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Kapitel 9

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Die Sonnenstrahlen fielen ungehindert ins Zimmer. Wohlig streckte sich Antonia unter der leichten Decke. Sie tastete neben sich und schlug enttäuscht die Augen auf, als ihre Hand ins Leere griff. In Leos Armen hatte sie sich geborgen gefühlt. Sie wünschte, er wäre nicht einfach gegangen. Es wäre schön gewesen, neben ihm zu erwachen. Für ihn bedeutete das aber vermutlich zu viel Nähe. Allerdings gestand sie sich ein, wie ungewohnt auch für sie diese neue Situation war. Mehr als hin und wieder ein kurzes Intermezzo für eine Nacht hatte sie in den letzten Jahren nicht gewollt. Nun war sie im Begriff, sich wieder ganz auf einen Mann einzulassen. Noch vor einiger Zeit hätte ihr dieser Gedanke überhaupt nicht behagt. Plötzlich sah sie jedoch keinen Grund mehr zur Beunruhigung. Sie freute sich darauf, Leo besser kennenzulernen, empfand es als spannend, immer wieder etwas Neues an ihm zu entdecken.

Während sie sich noch einmal streckte, betrat Leo das Schlafzimmer. Erstaunt richtete sie sich etwas auf.

„Du bist noch da?“

Wortlos stellte er das vollbeladene Tablett auf der kleinen Kommode neben dem Bett ab.

„Anscheinend ist dir das nicht recht!?“

„Ich habe befürchtet, dass du dich klammheimlich davongemacht hast.“

„Einen Moment lang habe ich tatsächlich daran gedacht“, gab er zu. „Aber du hast dich so vertrauensvoll an mich geschmiegt, dass ich es nicht fertig gebracht habe, einfach zu verschwinden.“

„Dein Glück“, sagte sie, ehe sie das Tablett in Augenschein nahm. „Welchen Kühlschrank hast du denn geplündert?“ Diese leckere Auswahl stammte mit Sicherheit nicht aus ihren Vorräten.

„Deine Gäste haben nicht allzu viel übriggelassen“, meinte er und setzte sich auf die Bettkante. „Deshalb musste ich für Nachschub aus meiner Küche sorgen. Nur der Kaffee stammt von dir. Allerdings scheint deine Kaffeemaschine etwas überfordert zu sein. Die macht Geräusche - da wird einem Angst und Bange.“

„Die hat schon länger eine Macke. Sowie ich finanziell wieder ein bisschen auf die Beine komme, muss ich mir unbedingt eine neue zulegen.“

„Dafür funktioniert deine Spülmaschine einwandfrei.“

„Hast du die etwa auch getestet?“

„Sie läuft bereits mit der zweiten Ladung. – Und mit Quincy war ich auch schon draußen.“

Kopfschüttelnd lehnte sich Antonia zurück, wobei sie Leo wie ein Wesen von einem anderen Stern anschaute.

„Bist du eigentlich real? Nach meiner Erfahrung gibt es solche Männer überhaupt nicht.“

„Was ist daran so ungewöhnlich? Als Frühaufsteher nutze ich die Zeit einfach nur sinnvoll, bis die Dame meines Herzens aus ihren Träumen erwacht.“

„Normalerweise bin ich auch kein Langschläfer“, erwiderte sie schuldbewusst. „Aber die letzte Woche hatte es in sich. Dann noch die Party gestern ... Und der krönende Abschluss durch einen leidenschaftlichen Mann ... Ich habe geschlafen wie ein Baby. Es tut mir Leid, dass du dadurch so viel Arbeit ...“

„Ganz uneigennützig war das nun auch nicht“, unterbrach er sie lächelnd. „Wenn die Haushaltspflichten zeitig erledigt sind, kann man umso eher an die Freizeitgestaltung denken.“

„Ach, so ist das“, ging sie darauf ein. „Dann lass mal hören, wie deine Pläne aussehen.“

„Immer vorausgesetzt, dass du einverstanden bist, könnten wir erst mal frühstücken“, schlug er vor. „Wenn wir dann irgendwann aus den Federn finden ...“

Antonias Lachen unterbrach ihn.

