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Kapitel 10
ОглавлениеAm Montagvormittag traf die Gerichtsmedizinerin zu einer Lagebesprechung im Polizeipräsidium ein. Außer den in den Fall involvierten Beamten war auch die Staatsanwältin anwesend.
In dem geräumigen Besprechungszimmer befanden sich für alle gut sichtbar Stellwände mit zahlreichen Fotos der bisherigen Opfer des Orchideenmörders. Aufnahmen von den bei den Leichen gefundenen Scrabblespielbuchstaben fehlten ebenfalls nicht. Auf einer Wandkarte der niedersächsischen Landeshauptstadt waren die Fundorte der Leichen durch kleine rote Punkte markiert.
„Inzwischen ist es uns gelungen, das letzte Opfer des Orchideenmörders zu identifizieren“, berichtete Kommissar Gerlach. „Nadja Kaminski, dreiundzwanzig Jahre alt, gebürtige Polin. Sie lebte seit neun Jahren in Deutschland.“ Mit ernster Miene schaute er in die Runde. Seine wachen Augen kamen auf dem Gesicht der Staatsanwältin zur Ruhe. „Frau Dr. Pauli und ich, wir sind nach den neuesten Ermittlungsergebnissen davon überzeugt, dass dem Killer diesmal ein Fehler unterlaufen ist. Während die anderen Opfer entweder studiert haben oder einen soliden Beruf ausübten, war Nadja Kaminski arbeitslos. Jedenfalls offiziell. Tatsache ist jedoch, dass sie ihre Kasse durch Prostitution aufgebessert hat.“
Sekundenlang schauten sich die Anwesenden verblüfft an.
„Daraus kann man folgende Schlüsse ziehen“, übernahm Franziska. „Der Mörder wusste es nicht. Wahrscheinlich hat er es erst erfahren, als die Frau auf Geld zu sprechen kam. Da war es aber schon zu spät. Ihm wurde klar, dass er sie nicht mehr laufenlassen konnte. Immerhin hatte sie ihn gesehen. Er musste sie töten. – Obwohl Prostituierte wahrscheinlich unter seinem Niveau sind und deshalb nicht zu seinem Opferprofil passen. Da er sich plötzlich gezwungen sah, gegen seine eigenen Prinzipien zu handeln, ist er völlig ausgerastet. Das würde erklären, weshalb er die Frau sehr viel brutaler misshandelt hat als die anderen Opfer.“ Fragend schaute sie ihre Schwester an. „Deinem Autopsiebericht zufolge hatte Nadja Kaminski erheblich schwerere innere Verletzungen.“
„Das ist korrekt“, bestätigte Antonia. „Er muss in unbändiger Wut auf sie eingeschlagen haben.“ Sekundenlang hielt sie inne. „Geht man davon aus, dass sich alles genauso zugetragen hat, befand sich der Täter in einer extremen Ausnahmesituation. Wie immer hatte er alles bis ins kleinste Detail bedacht, und nun stellte ausgerechnet eine Hure seine Genialität in Frage. Das hat ihn so wütend gemacht, dass ihm ein zweiter Fehler unterlaufen ist: Er hielt sein Opfer für tot, als er es entsorgt hat. Durch die schweren Verletzungen war es aber nur bewusstlos.“
„Das könnte passen“, stimmte Pit ihr nachdenklich zu. „Laut Bericht der KTU gibt es wie üblich keine verwertbaren Spuren. Weder Reifen – noch Fußabdrücke in der Nähe des Fundortes. In dieser Hinsicht hat unser Killer leider wieder einen klaren Kopf bewiesen.“ Langsam ging er vor den Stellwänden auf und ab. „Normalerweise verfeinert ein Serienkiller seine Methode mit jedem Mord. Er entwickelt sich. Ihm aber sind zwei entscheidende Fehler unterlaufen. Deshalb wird er seine nächste Tat noch sorgfältiger planen.“
