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Im Schützengraben vor Lihons
ОглавлениеDas ist das Abendkonzert: Es mag früher oder später einsetzen. Wir mögen noch beim Abendessen sitzen oder friedlich ruhen. Es beginnt mit tödlicher Sicherheit, wie die Sonne aufgeht oder untergeht. Mit ein paar vereinzelten Schüssen hebt es an. Dann wird das Prasseln heftiger und heftiger, läuft an den Linien entlang wie der Funken an der Zündschnur. Nach einer gewissen Weile setzt das Artilleriefeuer ein. Zuerst unterscheidet man noch das Krachen jedes einzelnen Schusses, aber bald fließt der Klang zu einem gleichmäßigen rollenden Donner zusammen.
Dann spielen alle Telefone von den Stäben zur vorderen Linie. Frage und Antwort geht hin und her. Hier oder da sind Patrouillen auf den Gegner gestoßen. Man hat Arbeiten in den feindlichen Schützengräben bemerkt und sucht sie zu stören. Oder es waren auch nur die Signalschüsse eines vorgeschobenen Lauschpostens, dessen überreizte Nerven ihm das unheimliche Geräusch herankriechender Sturmkolonnen vortäuschten. Aus dem geringfügigsten Anlass entstand schon das heftigste Feuer. Als die Unsern mit lautem Hurra den Fall Antwerpens begrüßten, als das Nachbarkorps den Geburtstag seiner Landesfürstin feierte, da hob der Gegner ein fürchterliches Feuer an. Unsere Truppen hatten die Nerven, es ruhig über sich ergehen zu lassen, ohne es zu erwidern, mit der stillen Freude, dass die da drüben tüchtig Munition verplemperten.
Mit der Zeit bekommt man eine vollkommene Ruhe, wenn die Franzosen ‘auch wirklich ernsthaft angreifen. Mögen sie es nur recht oft tun. Was Besseres können wir uns gar nicht wünschen. Wo sie es bisher auch immer versuchten, überall wurden sie mit blutigen Köpfen zurückgeschlagen.
Wenn das Knattern und Rollen eine Weile gedauert hat, flaut es wieder ab. Das Donnern des Artilleriefeuers löst sich in einzelne dumpfe Klänge auf, die nacheinander verhallen. Das Prasseln wird schwächer und schwächer. Behaglich dehnt man sich wieder auf seinem Lager. Von Zeit zu Zeit löst sich noch ein dumpfer Knall, der die Fenster erklirren und das Haus in seinen Fugen zittern lässt. Es ist eine schwere Haubitzbatterie, die dicht hinter dem Dorfe steht, in dem unser Stab liegt. Sie löst von Zeit zu Zeit einen Schuss, die ganze Nacht hindurch, um den Feind nicht zur Ruhe kommen zu lassen.
Plum! verlässt wieder eine Granate ihr Rohr. Schon halb im Schlaf hört das Ohr das Sausen des Geschosses, das gerade über unseren Hof fliegt. Ah! Das ist eine angenehme Musik. Die wiegt einen herrlich in Schlummer. Der Traum spiegelt das Krachen vor, mit dem das Geschoss über den Köpfen der Feinde zerspringt, und wir entschlummern, ein glückliches Lächeln der Befriedigung auf den Lippen. . .
Jeden Morgen, noch solange es dunkel ist, geht es zur Befehlsstelle der Infanteriebrigade am Wäldchen als Verbindungsoffizier hinaus. Da laufen die Rapporte der Regimenter über die Ereignisse der Nacht ein. Man macht einen kurzen Trab am Waldsaum entlang; denn es ist empfindlich kühl, und überdies ist tagsüber die Beweglichkeit der feindlichen Kugeln und Flieger wegen ein wenig eingeschränkt. Dann färbt sich der Himmel rosa, gelb und purpurn, und über dem Geäst des Waldes hebt sich die glühend rote Kugel, nach deren segnender Wärme wir uns alle sehnen.