„Wir? Damit meinst du wohl mich. Du siehst jedenfalls so aus, als hättest du sogar schon deine Morgentoilette hinter dir.“

„Stimmt“, gab er zu. „Das war eigentlich eine blöde Idee.“ Wie selbstverständlich zog er sein gelbes Polohemd über den Kopf, streifte rasch Schuhe und Jeans ab, bevor er Anstalten machte, zu Antonia unter die Decke zu schlüpfen.

„Halt! In Socken kommt mir kein Mann ins Bett. So was Unerotisches wirkt total abturnend auf mich.“

„Ich dachte, wir wollen zusammen frühstücken“, tat Leo verwundert, während er nicht nur seine Socken, sondern auch die Boxershorts ablegte. „Dein Appetit scheint offenbar ganz anderer Natur zu sein.“

„Wundert dich das etwa?“ Einladend hob sie die Bettdecke, worauf er sich zu ihr legte. „Wir Mediziner sind es gewohnt, eine Diagnose mehrfach zu überprüfen. Ich bin mir ganz und gar nicht sicher, ob ich die Ereignisse der letzten Nacht richtig gedeutet habe.“

Wie unabsichtlich rückte er näher.

„Falls du noch irgendwelche Risiken und Nebenwirkungen überprüfen musst, stelle ich mich selbstverständlich in den Dienst der Wissenschaft.“

„Ein Austausch des Probanden käme momentan ohnehin nicht infrage“, behauptete sie und ließ ihre Hand unter der Decke verschwinden. Sanft strich sie mit den Fingerspitzen über seine Brust, tastete über feste Muskeln bis zu seinen Lenden. Leo lag ganz still und genoss ihre zärtlichen Berührungen.

Als er die Hände nach ihr ausstreckte, schüttelte sie leicht den Kopf, erlaubte ihm nicht, sie zu liebkosen. Sie selbst nahm sich viel Zeit, seinen Körper mit Fingern und Lippen zu erkunden. Er duftete nach einem herben Duschgel – frisch und männlich. Es bereitete ihr große Lust, diese glatte gepflegte Haut zu kosten. Leo schien das nicht anders zu empfinden. Sein leises Stöhnen verriet, wie sehr ihn ihr sinnliches Spiel erregte.

„Antonia ...“, murmelte er heiser. „Ich halte das nicht länger aus ...“

Sofort zog sie sich etwas zurück.

„Soll ich aufhören?“

„Nein!“ Er versuchte, sie bei den Schultern zu fassen, aber sie entwand sich ihm und knabberte an seinen Brustspitzen.

„Du machst mich wahnsinnig!“, stöhnte er. „Bitte, Antonia ...“

„Soll ich dich erlösen? Sag mir, was du möchtest.“

„Komm zu mir“, bat er und streckte abermals die Hände nach ihr aus. „Ich will dich mehr als alles auf der Welt.“

Geschmeidig rutschte sie höher und schob sich über ihn.

Sie verschränkte die Finger mit seinen und ihre Lippen senkten sich auf seinen Mund, während sie die Hüften hob, um ihn in sich aufzunehmen. Ihre Körper passten so perfekt zusammen, als seien sie füreinander geschaffen. Sie bewegten sich in völligem Einklang. Antonia bestimmte das Tempo: langsam und genussvoll. Sekundenlang steigerte sie den Rhythmus, um dann wieder ruhiger und sanfter zu werden. Dieses Wechselspiel aus purer Leidenschaft und sinnlicher Behutsamkeit brachte Leo an den Rand seiner Beherrschung. Mit einem tiefen Stöhnen bäumte er sich auf und riss sie mit sich auf den Gipfel der Lust. Atemlos schlang er die Arme um ihren erhitzten Körper und hielt sie fest, bis ihr Beben allmählich verebbte.

„Oh, mein Gott ...“, murmelte er aufgewühlt. „Du bist wie eine Naturgewalt.“

„Du bist auch nicht schlecht“, erwiderte sie leise lächelnd und zauste ihm das noch feuchte Haar. „Wenn man bedenkt, dass du erst kürzlich behauptet hast, dass du so was nicht brauchst.“

„Soweit ich mich erinnere, sprachen wir damals über unverbindlichen Sex“, korrigierte er sie mit ernster Miene. „Das hier ist etwas völlig anderes, Antonia. Dich liebe ich.“

„Geht das bei dir immer so schnell? Wir kennen uns doch erst seit ein paar Wochen.“

„Ich hätte dich mit meinen Gefühlen nicht so überfallen dürfen“, tadelte er sich selbst. „Anscheinend bin ich dir damit ein großes Stück voraus.“