„Wir sollten darüber nachdenken, der Presse einen Hinweis in diese Richtung zu geben“, schlug einer der Beamten vor. „Wenn der Killer von seiner stümperhaften Arbeit in der Zeitung liest, verunsichert ihn das vielleicht und er macht noch mehr Fehler.“
„Besser wäre es, ihn vorher zu stoppen“, warf Franziska ein. „Wenn uns das nicht innerhalb der nächsten drei Wochen gelingt, wird er beim nächsten Vollmond weitermorden. – So viel ist sicher.“
„Was ist eigentlich mit der Klette im Haar des letzten Opfers?“, fragte ein junger Beamter. „Gibt es darüber schon neue Erkenntnisse?“
„Leider nicht das, was Sie gern hören möchten“, antwortete Antonia. „Die Arctium lappa, die sogenannte Große Klette, ist die am häufigsten vorkommende Art in unseren Breitengraden. Sie wächst auf Schuttplätzen, Ödland oder an Wegrändern. Nachweislich auch am Fundort der Leiche, dem verlassenen Fabrikgelände. Die bis zu vier Zentimeter großen rötlichen Blütenköpfchen dieser Pflanze sind von Hüllblättern umgeben, die mit einer hakigen Stachelspitze versehen sind. Damit bleiben sie oft an Kleidung oder in den Haaren hängen.“
„Ob sich die Klette beim Transport des Opfers über das Gelände oder durch den Wind in den Haaren verfangen hat, ist kaum zu klären“, fügte der Kommissar hinzu. „Die Spurensicherung hat noch einmal die Umgebung aller in Frage kommenden Pflanzen ergebnislos abgesucht.“ Per Blickkontakt verständigte er sich mit der Staatsanwältin.
„Nach dem derzeitigen Ermittlungsstand haben sich die Opfer untereinander nicht gekannt“, ergriff Franziska abermals das Wort. „Dennoch muss es einen Zusammenhang zwischen ihnen geben. Dieser gemeinsame Nenner könnte der Schlüssel zur Lösung um das Rätsel des Orchideenmörders sein. Wir müssen so schnell wie möglich herausfinden, nach welchen Kriterien er seine Opfer auswählt.“
„Zunächst müssen wir unsere Ermittlungsarbeit intensiv auf das Umfeld der letzten Toten konzentrieren“, wandte sich der Kommissar an seine Leute. „Ihre Mitbewohnerin muss noch mal ausführlich befragt werden. Außerdem Nachbarn und Freunde. Listen Sie sämtliche Gewohnheiten auf: Wo kaufte sie ein!? Wo suchte sie Kontakt zu möglichen Freiern etc. Auch ihr Frisör könnte hilfreich sein. Graben Sie jedes noch so unbedeutend wirkende Detail aus.“ Aufmunternd schaute er seine Mitarbeiter der Reihe nach an. „Also los: an die Arbeit!“
Nach diesem arbeitsreichen Tag kam Antonia später als gewöhnlich nach Hause. Über die Terrasse betrat sie den Garten. Leo war gerade damit beschäftigt, die zahlreichen Pflanzen zu gießen. Deshalb bemerkte er Antonia erst, als Quincy plötzlich bellend aufsprang, um sein Frauchen zu begrüßen.
„Na, du Stromer ...“ Liebevoll kraulte sie ihren Hund, der freudig mit dem buschigen Schwanz wedelte. „Warst du brav?“
Aus ihrer Hosentasche fischte sie eine Kaustange. Derweil sich das Tier mit dem Leckerbissen unter einen Baum zurückzog, stellte Leo die Gießkanne ab, um Antonia in die Arme zu schließen. Forschend glitten seine Augen über ihr Gesicht.