Unsere „Sommervillen“ am Waldesrand sind mit der Zeit recht hübsch hergerichtet worden. Bequeme, strohgepolsterte Lehnsessel sind in den Boden geschnitten, Tische und Bänke aufgeschlagen. Und alles ist sorgfältig mit Laub verkleidet. Feindliche Flieger, Franzosen und Engländer, schwirren häufig über unseren Köpfen. Bisher geht der tägliche „Abendsegen“ um hundert Meter seitwärts vorbei, und es ist durchaus unerwünscht, dass die gegnerische Artillerie — es ist auch eine schwere englische Batterie dabei, kenntlich an der Reihenfolge von sechs Schuss hintereinander und an den großen gelben Rauchwolken — unseren wirklichen Standpunkt erfährt und ihr Feuer um hundert Meter nach links verlegt.
Sonst ist unser Leben hier ganz behaglich, wenn auch Führer und Truppe vor Ungeduld darauf brennen, dass es wieder vorwärts geht. Nur in den ersten Tagen gab es eine kleine Aufregung. Die Stellungen waren noch nicht ausgebaut, und es gelang den Franzosen, mit einem Bataillon durchzubrechen. Allerdings schloss sich die Lücke wieder und die Eingedrungenen waren abgeschnitten. Man wurde ihrer erst so richtig am anderen Morgen gewahr, da sie sich die Nacht über ruhig im Walde versteckt hielten. Patrouillen stöberten sie auf und in Trupps fing man sie nacheinander ab. Da die Franzosen sich abgeschnitten sahen, leisteten sie keinen Widerstand, bis auf eine Kompagnie. Die streckte erst die Hände in die Höhe und schoss dann die herankommenden deutschen Soldaten nieder, die ihr die Waffen abnehmen wollten. Die Strafe folgte auf dem Fuße, denn die übrigen Deutschen knallten die zusammengedrängte Gruppe in kurzem Schnellfeuer zusammen, ohne Pardon zu geben. Nicht einer blieb am Leben.
Als der erste Gefangenentrupp, einhundertundzwanzig Mann und ein Offizier, vor den General geführt wurden, pfiffen noch einzelne Kugeln herüber. Wir achteten nicht darauf. Die Gefangenen waren alte Bekannte. Das Regiment war uns bei Baccarat gegenübergestanden. Freilich war es arg dezimiert und durch Territorialtruppen — kenntlich an der höheren Nummer — aufgefüllt.
Die Gefangenen sahen teilweise recht heruntergekommen aus. Sie erzählten, dass sie in aller Eile hierher transportiert und nach dem Ausladen gleich ins Gefecht geschickt worden seien. Sie waren es, die die uns gegenüberstehende Kavalleriedivision verstärkten und unseren Vormarsch hemmten. Dieser Krieg ist ein Krieg der Bahnen. Die Truppen werden mit einer unerhörten Beweglichkeit hin und her geworfen. Und leider sind die Franzosen, welche in ihrem Rücken über ein intaktes enges Bahnnetz verfügen, uns gegenüber im Vorteil.
Unter den Gefangenen war auch ein Gymnasialprofessor, der fließend Deutsch sprach. Es war ein kleines, zartes Männchen mit einer Brille. In der gefassten, zu weiten Uniform, das Gesicht mit den Bartstoppeln seit Tagen ungewaschen, sah er recht kümmerlich und kläglich aus. Er klagte wie die übrigen über Hunger. Seit zwei Tagen hatten sie nicht ordentlich zu essen bekommen. Als sie merkten, dass ihnen nichts geschah, wurden sie jedoch recht aufgeräumt munter und plapperten in der ungeniertesten Weise darauf los. Man hatte ihnen gesagt, dass die Deutschen alle Gefangenen füsilierten, und als sie von den deutschen Erfolgen im Osten hörten, ging ein ungläubiges Staunen durch die Reihen. Sie wähnten die Russen bereits vor Berlin.
Ein Offizier, der seine Uhr verloren, wollte von den Gefangenen eine erstehen. Ein Mann bot ihm mit liebenswürdiger Bereitwilligkeit die seine an, verweigerte aber strikte die Annahme jeglicher Bezahlung dafür. Doch Brot und Wurst nahm er gerne. Ehe er selber aß, bot er den Kameraden an und teilte so lange aus, bis ihm nichts blieb als ein winziges Stückchen.
