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Von Lothringen nach Nordfrankreich Fahrt ins Ungewisse

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uf einmal war das Gerücht da. Niemand wusste, wer es aufgebracht, woher es kam. Aber es war da und hielt sich hartnäckig: „Wir kommen fort.“ Es gab Tage bangender, hoffender Erwartung. Die Aussicht, eine langwierige Belagerung gegen Epinal durchzuführen oder gar nur als Beobachtungs- und Sicherungstruppen vor den Fortslinien liegenzubleiben, hatte für Feldartilleristen wenig Verlockendes. Also fort, nur fort, gleichgültig wohin.

Was man hofft, glaubt man gern. Allein die Sache hatte schon was für sich. Mancherlei sprach für die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit eines Abtransportes.

Unsere Front wurde mit jedem Tag schmaler und schmaler. Von links schoben sich Badenser herein, von rechts Preußen. Die wenigen Truppen, die noch in vorderster Linie standen, konnten mit Leichtigkeit abgelöst und so das ganze Korps herausgezogen werden.

Und auf einmal — wir hatten gerade den Sieg von Reims gefeiert — war der Befehl zum Abmarsch wirklich da. Als der Regimentsstab seinen Beobachtungsstand verließ, sandten uns die Franzosen einen warmen, wohlgemeinten Abschiedsgruß nach. Aber wir waren hinter der Höhe, ehe uns die Schrapnellkugeln erreichten.

Mit Anbruch der Dunkelheit rückte das Regiment ab und marschierte die Nacht durch — der feindlichen Flieger wegen. Das Marschziel war weit gesteckt, nahe der Grenze, allein es ließ sich nicht daraus entnehmen, wohin die Fahrt ging.

Wir kommen fort; aber wohin? — Nach Russland? Das war weniger erwünscht. Vor Verdun? Oder nach Antwerpen? Gegen eine englische Landungsarmee? Alle Möglichkeiten wurden besprochen, aber eine Hoffnung brannte in allen, dass wir nach Nordfrankreich kommen möchten, um mithelfen zu können in der großen Entscheidungsschlacht, die sich dort vorbereitet. — Fahrt ins Ungewisse. Das gab dem nächtlichen Ritt einen eigenen Reiz. Bei Avricourt überschritten wir die Grenze. Auf dem Bahnhof standen Güterwagen in endlosen Reihen. Unzählige Säcke, Kisten und Ballen wurden an den langen Rampen ausgeladen; Fuhrpark- und Lebensmittelkolonnen stauten sich in den Straßen. Wie eine Pumpe arbeitete der Etappen-Hauptort: der Truppe alles Nötige zuzuführen, alles Verbrauchte und Entbehrliche zurückzuschaffen.

Wieder in deutschen Landen, unter dem eigenen Volke! Welch schönes Gefühl! Man hört deutsche Laute in den Dörfern, liest deutsche Zeitungen neuesten Datums.

Alle größeren Orte stecken voll Landwehr und Landsturm. Sonderbar, fast fremdartig muten den an Feldgrau Gewöhnten die hell- und dunkelblauen Uniformen an. Selbst diese haben nicht einmal für die Massen der Einberufenen gereicht. Ein großer Teil steckt in Zivil; nur die Mützen mit dem Landsturmkreuz künden den Soldaten. Ein Offizier-Stellvertreter kommt im Jagdanzug, die Abzeichen an den grünen Rock geheftet. Es ist wie beim Schützenfest. Aber die Leute sehen gut aus, trotz mancher dicken Bäuche. Und sie brennen darauf, etwas zu tun zu bekommen. Sie werden sich brav schlagen.

Weit in der Ferne verklingt Kanonendonner; wir sind noch halb im Kriegsland. Hart nimmt der Feldzug die Grenzlande mit. Sie müssen den ersten Bedarf der Truppen decken. Alles Vieh wird requiriert; in den meisten Dörfern gibt es kein Brot mehr, kein Mehl. Nur in kleinen Rationen erhalten die Einwohner das Nötigste aus den Magazinen. Die Truppe muss vorgehen.

Doch jede Last und Entbehrung wird willig getragen, wenn nur der Feind ferngehalten wird. Bös haben die Dörfer gelitten, in denen die Franzosen waren, schlimmer noch die Gegenden, in denen der Kampf hin und her wogte, wo bald deutsche, bald französische Truppen waren.