„Du siehst müde aus.“
„Kein Wunder nach alldem Stress“, seufzte sie. „Gleich nach der ersten Obduktion musste ich zu einem Meeting ins Präsidium. Danach noch zwei Obduktionen, eine Dienstbesprechung und der übliche Schreibkram. Das Gutachten für den morgigen Gerichtstermin musste ich außerdem noch vorbereiten.“
„Wahrscheinlich hast du ohne Pause durchgearbeitet“, vermutete Leo mit leisem Vorwurf. „Bist du wenigstens zum Mittagessen gekommen?“
„Nicht wirklich“, gestand sie. „Heute musste ein Apfel zwischendurch genügen.“ Erwartungsvoll blitzte es in ihren Augen auf. „Du hast nicht zufällig etwas Leckeres vorbereitet, zu dem du mich verführen möchtest?“
„Hast du dafür überhaupt Zeit? Soweit ich mich erinnere, hast du beim Frühstück gesagt, dass du heute nach Feierabend große Wäsche hast.“
„Bügeln müsste ich auch dringend“, bestätigte sie lustlos. „Eigentlich wollte ich das alles am Sonntag erledigen. Dummerweise kam mir die Liebe dazwischen.“
Herausfordernd zog er sie fester an sich.
„Bereust du das?“
„Nicht die Spur“, verneinte sie und hauchte einen Kuss auf seine Lippen. „Aber weil ich jetzt noch weniger Zeit habe, muss ich wohl demnächst ein Ata–Girl engagieren.“
„Ein was?“
„Eine Haushaltshilfe.“
„Nicht nötig.“ Er legte den Arm um ihre Schultern und führte sie ins Haus. In der Küche deutete er auf den Herd. „Unser Abendessen ist schon so gut wie fertig. Was hältst du von Fusilli mit einer Räucherlachs – Sahnesoße? Ich muss nur noch die Nudeln kochen. In zehn Minuten können wir essen.“
„Klingt verlockend.“ Erstaunt hob sie die Brauen. Dort, wo gewöhnlich die Kaffeemaschine ihren Platz hatte, stand ein chromblitzendes Etwas. „Was ist das?“ fragte sie überflüssigerweise, wobei sie Leo vorwurfsvoll anblickte. „Hast du dieses sündhaft teuer aussehende Teil etwa gekauft?“
Besänftigend hob er die feingliedrigen Hände.
„Kein Grund zur Aufregung: ein Tombolagewinn, der bei mir nur nutzlos herumgestanden hat. Im Haus meines Freundes steht mir alles zur Verfügung. Weil sich deine Kaffeemaschine kurz vor dem Exitus befand, dachte ich, dass du die hier gebrauchen könntest. Damit bekommst du Espresso, Café Crema oder Filterkaffee. Das ist doch sehr praktisch.“
„Ein Tombolagewinn“, wiederholte sie zweifelnd. „Das soll ich dir abnehmen?“
Treuherzig schaute er sie an.
„Können diese Augen lügen?“
Ein theatralischer Seufzer löste sich von Antonias Lippen.
„Wenn du diesen Dackelblick drauf hast, neige ich dazu, dir alles zu glauben.“
„Gut zu wissen“, freute er sich mit Lausbubenlächeln. „Dann kümmere ich mich jetzt um unser Abendessen. Den Tisch habe ich übrigens auch schon gedeckt. Vielleicht möchtest du dich inzwischen etwas frischmachen?“
„Okay, ich ziehe mich rasch um.“
Auf dem Weg hinaus schlüpfte sie bereits aus der Jacke ihres eleganten Hosenanzugs. Leichtfüßig lief Antonia die Treppe hinauf. In ihrem Schlafzimmer blieb sie verblüfft vor dem Bett stehen. Der Inhalt ihres großen Wäschekorbs war frisch gewaschen und gebügelt fein säuberlich auf der Matratze gestapelt. Einerseits rührte es sie, wie sehr Leo sich engagierte. Andererseits ging das entschieden zu weit. Sie musste versuchen, ihm das klarzumachen, ohne ihn zu verletzen.