„Nur ein kleines Stückchen. Mir ist schleierhaft, wie es dir gelingen konnte, mein bewährtes Frühwarnsystem auszuschalten. Normalerweise funktioniert meine Alarmanlage sehr gut.“

„Vielleicht ist es einfach an der Zeit, sich wieder zu öffnen? Meine eigene Erfahrung lehrte mich, dass der Schutzwall zusammenbricht, wenn man dem Menschen begegnet, den das Schicksal dafür auserwählt hat.“

„Damit könntest du Recht haben. Jedenfalls fühle ich mich so gut wie schon lange nicht mehr. – Es gibt allerdings etwas, das mein Wohnbefinden noch steigern könnte.“

„Und das wäre?“

Sehnsüchtig schielte sie auf das Tablett.

„Hab schon verstanden“, meinte er lachend und holte es auf die Matratze.

Später unternahmen sie mit Quincy einen ausgedehnten Waldspaziergang. Bei ihrer Rückkehr deutete Antonia auf einen Hochsitz zwischen den Bäumen.

„Wird der eigentlich noch genutzt, Leo?“

„Keine Ahnung. Warum fragst du?“

„Von da oben kann man direkt in mein Schlafzimmerfenster schauen, ohne selbst bemerkt zu werden. Ich lasse mich nicht gern beobachten.“

„Gibt es bei dir denn was Interessantes zu sehen?“

„Bislang wohl eher nicht“, ging sie auf seinen scherzenden Ton ein. „Seit der letzten Nacht bin ich aber mit einem Gärtner verbandelt, der mich zu Doktorspielen verleitet. Wahrscheinlich muss ich mir nun Jalousien anschaffen, damit dem Förster nicht die Augen aus dem Kopf fallen, falls er zufällig das falsche Wild bei der Brunft im Visier hat.“

„Beruhigt es dich vorläufig, wenn ich verspreche, dich heute nur noch zum Schachspielen zu verleiten?“

„Wenn du es verkraften kannst, einer Frau zu unterliegen!?“

„Einen unbedarften Gärtner, der sich in eine promovierte Ärztin verliebt, kann nichts mehr aus der Bahn werfen“, lautete seine gelassene Antwort. „Hoffentlich kannst du damit umgehen, von einem einfachen Handwerker mattgesetzt zu werden.“

„Hast du das nicht schon in der letzten Nacht getan? Ich kann nicht behaupten, dass mir das unangenehm war.“

Sich gegenseitig neckend betraten sie das kleine Haus.

Am Mittag gingen sie hinüber und kochten zusammen in Leos Küche. In seinem Wohnzimmer bemerkte Antonia die aufgeschlagene Wochenendausgabe der HAZ auf dem Tisch. Unter der fettgedruckten Schlagzeile wurde über das Auffinden des jüngsten Opfers des Orchideenmörders berichtet. Rasch überflog sie den Artikel.

„Die schreiben nicht gerade schmeichelhaft über die Polizei“, bemerkte Leo. „Mich wundert, dass der Killer den Ermittlern nicht den geringsten Hinweis hinterlässt.“

„Es gibt etwas fünfzig Arten, einen Mord zu vermasseln, aber dieser Täter hat noch keinen Fehler gemacht. Deshalb hält er sich wahrscheinlich für ein Genie.“

„Gibt es denn gar keine Hinweise aus der Bevölkerung?“

„Keine, die die Polizei auch nur einen Schritt weitergebracht hätten. Die Leute beschuldigen jeden, den sie nicht mögen: vom verhassten Ehemann bis zum Finanzminister.“

„Der kommt mir auch nicht ganz geheuer vor“, meinte er trocken, während sie sich setzten. „Kann man den Kreis der Verdächtigen nicht irgendwie eingrenzen?“

„Wie bei jedem Serienkiller wurde selbstverständlich ein Täterprofil erstellt“, wusste Antonia. „Demnach ist der Orchideenmörder männlich, zwischen fünfundzwanzig und fünfzig. Ein eher unauffälliger, höflicher Typ mit wenig Freunden. Vermutlich lebt er zurückgezogen. Seine ungeheure Vorsicht deutet darauf hin, dass er sich der Konsequenzen seiner Taten voll bewusst ist.“

