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C.Einfluss des Europarechts

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5Wesentliche Impulse für die danach einsetzende kopernikanische Wende in der Entwicklung erfuhr das deutsche Vergaberecht durch das Gemeinschaftsrecht, das die Förderung des Binnenmarktes, in dem ein freier Waren- und Dienstleistungsverkehr herrscht, zum Ziel hat. Deshalb hatte der Gemeinschaftsgesetzgeber seit den neunziger Jahren damit begonnen, die Bedingungen für einen wirksamen Wettbewerb um öffentliche Aufträge zu schaffen.21 Die Vergabe öffentlicher Aufträge einschließlich des Versorgungssektors beläuft sich laut Kommission auf etwa 19 % des BIP der Europäischen Union.22 Der Anteil direkter grenzüberschreitender Beschaffungen ist mit rund 3 % allerdings noch gering.23 Die Pflicht, einen öffentlichen Auftrag auszuschreiben, ergibt sich bereits aus den Grundfreiheiten (Warenverkehrsfreiheit, Dienstleistungsfreiheit, Niederlassungsfreiheit), soweit die Aufträge binnenmarktrelevant sind, sich also auch Unternehmern aus anderen Mitgliedstaaten für ihre Erbringung interessieren könnten.24 Die Grundfreiheiten allein waren aber nicht ausreichend, einen kohärenten und rechtsschutzintensiven Rahmen für die öffentliche Auftragsvergabe zu gewährleisten.25

6Die EG erließ bereits Anfang der neunziger Jahre drei Richtlinien zur Koordinierung der öffentlichen Auftragsvergabe: die Baukoordinierungsrichtlinie,26 die Lieferkoordinierungsrichtlinie27 und die Richtlinie zur Koordinierung der Vergabe von Dienstleistungen.28 Wegen der Besonderheiten der Aufträge in den Sektoren Strom, Wasser, Verkehr und Telekommunikation erließ die EG zudem eine Sektorenrichtlinie29 zur Koordinierung der Auftragsvergabe in diesen für die Kommunen oftmals durch private Unternehmen erbrachten Bereichen30. Diese Richtlinien stellen eine systematische Konkretisierung der Grundfreiheiten als Diskriminierungsverbot dar.31 Soweit ein öffentlicher Auftrag ein Volumen hat, das die in den Richtlinien bestimmten Schwellenwerte überschreitet, wird davon ausgegangen, dass der Auftrag binnenmarktrelevant ist und zur Absicherung der Nichtdiskriminierung von Bietern aus anderen Mitgliedstaaten europaweit ausgeschrieben werden muss.32 Anders als die Regelungen im deutschen Recht begründeten die europäischen Richtlinien auch subjektive Rechte für Bieter.33 Sie gingen damit deutlich über nur binnenrechtlich wirkende Haushaltsvorschriften hinaus. Zur Durchsetzung dieser subjektiven Rechte wurden zwei Rechtsmittelrichtlinien erlassen, die die Mitgliedstaaten zur Einführung eines Nachprüfungsverfahrens, in dem die Einhaltung der Vergabevorschriften rechtsverbindlich festgestellt werden kann, verpflichteten.34 Mit den Rechtsmittelrichtlinien formte der Gemeinschaftsgesetzgeber die Spruchpraxis des EuGH nach, wonach Grundfreiheiten auch als Verfahrensrechte zu verstehen sind.35