Als sie in Jeans und Shirt wieder herunterkam, gab Leo gerade die Nudeln in eine Schüssel.
„Setz dich bitte schon!“, rief er ihr zu. „Ich bin gleich soweit!“
Während des Essens wunderte er sich darüber, wie schweigsam Antonia war.
„Schmeckt es dir nicht?“
„Es ist ausgezeichnet.“
„Warum bist du dann so still?“
„Eine Entdeckung eben in meinem Schlafzimmer ist der Grund“, entgegnete sie, obwohl sie damit bis nach dem Essen warten wollte. „Wie durch Zauberhand hat sich meine Schmutzwäsche in einen tadellos gebügelten, schrankfertigen Zustand verwandelt. Das kann ich mir gar nicht erklären.“
„Heinzelmännchen?“, schlug er vor. „Man erzählt sich, dass diese kleinen Wichte manchmal ganz spontan helfen.“
„Darum habe ich sie aber nicht gebeten. Ich möchte das nicht.“
„Verstehe.“ Sich zur Ruhe zwingend, legte Leo sein Besteck auf den Teller. „Du willst verhindern, dass jemand zu tief in dein Leben eindringt. Anscheinend möchtest du eine oberflächliche Beziehung, in der man nach Lust und Laune ein bisschen Zeit miteinander verbringt und nach Bedarf Sex hat. Völlig unverbindlich und ohne die geringsten Ansprüche aneinander.“
„Da wir uns kaum kennen, nehme ich dir nicht übel, dass du mich so einschätzt“, sagte sie ernst. „Genau das ist unser Problem, Leo. Wir lernen uns gerade erst wirklich kennen. Für dich ist unsere Situation genauso neu wie für mich. Seit Jahren lebe ich allein: selbständig und unabhängig. Ich bin es einfach nicht gewohnt, dass mir jemand alles aus der Hand nimmt. Allerdings ist mir auch klar, wie selbstverständlich es für dich ist, helfend zuzupacken, aber das entwickelt sich etwas zu schnell. Lass es uns bitte ein bisschen langsamer angehen.“
„Entschuldige, dass ich zu viel Tempo vorgelegt habe“, bat er. „Als du sagtest, dass montags durch das Wochenende bei euch im Institut besonders viel zu tun ist, habe ich nur daran gedacht, dich irgendwie zu entlasten, damit du nach Feierabend nicht auch noch einen Berg Wäsche am Hals hast.“ Sein Lächeln fiel etwas gequält aus. „Vermutlich war auch die Idee, gemeinsam nach Usedom zu fahren, reichlich voreilig. Wahrscheinlich passiert mir das, weil ich mir meiner Gefühle seltsamerweise seit unserem ersten Kuss total sicher bin. Das habe ich auf diese Weise noch nie erlebt. Aber ich verspreche dir, mich künftig mit gut gemeinten Aktionen zurückzuhalten. Du musst dich auch nicht verpflichtet fühlen, mich auf die Insel zu begleiten. Dann fahre ich eben wie immer allein.“
„Das ist wirklich ärgerlich“, murmelte sie. „Wie soll ich das meinen Kollegen erklären? Während der Dienstbesprechung heute haben sie mich geradezu gedrängt, endlich mal ein paar Tage auszuspannen.“
Erfreut griff er über den Tisch hinweg nach ihrer Hand.
„Du kommst mit?“
„Wenn dein Angebot noch gilt, gern. Von Freitag bis Dienstag könnte ich mir freinehmen. Das sind zwar nur fünf Tage, aber mehr ist einfach nicht drin.“
„Ich werde dich rund um die Uhr verwöhnen und dafür sorgen, dass du dich gut erholst.“
„Du kannst es einfach nicht lassen“, tadelte sie ihn amüsiert. „Was soll ich nur mit dir machen?“
„Nimm meine Liebe einfach nur an. Ich schwöre auch hoch und heilig, mich nie wieder an deiner Wäsche zu vergreifen.“
Später unternahmen sie noch einen Spaziergang mit Quincy. Erst als es bereits dämmerte, kehrten sie in ihr Haus zurück. In stummem Einverständnis blieb Leo über Nacht.