„Außerdem hat er ein gestörtes Verhältnis zu Frauen“, mutmaßte er nachdenklich. „Kann ein solcher Mensch überhaupt eine ganz normale Beziehung haben?“

„Laut unserem Profiler ist der Killer in sexueller Hinsicht eher verklemmt. Deshalb ist unwahrscheinlich, dass er wie andere Männer mit einer Frau schlafen kann. Er braucht dieses Machtgefühl über sein Opfer. Ihn erregt es, Herr über Leben und Tod zu sein.“

„Einerseits ist es bedauernswert, wenn ein Mensch nicht zu normalen Empfindungen fähig ist. Andererseits ärgere ich mich jedes Mal über unsere Rechtsprechung, wenn ein Vergewaltiger oder Serienmörder vor Gericht gestellt wird. Gutachter bescheinigen ihm krankhaftes Verhalten aufgrund einer schweren Kindheit oder einem zu dominanten Elternteil und ebnen ihm dadurch den Weg in die Psychiatrie. Irgendwann wird er dann als angeblich geheilt wieder auf die Menschheit losgelassen und vergewaltigt oder mordet wieder.“

„In dieser Hinsicht liegt so manches im Argen“, stimmte sie ihm zu. „Allerdings weicht wohl jeder Mörder in seinem Verhalten von der Norm ab. Während andere Menschen vor dem letzten Schritt zurückschrecken, gibt es bei ihm keine Hemmschwelle, die ihn daran hindert, ein Leben auszulöschen.“

„Irgendwann kommen dann die Gerichtsmediziner ins Spiel“, fügte Leo hinzu. „Wahrscheinlich habt ihr immer gut zu tun.“

„Über einen Mangel an Arbeit können wir uns leider nicht beklagen. Bis vor kurzem haben wir eine Obduktion stets zu zweit durchgeführt. Mittlerweile sind wir permanent unterbesetzt, so dass wir oft allein arbeiten müssen. Ein Kollege ist schon seit langer Zeit krank, und einer von uns ist häufig als Gutachter bei Gericht erforderlich.“

„Wäre es dann nicht sinnvoll, das Personal aufzustocken?“

„Im Zuge der allgemeinen Sparmaßnahmen können wir damit nicht rechnen. Im Gegenteil: Es werden immer mehr frei werdende Stellen nicht wieder besetzt. In manchen Städten werden die Gerichtsmedizinischen Institute sogar ganz geschlossen.“

„Das klingt fast wie ein Freibrief für alle, die einen unbequemen Mitmenschen loswerden wollen.“

„Notwendige Autopsien müssen dann eben in Kliniken durchgeführt werden“, erklärte sie. „Aber nun genug davon! – An meinem freien Sonntag möchte ich meinen Beruf eine Weile vergessen.“

„Verständlich“, sagte er, bevor er sie erwartungsvoll anschaute. „Hast du für diesen Sommer eigentlich schon Urlaubspläne?“

„Meine Urlaubskasse ist für Farben und Tapeten draufgegangen. Deshalb kann ich mir in diesem Jahr beim besten Willen keine Reise leisten.“

„Wie wäre es mit Gratisferien? Hast du Lust, ein paar Tage mit mir an die See zu fahren?“

Entschieden schüttelte Antonia den Kopf.

„Nimm es mir nicht übel, Leo, aber ich werde ganz bestimmt nicht auf deine Kosten mit dir verreisen. Du wohnst zwar in diesem Wahnsinnskasten, aber du bist hier nur der Gärtner. So toll ist dein Gehalt sicher nicht, dass du mich mal eben in den Urlaub einladen kannst.“

Er bedachte sie mit einem langen Blick, bevor er sich erhob und an die lange Fensterfront trat.

„Ich dachte, dass du kein Problem mit meinem Beruf hast“, sagte er mit einer Stimme, die ungewohnt hart klang. „Würde das alles hier mir gehören, würdest du mein Angebot bedenkenlos annehmen. Immerhin wäre ich dann wer!“

„Du machst es dir ein bisschen zu einfach“, erwiderte sie und erhob sich ebenfalls. Einige Schritte von ihm entfernt blieb sie stehen und blickte auf seinen breiten Rücken. „Wer gibt dir das Recht zu solchen Unterstellungen? Mir ist ein Gärtner hundertmal lieber als irgend so ein reicher Typ, der sich mit seiner Kohle jederzeit alles kaufen kann. Ich habe dir schon mal erklärt, dass für mich der Mensch im Vordergrund steht. Das glaubst du mir anscheinend genauso wenig wie das, was ich für dich empfinde.“

Als Leo nicht gleich antwortete und sich auch nicht zu ihr herumdrehte, zuckte sie resigniert die Schultern.

