlassen.

Unter einem Stapel unsortierter Zettel lag der blassblaue Umschlag. Vorsichtig schob er den Daumen unter den Brief und hob ihn heraus. Die Buchstaben des Absenders verschwammen. Norbert zwinkerte mehrmals und schluckte dann. Das Bild wurde wieder scharf: Gentest. org. Die Oberfläche des Papiers sah abgegriffen aus, so, als sei die Nachricht wieder und wieder zur Hand genommen worden. Im Plexiglaswürfel auf dem Schreibtisch wartete der scharfkantige Brieföffner. Der Umschlag zitterte ein kleines bisschen zwischen den Fingern. Norbert drehte das Schreiben um und betrachtete die Lasche, ließ dann seinen Blick erneut über die Klinge des Brieföffners gleiten, warf den Brief hastig in die Schublade zurück und schob diese mit einem Ruck zu. Seit Wochen lag das Schreiben ungeöffnet im Schreibtisch. Seit Wochen hätte er Gewissheit haben können, ob Nils tatsächlich sein Sohn war.

Jetzt war ihm nach einem schönen kalten Bier zumute. Er tappte in die Küche. Wie lange willst du dich noch vor der Wahrheit drücken, alter Sack?

»Ruhe da drin.« Die dahingemurmelten Worte wurden vom Regen, der heftig gegen die Scheiben trommelte, übertönt. Norbert nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank, öffnete es, setzte die Flasche an die Lippen und ließ es in seinen Mund gluckern.

Ihm war nach Gesellschaft zumute. Belanglose Gespräche, Rotwein, Knoblauchduft, Hintergrundgemurmel. Doreens nachtschwarze Augen, in denen sich die Kerzenflamme spiegelte.

Vielleicht ließ sie sich doch noch zu einem gemeinsamen Abendessen überreden. Auf dem Weg in den Flur musterte er sein Spiegelbild. Der Bauch war kleiner geworden, aber an seiner Größe konnte er nichts ändern und so schlank wie ›andere‹ Männer würde Norbert Löwe wahrscheinlich nie werden.

Und dieser beleibte Mann würde sich jetzt aufraffen, zu seiner Kollegin fahren, und sie fragen, ob sie nicht doch Lust auf einen kurzen Besuch beim Italiener gleich um die Ecke hatte. Norbert sah zur Uhr. Drei viertel sieben. Sie mussten ja nicht bis Mitternacht dort hocken.

Wenn er ihr anbot, dafür morgen ausnahmsweise eine Stunde später zu beginnen, würde Doreen sicher nicht ablehnen.

Er zwinkerte dem dunkelblauen Murmelauge im Spiegel zu, warf die Jacke über die Schultern, hängte den Schirm – den großen, unter den bequem zwei Leute passten – über den Unterarm und ging hinaus.

Rachegöttin

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