Am kommenden Morgen war der Frühstückstisch bereits gedeckt, als Antonia herunterkam.
„Wolltest du mich nicht erst auf der Insel verwöhnen?“, neckte sie Leo im Vorbeigehen.
Rasch griff er nach ihr und zog sie in seine Arme.
„Willst du dich etwa beschweren? In der letzten Nacht hatte ich jedenfalls nicht den Eindruck, ein vorzeitiger Beginn meines Verwöhnprogramms würde nicht deine Zustimmung finden.“
Scheinbar nachdenklich krauste sie die Stirn, verschränkte aber die Hände in seinem Nacken.
„Letzte Nacht? Was war da noch gleich?“
„Muss ich dir wirklich auf die Sprünge helfen?“, flüsterte er an ihrem Ohr. „Erinnerst du dich nicht daran, wie ich jeden Winkel deines wunderschönen Körpers gekostet und gestreichelt habe? Und wie er mir geantwortet hat? Sinnlich und leidenschaftlich.“
„Jetzt, wo du es sagst, dämmert es mir“, gab sie ebenso leise zurück. „Bei Gelegenheit könntest du mein Gedächtnis aber auffrischen.“
„Wie wäre es nach Feierabend?“
„Für heute habe ich schon andere Pläne. Es wird sicher spät. Trotzdem kannst du Quincy abends allein im Haus lassen.“
Leo hielt sie etwas von sich, um ihr in die Augen schauen zu können. Die aufkeimende Unsicherheit in seinem Blick entging Antonia nicht.
„Wirst du mir etwa schon untreu? Warum sagst du mir nicht, mit wem du dich triffst?“
Kaum merklich hob sie die Brauen.
„Wird das jetzt ein Verhör?“
„Natürlich nicht“, bedauerte er. „Manchmal verhalte ich mich wie ein eifersüchtiger Idiot. Selbstverständlich geht es mich nichts an, mit wem du deine Zeit verbringst, Antonia. Du bist mir keinerlei Rechenschaft schuldig.“
„Trotzdem hätte ich dir erzählt, dass ich mich dienstags immer mit meinen Freundinnen im Fitnessstudio treffe.“ Sanft strich sie ihm über die Stirn. „Da wir diese Sorgenfalte nun geglättet haben, lass uns frühstücken.“
Nach einem straffen Arbeitspensum traf Antonia mit geringfügiger Verspätung im Fitnesscenter ein. Ihre Freundinnen kämpften bereits an den schweißtreibenden Geräten. Nach diesem anstrengenden Tag verspürte sie wenig Lust auf ein ausdauerndes Training. Deshalb begnügte sie sich mit dem Fahrradergometer. Das blieb den anderen nicht verborgen.
„Was ist los mit dir, Toni?“, wollte Elke nach dem Duschen bei einem Drink wissen. „Heute scheinst du nicht in Bestform zu sein. Hast du dich noch nicht von deiner Party erholt? Wahrscheinlich ist dein ganzer freier Sonntag für die Aufräumaktion draufgegangen. Wir hätten eben doch kommen und dir helfen sollen.“
„Ihr hättet gar nichts zu tun gehabt“, sagte sie mit geheimnisvollem Lächeln. „Als ich am Morgen nach der Party erwacht bin, war alles aufgeräumt, das Geschirr gespült, und mir wurde das Frühstück am Bett serviert. Da hättet ihr nur gestört.“
„Wobei?“, fragte Franziska gespannt. „Deine unverhoffte Haushaltshilfe war doch nicht etwa männlich?“
„Unbeschreiblich männlich.“
Verblüfft schauten die Freundinnen einander an. Insgeheim ging jede von ihnen sämtliche Gäste auf einen infrage kommenden Kandidaten durch.