Wir sprachen noch mit den Gefangenen, als plötzlich unvermutet ein Unteroffizier vom Telefontrupp rücklings hinschlug. — „Ah, ein Epileptiker“, meinte einer der Gefangenen. Richtig, der Mann wand sich in Krämpfen. Aber als man zu ihm trat, lag er steif und still. Im Rücken zeigte sich ein kleines Loch. Nur wenig Blut klebte daran. Die Kugel war ihm mitten ins Herz gegangen. Irgendeine verlorene Kugel, die durch den Wald geschlagen war und noch so viel Kraft besaß, ein junges Leben zu töten. So dumm ist solch Geschehen, so sinnlos dumm! — Es war ein prächtiger junger Bursch. Im Wald haben wir ihm ein Grab gegraben und frische Blumen darauf getan.
*
Morgenkühle streicht mit dem ersten Dämmern über das Feld. Unbestimmt, unwahrscheinlich groß tauchen aus dem Nebel die Wipfel des Waldes, in dem der Feind liegt.
In ruhigem Jagdgalopp setzt der Gaul über die Stoppelfelder — auf den ungedroschenen Ähren liegen jetzt deutsche Soldaten in den Schützengräben —, der Körper wird warm und die Seele weit. — „Es gibt kein schöneres Reiten als mit dem Morgenwind.“
Der letzte Sturm auf Lihons brachte unsere Linie bis dicht an den Ortsrand. Das zur Festung umgewandelte Dorf selbst zu nehmen, war ohne allzu große Verluste, die nicht geopfert werden sollten, unmöglich. Drahthindernisse und Stolperdrähte hemmten den Ansturm; Wolfsgruben lind Minen forderten Opfer. Der Feind warf mit Handgranaten und brennenden Zündern, welche die Getroffenen in Flammen aufgehen ließen. Bereits in die Ortschaft eingedrungene kleinere Abteilungen wurden von starken in Bereitschaft gehaltenen Reserven wieder hinausgeworfen. Aber es gelang wenigstens, den Gegenstoß aufzuhalten, sich vor dem Ort einzugraben und so das gewonnene Gelände zu behaupten. Jetzt trennt ein breiter Streifen offener, eingesehener Felder die vorgeschobenen Schützenlinien von den rückwärtigen Stellungen. Bei Tage sind die da vorn abgeschnitten. Der ganze Verkehr ist nur in der Nacht oder in der Dämmerung möglich.
Es ist spät im Jahr und die Dämmerung liegt lange auf den taufeuchten Feldern, allein die Pferde bleiben doch besser hinter der letzten Deckung zurück.
Die Taubläschen an den Zuckerrüben könnten Blutstropfen sein. So reichlich ist es hier geflossen. Ein jeder Zollbreit Boden ist teuer erkauft. Den gleichen Weg nahm beim ersten Angriff auf Lihons eine Kompagnie, die ein Artillerieoffizier begleitete. Er sollte von der Schützenlinie aus das eigene Artilleriefeuer lenken. Als alle Offiziere seiner Kompagnie gefallen und er den letzten, einen Kriegsschulkameraden, schwer verwundet zurückgebracht, sammelte er die im schweren Feuer zurückgefluteten Truppen und führte sie wieder vor.
Ein tief eingeschnittener Hohlweg nicht weit hinter der Schützenlinie bildet eine gute Deckung. Es ist lange darum gekämpft worden. Jetzt liegt der Kommandeur des linken Flügelbataillons hier mit dem Unterstützungstrupp. Die Mannschaften schlafen noch, am Wege, in Erdlöchern, in Mäntel und Zeltbahnen eingewickelt, die Offiziere mitten darunter.
Der Bataillonsadjutant geht mit in die vordere Linie. Die Straße mit den hohen Bäumen zu beiden Seiten führt schnurgerade nach Lihons hinein. Rechts und links liegen tote Franzosen. Es war noch keine Zeit, sie zu begraben. Am Wegkreuz, wo die Leichen am dichtesten liegen, sieht ein gekreuzigter Christus auf die Toten herab. Fast unheimlich lebensvoll ist der Leib des Erlösers geschnitzt und bemalt.
Zu beiden Seiten stoßen die Schützengräben an die Straße. Hier endet der Weg. Neben uns, hinter einem Baumstamm gedeckt, feuert ein Posten. Er hat wohl drüben etwas Verdächtiges bemerkt. Im nächsten Augenblick kommt die Antwort. Die Kugel pfeift vorüber und schlägt hart am Boden auf. Dann ist es wieder still.
