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An der Etappenstraße

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Am dritten Tage wurden wir Truppen der vordersten Linie abgelöst. Seit zweiundsiebzig Stunden lag die Infanterie im Schützengraben, die Kanoniere hinter den Geschützen. Das langt, wenn man seit drei Wochen im Felde steht, in täglicher engster Fühlung mit dem Feind.

Seltsam ist es, wie rasch sich die Begriffe ändern, Ungewohntes zur Gewohnheit wird. So vermisste man in den ersten Rasttagen beinahe etwas, als nicht zum Morgen- und Abendgruß die französischen Granaten vor Tür und Fenster krachten. So erstaunte man, dass Orte existierten, in denen es noch reichlich Lebensmittel gab, sogar richtiges Brot, und in denen — wahr und wahrhaftig — frisches Bier verzapft wurde.

Die Batterien kampierten vor dem Ort, und gleich am nächsten Morgen holten Sattler, Schuster und Schneider ihr Handwerkszeug von den Vorratswagen und begannen ein fieberhaftes Arbeiten. Drei Wochen Feldzug verspürt auch die neueste Ausrüstung: da gibt es manchen Riss zu flicken, manchen Riemen zu nähen. Die Feldschmieden lohten unter dem Blasebalg. Der Beschlag der Pferde kann erneuert, diese selbst vom Veterinär gründlich untersucht und in Kur genommen werden. Man baut sich behagliche Zelte, kocht nicht in Eile, sondern mit Sorgfalt und Raffinement sein Essen und kann sich vor allem waschen und seine Unterkleider wechseln.

Glonville ist unser Rastort, unweit Baccarat, das wir vor Tagen in siegreichem Vorgehen passiert. Jetzt erinnern hier nur mehr der ferne Kanonendonner sowie die zusammengeschossenen Häuser an den Krieg. Im Übrigen sind die Dörfer sauber aufgeräumt, die Leichen und Pferdekadaver eingegraben, und an den Straßen, die nach der Heimat hin führen, ist der ganze vielfältige und komplizierte Dienst der Etappen eingerichtet, der dazu dient, die Kriegsmaschine in Gang zu halten.

Die leichten Munitionskolonnen, die Lebensmittel- und Futterwagen sind sonst das einzige, was der Frontsoldat von dem ganzen Verpflegungs- und Nachschubdienst sieht. Er schimpft, wenn er nicht richtig funktioniert, aber er hat nur eine sehr unklare Vorstellung von seinem Umfang und seiner Vielseitigkeit. Einen kleinen Begriff davon bekommt der Ordonnanzoffizier, der bei eiligem Nachtritt zwischen die Kolonnen und Trains gerät. Endlose Wagenzüge kommen von der Front, ziehen dorthin: leere Kolonnen, die zu den Munitionsdepots fahren, gefüllte, die zur Front zurückkehren, Sanitätswagen und Bauernfuhrwerke mit Verwundeten, Feldküchen, große Bagagen und Fuhrparkkolonnen in unabsehbarer Folge.

Jedoch in ihrer ganzen Größe ermessen kann man diese Organisation erst, wenn man sie hier an den Etappenstraßen arbeiten sieht, einige Ziffern hört, die den täglichen Bedarf auch nur eines Armeekorps ausmachen. Was ist alles nötig an Etappen, an Depots und Magazinen, an Lazaretten und Pferdesammelstellen, um die Truppen da vorn schlagfertig und frisch zu erhalten. Sie sind die glänzende Fassade des tief gegliederten Heereskörpers, aber sie ist wehrlos, wenn die Kolonnen mit frischer Munition ausbleiben, sie geht zugrunde, wenn der Nachschub versagt. Bewundern muss man die Leistungen von Train und Intendantur, man mag mitunter auch ihre Offiziere und Mannschaften beneiden, wenn man sieht, wie viel bequemer und besser als wir sie in Sicherheit hinter der Front leben, aber tauschen — tauschen möchte doch keiner von uns mit ihnen.

Nicht nur der Körper ruht in diesen Tagen. Was zurückgedrängt war von den Eindrücken täglicher Kämpfe, kehrt wieder, die Erinnerung an das Leben, das wir mit dem Tage verließen, als wir ins Feld zogen, und das so weit, ach so weit zurückliegt.

Opfer hat der Sieg gekostet, aber keine Zeit zur Trauer blieb. Zwei Freunde reiten am Morgen nebeneinander, am Abend ist der eine tot. Jetzt erst ist des Krieges Not in furchtbare, persönlichste Nähe gerückt: Tot! Und ritt am Morgen doch an meiner Seite, erzählte, lachte noch! —

Hinter der Front, im ganzen Etappengebiet, liegen die Lazarette: Feldlazarette erst, dann die Kriegslazarette. Und weiter geht der Strang, der von der Front das Leid nach rückwärts führt bis in die Heimatslazarette im eigenen Land.

Jetzt erst ist Zeit, nach den Kameraden zu sehen, die die Kugel traf. Freilich, die Leichtverwundeten sind schon fort, was irgend transportfähig war, ist nach rückwärts geschafft. Nur die Schwerverwundeten liegen noch in den Feldlazaretten. Drei Feldlazarette sind in Acereilles, unweit Glonville. Eine ehemalige Spinnerei ist das eine. Still ist es jetzt in den Sälen, in denen vor wenig Tagen noch tausend Spindeln schnurrten. In Reihen aufmarschiert stehen hintereinander die Maschinen, verlassen und tot, noch Garn auf den Spulen. Bläuliches Licht fällt durch die Fenster, dämpft wohltuend die grelle Helle des Tages über den Strohschütten, auf denen die stummen Männer liegen. Im nächsten Lazarett ist ein Regimentskamerad gebettet. Ein Granatsplitter zerriss den Leib. Bleich und eingefallen ist das Antlitz, das die Bartstoppeln decken. Und doch wieviel rührende, beschämende Dankbarkeit leuchtet darin für den kurzen Augenblick, den der Gesunde dem Schwerverletzten schenkt. Im Torbogen noch eine Frage an den Arzt: „Wird er durchkommen?“ Gewohnheitsmäßig zucken die Achseln: „Wir hoffen.“

Bitter, bitter steigt es im Herzen auf. Es muss heruntergewürgt werden. Ungeduldig scheuen die wartenden Pferde.

Seit ein paar Tagen stehen sie untätig. In die Bügel, und köstlich fühlt der Körper unter sich den bebenden Pferdeleib, spürt den Willen, der sich dem eigenen beugt.

Nie war stärker, unmittelbarer das glückselige Gefühl zu leben. Und während das Pferd zum Galopp ansetzt, füllt nur ein Gedanke Sinn und Herz: O leben! leben! leben!

Wir draußen

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