7Eine erste grundlegende Reform des Unionsvergaberechts erfolgte durch zwei Richtlinien, die im Rahmen des europäischen Legislativpakets im Jahre 2004 erlassen wurden: Die Vergabekoordinierungsrichtlinie 2004/18/EG für Dienstleistungsaufträge, Lieferaufträge und Bauaufträge36 führt die alten Richtlinien zur Baukoordinierung, Lieferkoordinierung und Dienstleistungskoordinierung zusammen. Die Richtlinie 2004/17/EG für Aufträge im Bereich Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung37 regelt die Auftragsvergabe in speziellen Sektoren der Wirtschaft. Die Telekommunikation ist nun – anders als zuvor – nicht mehr Gegenstand der Sektorenrichtlinie. Dafür wurden die Postdienstleistungen der Sektorenrichtlinie unterstellt. Bei gemischten Aufträgen richtet sich die Auftragsvergabe nach derjenigen Richtlinie, die für die Tätigkeit gilt, welche den Schwerpunkt des Auftrags ausmacht.38 Mit dem Legislativpaket wurden die Möglichkeit zur Online-Beschaffungsauktion sowie die Voraussetzungen für eine vollelektronische Abwicklung des gesamten Vergabeverfahrens geschaffen.39 Zudem wurden die Schwellenwerte um ca. 25 % erhöht. Nach der Vergabekoordinierungsrichtlinie (2004/18/EG) können in Umsetzung einer entsprechenden EuGH-Einzeljudikatur40 nun auch vergabefremde Kriterien wie Sozialstaats- und Umweltaspekte bei der Vergabe öffentlicher Aufträge stärker als bisher berücksichtigt werden.41 Überdies wurde das Konzernprivileg ausgedehnt. Damit gilt die Befreiung vom Vergaberecht für Aufträge, die ein öffentlicher Auftraggeber an ein mit ihm verbundenes Unternehmen erteilt, nun nicht mehr nur für Dienstleistungen, sondern für alle Auftragsarten im Sektorenbereich (Art. 23 Abs. 2 und 3 der Sektorenrichtlinie). Die Vergabekoordinierungsrichtlinie sieht als neue fakultative Verfahrensart den sog. wettbewerblichen Dialog vor, aufgrund dessen der öffentliche Auftraggeber zunächst in freie Verhandlungen mit Bietern eintreten kann, um so verschiedene Lösungen, die seinen Bedürfnissen passgenau entsprechen, ausarbeiten zu lassen. Sodann kann der Auftraggeber auf dieser Grundlage die Bieter zur konkreten Auftragsabgabe auffordern (Art. 1 Abs. 11 lit. c und Art. 29 der RL 2004/18/EG).

8Sowohl die Vergabekoordinierungsrichtlinie als auch die Sektorenrichtlinie hätten vom Gesetzgeber zum 31.1.2006 in deutsches Recht umgesetzt werden müssen. Dies erfolgte jedoch nur teilweise und verspätet mit Wirkung ab 1.11.2006 durch die Änderung der Vergabeverordnung und die VOB/A 2006, VOL/A 2006 sowie VOF 2006. Zudem wurden im Jahre 2007 die Rechtsmittelrichtlinien durch die Richtlinie 2007/66/EG novelliert, deren Neuerungen bis zum 20.12.2009 in nationales Recht umzusetzen waren.42 Die neue Rechtsmittelrichtlinie regelt Stillhaltefristen vor der Zuschlagserteilung, die in Deutschland bereits durch § 13 VgV43 umgesetzt worden waren. Die Stillhaltefristen sind auch auf abgelehnte Bewerber in Teilnahmewettbewerben anzuwenden. Zudem müssen die Mitgliedstaaten vorsehen, dass unzulässige Direktvergaben unwirksam sind und hierfür das Nachprüfungsverfahren eröffnen.44 Am 20.8.2009 wurde schließlich die EU-Verteidigungsrichtlinie im Amtsblatt veröffentlicht, die bis zum 21.8.2011 in nationales Recht umzusetzen war.45 Mit ihr werden europaweit einheitliche Vergaberegeln für die Beschaffung von Rüstungsgütern festgelegt. Hiermit soll in Zusammenarbeit mit der im Vertrag von Lissabon neu geschaffenen Europäischen Verteidigungsagentur der Weg für einen europäischen Rüstungsbinnenmarkt mit erheblichen Einsparpotenzialen im Rüstungssektor bereitet werden.46 Die Umsetzung der EU-Verteidigungsrichtlinie in deutsches Recht erfolgte verspätet, nämlich erst am 14.12.2011 mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des Vergaberechts für die Bereiche Sicherheit und Verteidigung.47

9Mit Inkrafttreten des Gesetzes zur Modernisierung des Vergaberechts (Verg. Mod G 2009) am 24.4.2009 vollzog der deutsche Gesetzgeber eine weitere grundlegende Reform des Vergaberechts mit weitreichenden Folgen für die Vergabepraxis.

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