„Schade“, murmelte sie noch, wandte sich ab und verließ den Raum. Sekunden später fiel die Haustür hinter ihr ins Schloss. Im Freien rief Antonia nach Quincy, der im Schatten eines Baumes lag. Träge stand das Tier auf und trottete zu seinem Frauchen.

Vom Fenster aus beobachtete Leo, wie sie mit dem Hund auf das Gartentor zustrebte. Plötzlich kam Leben in den Mann. Über die Terrasse lief er den beiden nach.

„Antonia! Warte bitte!“

Zögernd blieb sie stehen. Erst als er sie erreichte, drehte sie sich zu ihm herum.

„In den letzten Jahren habe ich bewusst keine Gefühle zugelassen, weil ich wusste, dass es jedes Mal katastrophal endet, wenn ich mich verliebe“, sagte sie, noch bevor er zu Worte kam. „Trotzdem war ich so naiv zu glauben, mit uns wäre es anders. Dabei kann das gar nicht funktionieren, weil du überhaupt nicht bereit bist, dich wirklich auf einen Menschen einzulassen.“

„Meine letzte Beziehung wurde zur größten Enttäuschung meines Lebens“, gestand er mit mutiger Offenheit. „Auch heute muss ich manchmal noch gegen die Gespenster der Vergangenheit ankämpfen.“ Eindringlich schaute er ihr in die Augen. „Ich weiß, dass ich erst wieder lernen muss, zu vertrauen, Antonia. Auch will ich mit aller Kraft an mir arbeiten – weil ich dich liebe. Du hast die Mauer, die ich vor Monaten um mich errichtet habe, einfach eingerissen. Schon jetzt kann ich mir nicht mehr vorstellen, ohne dich zu sein.“ Behutsam legte er die Hände auf ihre Schultern. „Bitte verzeih mir. Gib uns eine Chance.“

Antonia wusste, dass sie diesen Augen wohl niemals würde widerstehen können. In ihnen lag so viel Wärme, so viel Hoffnung, aber auch unendlich viel Zärtlichkeit.

„Es gibt nichts Schöneres im Leben, als mit dem Menschen zusammen zu sein, den man liebt – und der einen genauso liebt“, sagte sie schließlich mit sanfter Stimme. „Wahrscheinlich müssen wir beide die Vergangenheit ruhen lassen, damit wir vorbehaltlos aufeinander zugehen können. Nur auf dieser Grundlage können unsere Gefühle wachsen.“

Leo war die Erleichterung deutlich anzusehen. Bewegt zog er sie an sich. Sein Kuss hätte inniger nicht sein können. Arm in Arm kehrten sie in das Haus zurück. Dort setzten sie sich an den kleinen Tisch und widmeten sich dem Schachbrett.

Schon bald wurde Antonia klar, dass in ihrem Gegenüber ein hervorragender Stratege steckte. Nach wenigen Zügen hatte sie bereits mehrere Figuren an Leo verloren. Es bestand kein Zweifel daran, wer diese Partie für sich entscheiden würde.

„Der Gewinner darf sich etwas wünschen“, schlug er nicht ohne Hintergedanken vor. „Einverstanden, Antonia?“

„Wieso kommt dir dieser Gedanke erst, wenn du meine Figuren so gnadenlos dezimiert hast?“

Bemüht, ernst zu bleiben, blickte Leo auf.

„Zufall?“

„Taktik“, korrigierte sie ihn. „Aber noch habe ich nicht verloren“, fügte sie triumphierend hinzu und schlug seinen Turm. Zu spät erkannte sie, dass er diese wichtige Figur absichtlich in eine so ungünstige Position gebracht hatte. Nun war ihre Dame nicht mehr zu retten. Ohne Anstrengung gelang es Leo, sie nach drei weiteren Zügen Matt zu setzen.

„Sorry“, entschuldigte er sich sofort.

