Читать книгу Mondlicht auf kalter Haut - Claudia Rimkus - Страница 19
Kapitel 17
ОглавлениеAuf dem Landsitz Piccolo Mondo in der Toskana unternahm Vincent allmorgendlich einen Ausritt mit seinem Gast. Zu seiner Freude war Helen nicht nur eine ausgezeichnete Reiterin. Auch ihr umfassendes Wissen über Pferde und ihr fachgerechter Umgang mit diesen Tieren imponierte ihm. Seit sie sein Gästezimmer bewohnte, waren sie sich auf freundschaftliche Weise nähergekommen. Obwohl Vincent sich nach mehr sehnte, wagte er nicht, den ersten Schritt in diese Richtung zu tun. Einerseits wollte er nichts überstürzen, andererseits fürchtete er sich ein wenig davor, den Ansprüchen einer so temperamentvollen Frau nicht mehr zu genügen. Seit dem Tod ihres Mannes vor sechzehn Jahren hatte sie bestimmt nicht völlig enthaltsam gelebt. Eine Frau wie sie – intelligent, attraktiv, begehrenswert – zog die Verehrer an wie ein Magnet. Ihm selbst war es schließlich schon Minuten nach ihrem Kennenlernen in dem kleinen Café so ergangen. Zuerst hatte ihn nur ihr Lächeln verzaubert, dazu kamen ihre Anmut, der warme, wache Blick ihrer Augen und ihre klugen Bemerkungen. Aber auch ihre Spontanität, ihr Humor und die Bereitschaft zuzupacken, wann immer es nötig war – das alles zählte er zu Helens liebenswerten Eigenschaften. Er hatte selten einen Menschen getroffen, der so offensichtlich mit sich selbst im Einklang war. All das hielt er sich seit Tagen vor Augen. Dennoch war er sich seines Alters voll bewusst. Nicht einmal im Traum hätte er es für möglich gehalten, sich mit achtundsechzig noch einmal zu verlieben. Er erinnerte sich kaum noch daran, wann er zum letzten Mal eine Frau in den Armen gehalten hatte.
Mittlerweile befand sich Helen seit fast einer Woche auf dem Landgut. Vom ersten Augenblick an hatte sie sich dort Zuhause gefühlt. Das lag aber nicht nur daran, dass Vincent rührend bemüht war, ihr den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten. Er unternahm Ausflüge in die nähere Umgebung mit ihr und ließ sie an seinem Leben teilhaben. Ihre Gespräche betrafen nicht nur die Pferdezucht und den Weinbau, sie erstreckten sich auch über Kunst und Literatur bis hin zu ganz alltäglichen Dingen. Dabei verhielt er sich stets höflich und rücksichtsvoll. Gelegentlich fragte sie sich, ob er durch seine unaufdringliche Art auch die Unverbindlichkeit seiner Einladung betonen wolle. Nach dem schweren Unwetter vor einigen Tagen hatte er ihr fast so etwas wie eine Liebeserklärung gemacht. Bereute er das bereits? Oder weshalb waren darauf keine Taten gefolgt? Als Frau mit sensiblen Antennen spürte sie zwar, dass sie ihm etwas bedeutete. Vielleicht war ihm jedoch bewusst geworden, dass es sich um rein freundschaftliche Gefühle handelte. Gab er seine Zurückhaltung deshalb nicht auf? Dann hatte sie nun ein Problem. Eines, das sie niemals in Erwägung gezogen hätte. Sie empfand inzwischen zu viel für den alten Kauz mit dem ständig zerzausten weißen Haarschopf. Seit sie verwitwet war, gab es Männer, die Interesse an ihr bekundeten, aber keinem von ihnen war es gelungen, ihr Herz im Sturm zu erobern. Keiner hatte den Wunsch nach Nähe und Zweisamkeit in ihr geweckt. Bekam sie vom Schicksal nun die Rechnung für alle Zurückweisungen präsentiert? Sollte sie am eigenen Leib erfahren, wie sehr man unter unerwiderten Gefühlen leiden konnte? Wäre es unter diesen Umständen nicht klüger, mehr Abstand zu Vincent zu wahren? Oder sollte sie besser sofort abreisen, bevor ihre Freundschaft noch enger und dadurch die unvermeidliche Trennung für sie schmerzhafter würde?
Kurz entschlossen griff Helen nach ihrem Handy. Vincent beobachtete vom Wohnzimmer aus, wie sie telefonierte. Erst als sie das Gespräch längst beendet hatte, trat er zu ihr hinaus auf die Terrasse. Mit einem unterdrückten Seufzer setzte er sich zu seinem Gast.
„So nachdenklich?“, fragte er, da sie ihn nur schweigend anschaute. „Ich sah dich telefonieren. Irgendwas Wichtiges?“
„Ich frage mich, ob ich deine Gastfreundschaft nicht schon zu lange strapaziere.“
„Du bist doch erst eine knappe Woche hier“, verneinte er kopf-
schüttelnd. Plötzlich fürchtete er, sie könne es kaum erwarten, abzureisen. „Liegt das Gut zu abgeschieden, dass du dich allmählich langweilst?“
„Als Mädel vom Lande fühle ich mich ausgesprochen wohl hier. Ich brauche nicht ständig Trubel um mich herum.“
Aufmerksam forschte er in ihrem Gesicht. War sie ihm eben ausgewichen?