Freund und Feind liegen in Schützengräben auf zweihundert Meter, auf hundert, ja auf achtzig und sechzig, einander gegenüber. Des Nachts ist alles auf beiden Seiten des feindlichen Angriffs gewärtig. Des Tages bleiben die Mannschaften ruhig auf der Grabensohle. Nur wenige Posten stehen auf der Lauer, schmiegen sich sorgsam an die Deckung und lugen vorsichtig zum Feinde hinüber, ob sich dort nicht ein Unvorsichtiger zeigt. Im nächsten Augenblick kracht der Schuss.
Der große Krieg hat aufgehört, der Buschkrieg ist an seine Stelle getreten. Mit allen Mitteln, mit allen Listen sucht man dem Feind zu schaden. Vor allem probiert man, sich gegenseitig mit Baumposten beizukommen, die von oben in die Gräben wirken können. Es ist ein Kampf der Scharfschützen geworden. In dem Feuer der geschlossenen Schützenlinien können diese sich nicht auszeichnen; jetzt kommen ihre Fähigkeiten zur Geltung. Einer, dessen Ruf in wenigen Tagen weit gedrungen ist, naht gerade, um seinen Posten, hoch oben in einem Baumwipfel, noch bei Dunkelheit einzunehmen. Es ist ein untersetzter, breitschultriger Kerl mit einem struppigen, roten Bart. Die Uniform ist ihm beim Baumklettern zerrissen. Er sieht verwegen und ein wenig verwildert aus. Wegen Wilderns ist er schon in Oberhaus gesessen, und im Friedensdienst kam er aus den Strafen nicht heraus. Aber Schneid hat er und trotz heftigen Feuers klettert er jeden Morgen auf seinen Baum. Bisher haben sie ihn nicht erwischt, er aber hat bereits nicht mehr und nicht weniger als nachweislich einhundertsiebzehn Franzosen abgeschossen — Menschenjagd! Sie ist ein Sport geworden. Kein schöner, aber ein bitter nötiger. Auf jeden Mann mehr oder weniger kommt es an.
Als wir hierher marschierten, standen wir nahezu am äußersten rechten Flügel, jetzt gehören wir beinahe schon zum Zentrum. Korps auf Korps ist rechts von uns nach Norden hinaufgeworfen. Wie ein Gummiband hat sich die Front gedehnt. Jetzt reicht sie von den Vogesen bis ans Meer. Beide Gegner wetteiferten in dem Bemühen, sich zu umgehen, einer doch nur die Anstrengungen des andern erwidernd.
Nun ist jedem weiteren Versuch eine natürliche Grenze gezogen. Das Meer ruft Freund und Feind ein Halt zu. Nur der frontale Angriff, der Durchbruch bleibt. Auch die Franzosen müssen zu ihm greifen, wenn sie sich nicht ganz in die Defensive zurückziehen und damit jede Hoffnung auf Sieg aufgeben wollen.
Durchbruch! In seiner Erwartung haben sich Deutsche und Franzosen — im wörtlichen Sinne — bis an die Nase eingegraben. Und je länger die Operationen sich hinziehen, desto stärker werden die Stellungen ausgebaut, desto schwieriger und verlustreicher wird der Angriff.
Jeder Tag kann ihn bringen. Aber wo wird er sein? Wo wird die Entscheidung fallen? Niemand weiß es. Ein undurchdringlicher Schleier liegt über den Absichten der Obersten Heeresleitung, der sich kaum vor den höheren Truppenführern um ein weniges lüftet. Mit größter Sorgfalt werden alle Truppenbewegungen und -Verschiebungen verborgen gehalten.
Inzwischen geht der Kampf auf der ganzen Front weiter. Man sucht sich möglichst zu beunruhigen und zu schaden. Da oder dort wird ein Vorstoß gemacht, ein Dorf weggenommen oder um eine günstige Position erbittert gerungen. An einer Stelle sind die Franzosen im Angriff, an einer anderen wir. Allein, mag der Kampf auch noch so heftig sein, die Verluste auch noch so groß, es sind doch nur Detailkämpfe, lokale Erfolge.