„Leo!“, ahnte Elke. „Sag bloß, du hast den Gärtner vernascht!“
„Ich kann nicht leugnen, dass es zwischen uns ziemlich heiß hergegangen ist.“
„Das habe ich doch schon vor Wochen vorausgesehen“, kommentierte ihre Schwester. „Erst hat er deinen Garten auf Vordermann gebracht – und nun auch noch dein Liebesleben. Wie konnte das einem Mann in seinem Alter gelingen? Für gewisse Spielchen bevorzugst du doch sonst eher Jungdynamiker.“
„Tja ...“, seufzte Antonia nur und zuckte die Schultern.
„Du bist in ihn verliebt!“, folgerte Elke. „Gib es zu, Toni! Dieser Ausbund an Männlichkeit hat dir mit seinen wunderschönen braunen Augen den Kopf verdreht.“
„So was soll vorkommen“, meinte Antonia. „Habe ich jedenfalls gehört.“
„Das ist ja nicht zu fassen.“ Franziska konnte es immer noch nicht so recht glauben. „Hat es dich tatsächlich endlich erwischt? Bist du wirklich in ihn verliebt?“
„Das passiert einem wohl, wenn man am wenigsten damit rechnet“, meinte ihre Schwester nachdenklich. „Leo ist so ganz anders als die Männer, die ich kenne: sehr sensibel und verletzbar, unglaublich hilfsbereit und pragmatisch. Einerseits ist er ein kluger, humorvoller Mann mit einem gesunden Selbstbewusstsein. Andererseits ist er manchmal so unsicher wie ein kleiner Junge.“
„Außerdem hast du vergessen zu erwähnen, was für ein großartiger Liebhaber er ist“, fügte Elke hinzu. „Oder hält er etwa nicht, was seine sexy Erscheinung verspricht?“
„Falls du Details erwartest, muss ich dich enttäuschen. Über unseren sensationellen Sex spreche ich grundsätzlich nicht.“
„Wusste ich es doch!“, triumphierte Elke, bevor sie sich an Franziska wandte. „Sieht es bei dir genauso fantastisch aus? „
„Zuerst konnte ich nicht so recht damit umgehen, dass Pit und ich auch beruflich miteinander zu tun haben.“ Mit schelmischem Lächeln zwinkerte sie der Freundin zu. „Inzwischen genieße ich es.“
„Wunderbar!“, rief Elke begeistert aus. „Wenn sich nun noch eure Mutter dazu entschließen könnte, einen ihrer zahlreichen Verehrer zu erhören, hätte ich auf einen Schlag drei Konkurrentinnen weniger auf dem Beziehungsmarkt.“
Erst gegen Mitternacht bog Antonia in ihre Grundstückseinfahrt ein. Seltsamerweise verspürte sie eine leise Enttäuschung darüber, dass das Haus in völligem Dunkel lag. Es wäre schön gewesen, hätte Leo auf sie gewartet. Antonia wunderte sich über sich selbst, wie schnell sie sich nach diesen wenigen gemeinsamen Tagen bereits an seine Anwesenheit gewöhnt hatte. Als unabhängigkeitsliebende Frau empfand es beinah schon als unheimlich, wie oft ihre Gedanken tagsüber zu Leo schweiften. Bisher war es noch keinem Mann gelungen, sie innerhalb so kurzer Zeit total für sich einzunehmen.
Nachdenklich betrat sie das Haus. Quincy lag in seinem Körbchen in der Diele. Beim Anblick seines Frauchens wedelte der Hund zwar freudig mit dem Schwanz, kam ihr aber nicht wie sonst entgegen. Lächelnd ging sie bei ihm in die Hocke.