„Das muss dir nicht leidtun, Leo.“ Sie war durchaus in der Lage anzuerkennen, wenn jemand etwas besser beherrschte. „Du spielst ausgezeichnet.“

„Das war wohl eher Glück. Wäre die ehemalige Jugendmeisterin nicht jahrelang aus der Übung, hätte sie mich bestimmt ziemlich alt aussehen lassen.“

„Ich werde heimlich trainieren“, versprach sie amüsiert. „Trotzdem darfst du dir nun was wünschen“, erlaubte sie gnädig und lehnte sich bequem zurück. „Was darf es denn sein?“

Mit Lausbubenlächeln beugte sich Leo etwas vor.

„Mein Wunsch ist, dass du dir bald ein paar Tage frei nimmst, um mich auf die Insel zu begleiten.“

Ungehalten richtete sie sich kerzengerade in ihrem Sessel auf.

„Vergiss es, Leo! Anscheinend habe ich mich vorhin nicht klar genug ...“

„Antonia“, unterbrach er sie mit ruhiger Stimme. „Ich habe sehr wohl verstanden, wie sehr es einer unabhängigen Lady widerstrebt, auf fremde Kosten Urlaub zu machen. Das respektiere ich selbstverständlich.“ In seine Augen trat ein erwartungsvoller Ausdruck. „Wie wäre es aber mit Ferien, die uns beide keinen einzigen Cent kosten werden?“

Skeptisch krauste sie die Stirn.

„Wie soll das funktionieren? Per Anhalter fahren und irgendwo am Strand unter freiem Himmel campieren?“

„Mein Chef besitzt ein Ferienhäuschen auf Usedom. Zu meinen Pflichten zählt es, dort hin und wieder nach dem Rechten zu sehen. Erst gestern hat er mich während eines Telefonats daran erinnert. Er hat das Haus von seiner Lieblingstante geerbt, deshalb bedeutet es ihm sehr viel.“

„Dann ist es ihm bestimmt nicht recht, wenn du dort mit einer Fremden aufkreuzt.“

„Noch vor dem Frühstück habe ich seine Erlaubnis per E-Mail eingeholt“, behauptete Leo. „Er findet es sogar gut, wenn das Häuschen eine Weile von uns bewohnt wird.“

„Du hast ihm von mir erzählt?“

„Immerhin ist er mein Freund“, bestätigte Leo. „Bei der Gelegenheit habe ich übrigens die letzte Mail meines Vaters gelesen. Er schreibt, dass er die wundervollste Frau der Welt kennengelernt hat.“

„Hast du ihm schon darauf geantwortet?“

„Logisch: Habe auch die wundervollste Frau der Welt gefunden! Stelle sie dir bei Gelegenheit vor! Dein glücklicher Sohn. – Seine Antwort kam umgehend ...“

„Darf ich erfahren, was er dazu sagt?“

„Es tut gut zu wissen, dass ein erwachsener Sohn seinem alten Vater noch nacheifert“, zitierte Leo die Reaktion seines ehemaligen Erziehungsberechtigten. „Die Frau, der es gelungen ist, deine Mauern zu durchbrechen, muss etwas Besonderes sein. Arrangiere demnächst ein Treffen zu Viert. Bin mindestens so gespannt auf deine Wahl wie du auf meine Auserwählte.“

„Ich glaube, ich mag deinen Vater schon jetzt. Ihr scheint euch gut zu verstehen.“

„Nach dem Tod meiner Mutter sind wir eng zusammengewachsen. Ich war erst neun und vermisste sie schrecklich. Meinem Vater erging es nicht anders, aber er hat versucht, seinen Schmerz vor mir zu verbergen. Jede Nacht habe ich ihn ruhelos im Haus rumwandern gehört. Eines Abends, es war schon sehr spät, bin ich zu ihm gegangen. Zwar war ich noch ein Kind, aber ich tat wohl intuitiv das Richtige, indem ich ihn tröstend in den Arm genommen habe. In dieser Nacht haben wir zusammen um das Liebste, das uns genommen wurde, geweint und uns versprochen, immer füreinander da zu sein. Wenn einer von uns Hilfe brauchte, war der andere sofort zur Stelle. Das gilt auch heute noch.“

„Bei uns gibt es einen ähnlichen Familienzusammenhalt“, erzählte Antonia. „Nur neigen wir drei Weiber gelegentlich dazu, uns zu viele Sorgen umeinander zu machen. Meine Mutter um ihre Töchter, wir Schwestern um unsere Mama oder untereinander. Mein Vater hat das manchmal scherzhaft das Bredow-Syndrom genannt.“

„Das lässt auf einen Mediziner schließen.“

„Paps war Vollblutjurist“, verneinte Antonia. „Er lehrte Rechtswissenschaften hier an der Universität. Gleichzeitig war er ein leidenschaftlicher Kriminologe. Verbrechen auf den Grund zu gehen, zählte zu seinen Hobbys - das er übrigens mit meiner Mutter teilte.“

„Vielleicht hätte er das Rätsel um den Orchideenmörder längst gelöst“, warf Leo ein, worauf Antonia lächelnd nickte.