Die Entscheidung wird nun, wo eine Umgehung nicht mehr möglich ist, durch einen frontalen Angriff fallen. Dieser kann in einem starken Druck auf einen der beiden Flügel bestehen, der die feindliche Front aufrollt, oder in einem Durchbruchsversuch im Zentrum. So wie die Heere sich gegenüber stehen, kann nur eine starke Überlegenheit an einem Punkte den Erfolg bringen. Alles hängt davon ab, ob es gelingt, unbemerkt große Truppenmassen zu verschieben resp. derartige Bewegungen rechtzeitig zu erkennen und ihnen zu begegnen. In ihren jetzigen Stellungen kann sich die Infanterie gegenseitig wenig anhaben. Das heftigste Gewehrfeuer kann einem im Schützengraben gedeckten Gegner kaum schaden. Die Feuerüberfälle von Baumposten usw. lernt man mit der Zeit parieren. Entscheidende Wirkung kann nur die Artillerie haben, und alles wird jetzt von ihr erhofft und — verlangt.
Das innige Zusammenarbeiten von Infanterie und Artillerie ist in den letzten Jahren wohl zur Genüge gelehrt und gefordert worden. Allein der Krieg brachte doch erst die Probe aufs Exempel und entwickelte allmählich die Formen, unter denen sich dieses Zusammenarbeiten am besten vollzieht.
Zur Unterstützung der Infanterie und zur Abwehr eines möglichen Angriffs werden einzelne Batterien und Züge bis in die Schützenlinie vorgenommen. Gestern brachte ein Zug, der am hellen Tage offen zwischen der Infanterie auffuhr, einen flankierenden Gegenangriff der Franzosen zum Stehen, der unserer Infanterie schon recht zu schaffen machte.
Die beiden Geschütze brachen im Galopp aus dem Hohlweg vor. Ihre einzige Deckung war die Verblüffung der Feinde. Beide Bespannungen blieben zwar liegen, aber sie kamen zum Feuern und die Franzosen mussten zurück.
Freilich, diese vorgeschobenen Geschütze sind sehr exponiert. Die feindliche schwere Artillerie setzt alles daran, sie zu vernichten. Ihr Mündungsfeuer verrät sie, und wenn sie sich auch nach Möglichkeit zu decken und zu verbergen suchen, häufig entdeckt sie doch ein schwirrender Flieger.
Kurze Zeit nach seinem Besuch geht dann ein heftiges Granatfeuer los. Groß ist die Freude, wenn eine Scheinanlage den Gegner narrt und die schwarzen Trichter der Rimailhos einige hundert Meter daneben aufwirbeln. Aber oft genug haben sie uns leider dennoch erwischt, und in mehr als eine Batterie sind zwei Volltreffer hintereinander geschlagen, die das Geschütz zerschmetterten und den Munitionswagen in heller Flammengarbe auflohen ließen.
Wohl gräbt man die Batterien nach Möglichkeit ein, aber gegen die schweren Granaten geben feldmäßige Deckungen nur ungenügenden Schutz. Erst ganz vor kurzem war’s, da überfielen französische Rimailhos mitten in der Nacht eine unserer Batterien, und gleich einer der ersten Schüsse ging in den Beobachtungsstand und durchschlug die Eindeckung. Die in dem niederen Raum krepierte Granate zerriss den wachthabenden Offizier, einen lieben Kameraden, samt allen Kanonieren.
*
Ein wunderschöner Laufgraben führt jetzt in die Schützenlinie. Vor ein paar Tagen pfiffen die Kugeln noch, wenn man bei einem Morgenbesuch in der vorderen Linie allzu säumig gewesen und der bergende Nebelschleier begonnen hatte, sich zu teilen, ehe man den schützenden Wald erreicht.
Aber jetzt kann man zu jeder Tageszeit ungefährdet hin und her passieren. In ein paar finsteren Nächten haben die Pioniere den fast tausend Meter langen Sappenweg gegraben. Durch den Wald ist eine Kolonnenstraße geschlagen. Ein lustig flatterndes weiß-blaues Fähnchen zeigt an, wo man an dem Rübenacker in das Dickicht einbiegen muss. Und an jeder Biegung, an jeder Kreuzung weisen weiter Fähnchen den Weg und künden, dass hier gut Bayern ist. Die Franzosen selbst haben diese Wegweiser in unseren Landesfarben liefern müssen. Sie fanden sich auf der Maine und mochten sonst am Nationalfeiertag zur höheren Gloire de la France feierlich blau-weiß-rot geprunkt haben. Mit unbekümmerter Selbstverständlichkeit haben die Pioniere das Rot abgetrennt und gut bayerische weiß-blaue Fahnen daraus gemacht.