„Leo hat wohl einen langen Abendspaziergang mit dir gemacht“, sagte sie und kraulte ihm den Kopf. „Ich bin auch müde. Schlaf weiter, Quincy.“
In ihrem Schlafzimmer stellte sie die Sporttasche ab und trat ans Fenster. Schräg gegenüber auf dem Nachbargrundstück sah sie noch Lichtschein hinter einer Scheibe im Obergeschoss. Rasch zog Antonia ihr Handy hervor und griff auf Leos Nummer zu. Nach dem zweiten Läuten meldete er sich.
„Hallo, du Nachtschwärmerin.“
„Woher weißt du, dass ich es bin?“
„Mein Handy hat ein Display. - Wie war dein Tag?“
„So anstrengend, dass ich heute trotz der zahlreichen kulinarischen Sünden der letzten Wochen nur noch fähig war, mich auf das Fahrradergometer zu schwingen. Sollte ich mein Training künftig weiter so vernachlässigen, werde ich dank deiner Kochkünste noch dick und rund.“
„Ich liebe dich trotzdem.“
„Stehst du etwa auf Frauen, die vom Kalorienzählen so wenig Ahnung haben wie eine Nacktschnecke vom Tabledance?“
„Ich stehe auf dich. Dabei sind Äußerlichkeiten nebensächlich. Oder würde es dich etwa stören, wenn ich im Laufe der Jahre einen stattlichen Bauch bekäme?“
„Im Laufe der Jahre?“, wiederholte sie scheinbar verwundert. „Das klingt nach einem weitreichenden Konzept. Weihst du mich in deine Pläne ein?“
„Nur Geduld. Wenn die Zeit dafür reif ist, erzähle ich dir von meinen Hoffnungen und Träumen.“
„Darauf bin ich schon sehr gespannt“, sagte sie, obwohl sie seine Gedanken erahnte. „Wie hast du denn deinen Abend gestaltet?“
„Zuerst bin ich mit Quincy durch den Wald gelaufen. Später habe ich lange mit meinem Vater telefoniert.“
„Geht es ihm gut?“
„Ausgezeichnet. – Obwohl er bei seiner Traumfrau nicht so recht vorankommt.“
„Woran liegt es? Ist sie nicht interessiert?“
„Nach seiner Beschreibung ist sie nicht nur eine attraktive, sondern auch eine selbstbewusste Frau, die genau weiß, was sie will. Er hat von ihr geschwärmt wie ein Teenager. Sie ist wohl eine richtige Lady, in der aber auch ein Lausbub steckt.“
„Klingt sympathisch. Oder hat er ein Problem damit?“
„Nein, ihr vielseitiges Wesen hat ihn verzaubert, aber er traut sich nicht, ihr seine Gefühle zu gestehen.“
„Ist dein Vater so schüchtern?“
„Im Gegenteil: Normalerweise fliegen ihm die Herzen seiner Mitmenschen nur so zu. Irgendwie hat er in den Jahren des Alleinseins wohl verlernt, seine Gefühle auszudrücken. Außerdem hat er Angst vor Zurückweisung. Er fürchtet, die Dame zu verscheuchen, wenn er mehr als den Wunsch nach Freundschaft durchblicken lässt.“
„Was hast du ihm geraten?“
„Das Risiko einzugehen“, entgegnete er prompt. „Außerdem habe ich ihm vorgeschlagen, die Dame auf sein Landgut einzuladen. Solange sie im Hotel wohnt, bietet sich kaum die Möglichkeit, ungestört mit ihr zu sein. Stimmt sie aber zu, einige Ferientage auf dem Lande zu verbringen, ergibt sich vielleicht die Gelegenheit, einander näherzukommen. Dabei muss man ja nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen.“
„So schnell wie wir beide werden sie sich bestimmt nicht die Kleider vom Leib reißen“, sagte Antonia vergnügt. „Du warst ganz schön in Fahrt.“