„Demnach sind deine Freunde der Grund? Haben sie dich baldmöglichst um deinen Besuch gebeten?“
„Birgit und Giovanni sind gerade in Rom“, erklärte sie notgedrungen, denn sie war nicht fähig, ihre Freunde als Ausrede zu benutzen. „Giovanni ist Professor für Literatur und Geschichte. Während er in irgendwelchen Archiven recherchiert, stöbert Birgit in Antiquitätengeschäften und auf Flohmärkten. Sie ist eine begnadete Innenarchitektin. Erst Ende nächster Woche sind die beiden zurück.“
„Bis dahin musst du wenigstens bleiben“, bat er. „Oder zieht dich etwas anderes fort?“
„Nicht wirklich. Allerdings weiß ich, wie viel es auf einem so großen Anwesen zu tun gibt. Meinetwegen sollst du deine Arbeit nicht vernachlässigen.“
Erleichtert lehnte er sich zurück.
„Mach dir darum keine Gedanken. Wir sind hier ein gut eingespieltes Team. Erst zur Weinlese gibt es wieder mehr zu tun. Außerdem ist das mein Altersruhesitz. Ich habe mich hierher zurückgezogen, weil der permanente Stress in meinem Beruf wahrscheinlich irgendwann tödlich gewesen wäre.“
Helen konnte ihre Betroffenheit nur unzureichend verbergen. Dieser Mann wirkte so vital und energiegeladen.
„Hast du gesundheitliche Probleme?“, fragte sie vorsichtig, worauf er beruhigend den Kopf schüttelte.
„Es wäre aber darauf hinausgelaufen. Chronischer Schlafmangel, ungesunde Ernährung und Dauerstress führen oft über kurz oder lang direkt auf den Friedhof. Ein befreundeter Arzt warnte mich, dass bei dieser Lebensweise der Herzinfarkt fast schon vorprogrammiert wäre. Dadurch wurde mir klar, dass ich die Früchte meiner Arbeit noch ein wenig genießen wollte. Da mein Sohn beruflich einen anderen Weg wählte, habe ich meine Firma verkauft und mir hier unter südlicher Sonne einen lang gehegten Traum erfüllt.“
Nun war es Helen, die erleichtert aufatmete.
„Nach den Fotos zu urteilen, die in deinem Arbeitszimmer hängen, war das zu diesem Zeitpunkt aber noch kein Traumhaus, sondern eine baufällige Ruine.“
„Deshalb konnte ich das ganze Anwesen relativ günstig ersteigern. Das Geld für den Architekten konnte ich obendrein sparen. Den Ausbau des Hauses habe ich dann nur mit drei ortsansässigen Handwerkern durchgezogen.“
„Dabei hast du die typische Bauweise der Toskana berücksichtigt. Das Haus wirkt so ursprünglich und fügt sich perfekt in die Landschaft.“
„Einfacher wäre es gewesen, alles abzureißen und neu zu bauen. Einige meiner Nachbarn haben befürchtet, ich würde mir einen supermodernen Kasten hinstellen, als bekannt wurde, dass ein deutscher Architekt das Anwesen ersteigert hat. Mir schwebte aber von Anfang an etwas in der traditionellen Bauweise der Region vor.“ In seine Augen trat ein fragend-interessierter Blick. „Wie wohnst du eigentlich?“
„Nicht so wunderschön wie du“, gestand sie neidlos ein. „Nach dem Tod meines Mannes habe ich das Haus verkauft.“
Der wehmütige Zug um ihren Mund entging Vincent nicht. Helen hatte ihm erzählt, dass sie ihren Mann von einer Minute zur anderen durch einen Herzinfarkt verloren hatte. Es war spürbar gewesen, wie sehr sie ihn geliebt hatte.
„Zu viele Erinnerungen – du verstehst?“, sagte sie nach kurzem Schweigen. „Außerdem gingen meine Kinder längst eigene Wege, und für mich allein war das Haus viel zu groß. Seitdem lebe ich auf 100 Quadratmetern einer hübschen Dreizimmereigentumswohnung.“
„Lass mich raten: Mit viel Grün drum herum, hellen hohen Räumen und Stuck an den Decken.“
„Kann es sein, dass du mich für altmodisch und verschroben hältst?“
„Absolut nicht. Allerdings passt so eine stilvolle Altbauwohnung zu einer kultivierten Lady deines Formats.“
„Ist das Menschenkenntnis? Dann hat sie dich nicht getäuscht. Ich liebe es, durch die Räume zu gehen und bei jedem Schritt das leise Knarren des Dielenfußbodens zu hören.“ Sie beschrieb eine weitausholende Geste. „So schön es hier auch ist, muss ich allmählich daran denken, wieder nach Hause zu fahren. In ein paar Wochen enden die Semesterferien.“
„Ich denke, du bist seit kurzem im wohlverdienten Ruhestand!? Wieso musst du dich dann nach den Semesterferien richten?“
„Zwar bin ich pensioniert, aber das bedeutet nicht, dass ich nun die Hände in den Schoss lege. Ich brauche eine Beschäftigung Deshalb werde ich das Angebot, als Gastdozentin an der Universität zu arbeiten, wohl annehmen. Vielleicht kann ich dort jungen Leuten etwas von meinem Wissen und meiner Erfahrung vermitteln.“
„Das ist sicher eine interessante Aufgabe“, bemerkte Vincent. Allerdings plante er, Helen schon bald ein verlockenderes Angebot zu unterbreiten. Er würde zu verhindern wissen, dass sie sang und klanglos aus seinem Leben verschwände.