„Manchmal hat Paps tatsächlich mit der Polizei zusammengearbeitet. Seine Erfahrung wurde dort sehr geschätzt. Wenn es aber wie bei unserem Killer keinerlei Hinweise auf den Täter oder sein Motiv gibt, könnte selbst ein noch so kluger Kopf nichts ausrichten.“

„Wollten wir dieses Thema heute nicht meiden?“, erinnerte er sie. „Mich interessiert jetzt viel mehr, ob du dir vorstellen kannst, mich auf die Insel zu begleiten.“ Aufmerksam forschte er in ihrem Gesicht. „Oder ist dir unsere Beziehung noch zu jung, um mit mir zu verreisen?“

„Seltsamerweise nicht“, erwiderte sie nach kurzem Nachdenken. „Allerdings müsste ich erst die Dienstpläne im Institut einsehen. Zurzeit haben wir viel zu tun - besonders durch den Orchideenmörder.“

„In der Zeitung stand, dass der Killer im Vierwochenrhythmus zuschlägt. Da der letzte Leichenfund erst drei Tage zurückliegt, sollten wir unseren Urlaub dazwischen legen.“

„Könnten wir Quincy eigentlich mitnehmen?“, dachte sie an das Nächstliegende. „In der letzten Zeit habe ich ihn leider etwas vernachlässigt. Deshalb will ich ihn auf keinen Fall ausschließen.“

„Selbstverständlich nehmen wir den Burschen mit. Wo lässt du ihn eigentlich, wenn du arbeitest?“

„Als ich noch in Hannover gewohnt habe, war er tagsüber zu Hause. Bevor ich morgens zum Dienst musste, waren wir schon eine Stunde unterwegs. Meine Wohnung lag nicht weit vom Institut entfernt, so dass ich in meiner Mittagspause immer heimgefahren bin, um mit ihm Gassi zu gehen. Nur wenn ich längere Termine hatte, musste ich ihn mitnehmen. Unser Pförtner passte dann auf ihn auf. Seit ich hier lebe, bleibt er immer bis zum Feierabend bei Karl in der Pförtnerloge.“

„Fühlt er sich dort denn den ganzen Tag wohl? Der Hund braucht doch Auslauf.“

„Das ist auch nur eine Übergangslösung. Ab nächsten Monat bringe ich ihn tagsüber in der Huta unter.“

„Huta? Was ist das?“

„Eine Hundetagesstätte. Dort werden Hunde berufstätiger Besitzer von morgens bis abends betreut. Allerdings kostet das monatlich 200 €. Das ist bei mir im Moment einfach nicht drin. Erst wenn mein nächstes Gehalt auf dem Konto ist ...“

„Warum lässt du Quincy nicht bei mir?“, unterbrach er sie. „Das wäre die einfachste Lösung.“

„Wie könnte ich dir zumuten, stundenlang auf meinen Hund aufzupassen?“

„Was spricht dagegen? Wir mögen uns, hätten beide Gesellschaft und würden uns gemeinsam auf dich freuen. Wenn du abends zurückkämst, würdest du obendrein schwanzwedelnd begrüßt, weil wir dich so sehr vermisst haben.“

„Von euch beiden?“, lachte Antonia. „Das möchte ich sehen.“

„Anscheinend habe ich diese Szene etwas zu farbig geschildert. Alles andere entspricht aber hundertprozentig der Wahrheit.“

Da Quincy schon die ganze Zeit über zu Leos Füßen lag, als hätte das Tier ihn längst als Herrchen akzeptiert, bestand für Antonia kein Zweifel daran, wie wohl der Hund sich bei ihm fühlte. Deshalb stimmte sie Leos Vorschlag zu. Bei ihm wusste sie ihren vierbeinigen Liebling in guten Händen.

Mondlicht auf kalter Haut

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