„Nur ich?“
„Du hattest mich in Flammen gesetzt. Was hast du erwartet?“
„So viel leidenschaftliches Feuer mit Sicherheit nicht.“
„Überfordert dich das?“
„Nee ...“, lachte er. „Ich finde es großartig zwischen uns. – In jeder Hinsicht.“
„Mir ergeht es genauso. Es ist lange her, seit ich mich so ausgeglichen und unbeschwert gefühlt habe. Irgendwie ist jetzt alles so ... so stimmig.“ Ein kurzes Schweigen entstand. „Leo?“, fragte sie irritiert. „Bist du noch da?“
„Ja“, vernahm sie seine ernste Stimme. „Mir wurde eben bewusst, was wir beide gerade erleben, Antonia. Es erscheint mir wie ein Wunder, dass unsere Gefühle so sehr im Einklang sind. Noch vor kurzer Zeit wusste keiner von uns von der Existenz des anderen. Und plötzlich sind wir uns so nah.“
„Das ist die Magie der Liebe. Dagegen ist man machtlos.“ Mit Mühe unterdrückte sie ein Gähnen. „Allmählich sollte ich jetzt in mein Bett kriechen. Morgen früh ist die Nacht zu Ende.“
„Danke, Antonia.“
„Wofür?“
„Für das schöne Gefühl, vor dem Einschlafen noch mal deine Stimme zu hören. Du wirst mich in meine Träume begleiten.“
„Okay, treffen wir uns im Traumland. – Gute Nacht, Leo.“
„Dir auch, Antonia.“
Der Signalton des Weckers drang erbarmungslos in Antonias Bewusstsein. Noch im Halbschlaf tastete sie nach dem Störenfried und schaltete das immer eindringlicher werdende Piepen mit einem treffsicheren Schlag auf die Taste aus.
Obwohl sie am liebsten weitergeschlafen hätte, zwang sie sich, die Augen zu öffnen. Das morgendliche Aufstehen fiel ihr zunehmend schwerer. Ein Zeichen, dass sie sich in den letzten Wochen zu viel zugemutet hatte. Sie war eindeutig urlaubsreif und freute sich auf die Ferientage mit Leo.
Leise seufzend schlug sie die Decke zurück. Dabei wunderte sie sich, dass Quincy, nicht wie gewöhnlich ihr Schlafzimmer stürmte. Normalerweise tauchte ihr Hund spätestens mit dem Klingeln des Weckers auf. Offenbar war auch ihr Vierbeiner reif für die Insel.
Barfuß lief Antonia zum Fenster, zog die leichten Vorhänge zurück und öffnete es weit. Ihr war jedes Mal etwas unbehaglich zumute, wenn sie zum Hochsitz am Waldrand hinüberschaute. Aus einem unerklärlichen Grund fühlte sie sich von dort aus stets beobachtet. Rasch wandte sie den Blick zu Leos Domizil, aber auf dem Grundstück war niemand zu sehen.
Erst als sie später fertig angekleidet herunterkam, rief sie nach ihrem Hund.
„Quincy!? Wo steckst du denn?“
Ratlos blieb sie einen Moment lang vor dem Körbchen in der Diele stehen, bevor sie die Küche betrat. Zwar war ihr Mitbewohner auch hier nicht zu entdecken, dafür fand sie einen liebevoll gedeckten Frühstückstisch vor. Auf der Serviette lag eine duftende gelbe englische Rose; an der Tasse lehnte eine Karte.
Guten Morgen, mein Schatz!
Es war wundervoll im Traumland mir dir.
Ich liebe dich - Leo
P.S. Quincy habe ich schon mitgenommen,
damit du in Ruhe dein Frühstück genießen kannst.
„Dieser Mann ist einfach unglaublich“, murmelte Antonia lächelnd, füllte ein Glas mit Wasser und stellte die Rose hinein. Ohne Eile widmete sie sich ihrer ersten Mahlzeit des Tages.