Auf einmal senkt sich der Weg; wie in eine Grube, einen Schacht geht es hinunter. Das schützende Buschwerk hört auf, die Sappe beginnt. Schnurgerade läuft sie gegen den Feind, allein alle paar Schritte macht sie einen scharfen Knick. Rechtwinklig springt eine starke Schulterwehr vor, die dem Feinde die Einsicht in den Graben nimmt und seine Kugeln auffängt. So geht es im Zickzack immer hin und her. Die aufgeschüttete Erde ragt hoch über den Kopf. Die Grabenwand ist lehmig und feucht. Kröten und Frösche hüpfen auf seiner Sohle. Die ersten hebt man wohl auf und setzt sie auf die Böschung, damit sie nicht von groben Soldatenstiefeln zertreten werden. — Mitunter lässt einem der Krieg Zeit zu Mitgefühl mit der armseligen Kreatur, und dann ist es doppelt groß. Allein es sind ihrer zu viele, und der Fuß schreitet achtlos über sie hin.
Hin und her führt der Weg, schier endlos. Endlich zweigen Latrinen ab, das erste Anzeichen der Stellung. Dann kommen Deckungsgräben für den Unterstützungstrupp mit dem Unterstand des Bataillonskommandeurs. Doch der Führer ist vorn in der Linie.
Der Schützengraben überquert die Landstraße. So steinhart ist hier der Boden, dass man ihn nicht auf volle Mannestiefe ausheben konnte. Gebückt muss man hinüberlaufen. Drüben im Unterstand sitzen Kompagnie- und Bataillonsführer beisammen. Es ist kein Ende abzusehen, wie lange die Division noch vor Lihons liegt. So haben sie sich den Raum mit der Zeit ganz gemütlich hergerichtet. Tisch und Bank sind aufgeschlagen und die Häuser des nahen Chaulnes haben Matratzen, Decken und sogar Bilder zur Ausschmückung der kahlen Wände liefern müssen. Die Feldpost bringt ihre Gaben bis hierher, — hundertfünfzig Meter vorm Feind, und auf dem Spirituskocher kann man recht gut einen Nachmittagskaffee bereiten.
Auch die Mannschaft liegt schusssicher in geräumigen Untertreträumen. Sie sind sauber mit Bohlen abgedeckt und mit Stroh ausgelegt. Die Leute liegen trocken und bequem darin. Das ist freilich alles erst jüngeren Datums. Die Truppen liegen schon über vierzehn Tage vorm Feinde. Erst mit der Zeit und mit Hilfe der Pioniere konnte die Stellung so ausgebaut werden. Die erste Zeit schützte vor Kälte und Nässe bloß der Mantel, — und die Nachte sind schon bitter kalt jetzt. Die Verpflegung konnte nur in der Dunkelheit vorgebracht werden. Abends um neun Uhr wurden warmes Essen und Kaffee in Feldkesseln vorgetragen. Oft erhielten die Träger Feuer; dann gab’s Verzögerungen und das Essen kam lau oder kalt in die Stellung. Und dann gab es für die nächsten vierundzwanzig Stunden überhaupt nichts mehr. Nach einer Nacht auf kaltem harten Boden schüttelt die mit dem neuen Tag einsetzende Morgenkühle die starren Glieder. Wenn dann der wärmende Trunk fehlt, das ist bitter.
Auch jetzt noch ist dies tagelange Liegen in den Schützengräben keine Kleinigkeit. Sie sind das reine Gefängnis. Jede Bewegung ist abgeschnitten; denn es sind nicht so viele Leute da, um einen Teil zum Spazierengehen zu beurlauben. Jede Möglichkeit fehlt, sich zu reinigen, die Wäsche zu wechseln. Und vor allem: Wenige Meter entfernt liegt der Feind, ein wachsamer, unnachsichtiger Feind, der für jede unvorsichtige Bewegung eine Kugel hat. Und ist der Achtsame auch sicher vor Infanteriegeschossen, so gelingt den feindlichen Batterien doch ab und zu ein Volltreffer in die Gräben. Dann heißt es ruhig und wehrlos ausharren und zusehen, wie liebe Kameraden von Granaten zerrissen werden, ohne ihnen helfen, ohne sie rächen zu können.