Der Pfarrer von Essesdorf erzählt, wie die Franzosen ins Dorf kamen, wie ihm ein Offizier mit vorgehaltenem Revolver den Schlüssel zum Kirchturm abforderte. Kniefällig bat er ihn, den Turm nicht zu besetzen, um das Feuer der deutschen Artillerie nicht auf seine Gemeinde zu lenken.

Das Schlimmste blieb dem Ort erspart, aber genug des Traurigen gab es noch: den siebzigjährigen Förster schleppten die Franzosen fort, als sich herausstellte, dass er, der seit mehr als vierzig Jahren im Dorfe lebte, gebürtiger Altdeutscher war. Als dann die Deutschen einzogen, wurde von zersprengten Franzosen aus seinem Hause geschossen, in dem Frau und Kinder in Verzweiflung zurückgeblieben. Unter der Anschuldigung, dass Ortsinsassen daraus gefeuert, wurde es niedergebrannt. Ja, Kriegszeit ist harte Zeit!

Bensdorf, wo wir einparkiert werden sollten, war ein einziger großer Bahnhof. An allen vier Linien, die hier zusammenliefen, war er polypenartig gewachsen. Und Züge auf Züge kamen durch: mit Verwundeten, mit Gefangenen, mit Geschützen, mit Kriegsmaterial und mit frischen Truppen, die an die Front sollten.

Wir saßen auf dem Bahnhof und warteten, bis wir an die Reihe kamen. Alle Räume waren überfüllt: Offiziere und Mannschaften aller Waffen, Intendantur- und Feldpostbeamte, Ärzte und Krankenträger, Freiwillige Pfleger und Rote-Kreuz-Schwestern. Ein Wartesaal war für die Verwundeten hergerichtet. In den Betriebsräumen tickten unaufhörlich die Morse-Apparate. Wenige Zivilisten kauern verloren unter all dem feldgrauen Tuch. Ein grauhaariges Elternpaar in Schwarz sitzt sich gegenüber, sie sitzen seltsam steif und aufrecht, stumm, ohne ein Wort zu wechseln. Sie kommen vom Grabe des Sohnes. Krampfhaft hält die Hand der Mutter den Griff eines Säbels.

Es wird Nacht. Die Lampen blaken. Auf Stühlen, Tischen und Bänken hocken, kauern und liegen die Müden eng nebeneinander. Draußen ziehen unheimlich Lazarettzüge vorüber. Gespenstisch schimmern die weißgestrichenen Wagen im Licht der Bahnhofslampen. Blutrot sind die Kreuze. Wie ein blutender Christus liegt das Zeichen der Unverletzlichkeit auf den Wagendächern und deckt die seinem Schutze Befohlenen mit seinem Leibe. Endlos ist die Nacht. . .

Wir fahren und wissen nicht wohin. Nur von Station zu Station erhält der Transportführer Befehl. Es ist Tag. Regen peitscht die Kupeefenster. Züge mit jungen Truppen kreuzen unsern Weg. Sie singen und lärmen. Ihre Wagen sind bemalt mit Karikaturen und Witzen: „Direkter Schnellzug nach Paris“, „Jeder Stoß ein Franzos“. Unsere Wagen sind unbeschrieben. Unsere Leute haben den Gegner achten gelernt. Aber sie lernten auch, tagelang im Granatfeuer zu liegen und zu stürmen mit großen Verlusten. Nicht mehr mit lachendem sorglosen Übermut — mit furchtbarem entschlossenen Ernst packen sie den Feind.

Metz, Diedenhofen, Luxemburg. Noch immer kennen wir nicht das Ziel, aber der Kreis der Möglichkeiten engt sich ein. — Wieder wird es Nacht. Das Auge wird zu müde, dem Weg, den wir nehmen, zu folgen. Aufgeschreckt, sieht es Telegraphenstangen, niedere Laubhütten am Bahnkörper. Die Lichter des vorüberfahrenden Zuges blinken auf Bajonetten.

Der Zug hält. „Aussteigen“ bläst das Signal. Wir umdrängen die Stationsbeamten. Der Bahnhof ist Assesse, fünfzehn Kilometer vor Namur. Die Ungewissheit ist zu Ende. Von hier geht’s im Landmarsch zur Nordarmee.

Wir draußen

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