Kein Augenblick in Ruhe, keine Minute in Sicherheit. Jede Nacht kann einen feindlichen Angriff bringen. Jede Nacht steht ein Drittel der Leute schussbereit im Graben. Ihre Augen starren angestrengt ins Dunkel. Die übrigen liegen neben ihnen, das Gewehr im Arm. Nur wenige Minuten bleiben zur Abwehr eines plötzlich heranstürmenden Gegners. Jedes Gewehr muss sofort zu seiner Abwehr eingesetzt werden. Jede Nacht prasselt das Gewehrfeuer los. Jeden Augenblick droht der Sturm. Nur kurze Spannen eines unruhigen, nervösen Schlummers, den jähes Aufschrecken endet. Das zerrt an den Nerven.
Und doch ist die Stimmung glänzend. Nichts von Ermattung, Überdruss oder Nervosität! Alle Unbilden haben den Mannschaften nicht ihren guten Humor nehmen können. Soweit sie nicht schlafen, hocken sie vergnügt beisammen und spielen Tarock.
Die Posten lugen vorsichtig über die Deckung, nur so lange, dass drüben keine Zeit bleibt, auf den sich zeigenden Kopf zu zielen. Oft schlägt die Kugel ein, eine Sekunde, nachdem der Beobachter sich wieder geduckt, und manchen traf sie in die Stirn, der zu lange verweilt.
Die Sappe führt an der Hauptstellung noch eine Strecke weiter nach vorwärts. In einem Seitengraben steht ein Minenwerfer. Das sind kleine, plumpe Mörser, die auf nahe Entfernungen Minen von einem Zentner und mehr Gewicht werfen. Die Minen explodieren im Auftreffen mit mächtigen Rauchwolken und lautem Krachen. Es ist nicht leicht, mit ihrem so kleinen Ziel die feindlichen Erdbauten zu treffen. Erreichen sie aber ihr Ziel, so sind sie von fürchterlicher Zerstörungskraft.
Einige Meter vor dem Minenwerferstand endet die Sappe. Um ihren Kopf vor Überraschungen zu sichern, ist sie rechts und links zu einem kurzen Schützengraben ausgebaut. Man hat dasselbe Gefühl wie im Bergwerk, wenn man „vor Ort“ steht, am Ende des Stollens, wo die großen Bohrmaschinen stehen, die unaufhörlich den Gang weiter durch die Erde treiben.
Hier endet der Stollen. Nur durch die Erde ist weiteres Vordringen möglich. Auf achtzig Meter gegenüber liegt der Feind. Hier ist die Brustwehr doppelt stark und mit Sandsäcken versichert. Zwischen den Säcken sind viereckige Löcher ausgespart, in denen auf Auflagern die Gewehre schießbereit liegen. Es ist der reine Scheibenstand. Ab und zu tritt auch der Kompaniechef heran und feuert einen Schuss ab.
Durch die viereckigen kleinen Löcher sieht man hinaus. Drüben liegt Lihons. Man sieht zwischen dem Buschwerk nur Trümmer. Die Granaten der schweren Haubitzbatterien und die Minen haben keinen Stein auf dem anderen gelassen. Aber unter den Trümmern hat sich der Feind eingenistet. Ein zäher, tapferer Feind, der ruhig im Granatfeuer ausgeharrt, und den nur das Bajonett aus seinen Stellungen vertreiben kann. Alpentruppen und Schwarze sind dabei.
Wie tot und erstorben sieht der zerschossene Marktflecken aus. An seinem Rande ziehen sich die feindlichen Schützengräben hin. So versteckt sind sie zwischen den Hecken, dass nichts von ihnen zu sehen ist. Was man sieht, ist hier und da ein kleiner viereckiger schwarzer Fleck. Das ist ein Loch, wie wir sie haben; darin liegt ein Gewehr, und dahinter steht möglicherweise ein Kopf. Dahin feuern wir von Zeit zu Zeit, wie die drüben gegen uns.
So liegen sich beide Heere gegenüber, auf der ganzen langen Front. Alles Sinnen und Trachten dient nur dem einen Ziel, wie dem Feinde möglichst Abbruch getan werden kann, und bei der nahen Entfernung, auf der man sich gegen» überliegt, bekommt der Krieg etwas von der persönlichen Erbitterung eines Kampfes Mann gegen Mann.